Kinderkognition: Versetzt in die minussechste Klasse
Mittlerweile seit vierzehneinhalb Jahren glaubt eine Forschergruppe, dass schon Babys eins und eins zusammenzählen können. Und eine andere Gruppe glaubt, dass die erste Gruppe genau das nicht kann - und seit langem falsche Ergebnisse falsch interpretiert. Neue Kinderversuche sollen nun schlichten.
Lisa und Tamina, Julia und Marie – kaum ein Jahr alt, schon Mitglieder der gnadenlosen Leistungsgesellschaft. Schuld sind nur ganz selten die stolzen Mamas und Papas. Schuld sind eher die allzu Wohlwollenden aus dem entfernten, aber umso teilnehmenderen Lebensumfeld. Vielleicht die Nachbarin: "Wie, sie kann sich immer noch nicht alleine auf den Bauch drehen? Also, der Kevin, der konnte das schon viel früher." Vielleicht die freundliche Frau im Bus: "Süß. Ganz süß. Und das Kleidchen. Aber ein bisschen besser sprechen dürfte sie natürlich jetzt schon können, mit ihren eineinhalb. Also, die Lina von Schulzes aus der Rosengasse, die plappert jetzt schon wie ..."
Wie gut, dass Lina, Kevin, Pauline und der Rest der erhofften Rentenzahler von morgen nicht einmal versteht, wo das Problem ist – es wird ja noch dauern, bis sie das arg komplizierte Wort "Problem" überhaupt aussprechen können. Zugegeben: Im Finden jener Probleme, die sie dann lösen, sind die Großen eindeutig besser. Etwa Andrea Berger von der Ben-Gurion-Universität des Negev und ihre Kollegen. Die Forscher hatten sich gesagt "Unterschätze niemals einen Sechsmonatigen" und dann einen ganz neuen Test zur kognitiven Leistungsermittlung problemlösender Babygehirne erarbeitet. Kann ein halbjähriger Durchschnitts-Kevin, so ihre Frage, schon rechnen?
Beim Mathetest der Halbjährigen stellen sich allerdings ein paar typische Kommunikationsprobleme: Mit sechs bis neun Monaten – so alt waren 24 im Labor der Wissenschaftler getesteten Tobi- und Pauline-Versuchskaninchen – kann man eines noch nicht wirklich gut: antworten. Und auch verstehen, was man hier soll, und warum man so lange ruhig sitzen soll, klappt noch nicht so ganz.
Was Forscher allerdings noch nie davon abgehalten hat, Babys trotzdem im Labor Aufgaben zu stellen und daraus Schlüsse zu ziehen. Etwas anderes nämlich können Babys wie geschmiert: kucken. Und regelmäßig kucken sie länger auf Dinge, die sie interessieren. Und Interesse haben sie vor allem an Allem, was neu und überraschend ist. Ergo sieht ein Versuch mit den jüngsten aller Freiwilligen meist so aus, dass Blickrichtung und -dauer der Kleinen gemessen werden. Schauen sie lange auf eine ihren Blicken gebotene Situation, so erkennen sie darin etwas Besonderes. Und bietet man ihnen geschickt ausgewählte Situationen, erlaubt dies dann Rückschlüsse darauf, was für Besonderheiten die Kinder eben schon als besonders wahrnehmen.
Beim Rechentest geht das dann so: Man nehme zwei Plüschtiere und zeige sie dem interessierten Kevin. Dann schiebe man eine Sichtblende davor – was Kevin nicht aus der Ruhe bringt, denn "Objektpermanenz" kann er schon nach etwa dreieinhalb Monaten: Er weiß, dass die zwei Tiere nicht mehr zu sehen nicht bedeutet, dass diese überhaupt nicht mehr vorhanden sind. Wenn nun die Hand einer freundlichen Wissenschaftlerin hinter der Sichtblende kramt, etwas greift, mit einem Tierchen hervorkommt und ihn mitnimmt, dann sind ergo hinter der Sichtblende noch – äh, wie viel Stofftiere? Moment.
Letztere Situation brachte die Nachwuchsmathematiker tatsächlich deutlich mehr aus dem Konzept, ermittelten die Forscher aus ihren Daten: Offenbar hatten die Kinder beim Versuch "zwei Kuscheltiere minus eines" wirklich das korrekte Ergebnis "macht eines" erwartet und ein falsches Resultat rund eine Sekunde länger stirnrunzelnd angeblickt. Kinder können also rechnen?
Bis hierhin wäre das Ergebnis von Berger und Co noch nicht völlig überzeugend für die Welt aller Kleinkinderkognitions-Experten. Unter ihnen herrscht nämlich schon seit 1991 Uneinigkeit über die vermeintlichen Kleinkinder-Rechenkünste – einige Forscher glauben einfach nicht, dass die Blickdauer der Babys wirklich etwas zu bedeuten hat und daraus verlässliche Schlussfolgerungen zu ziehen sind. Also beobachtete Bergers Team die Kinderkandidaten zusätzlich noch mit einem Elektroenzephalografen, der die Gehirnströme der Schnullerprobanden während des Tests mit bislang unerreicheter Genauigkeit aufzeichnete.
Wie sich zeigte, passiert im Gehirn kleiner Verblüffter genau dasselbe wie in jenem Großer: Entspricht etwas nicht unseren Erwartungen, dann zeigt sich dies an typischen Änderungen der Gehirnströme – und eben diese typische Änderung war auch bei den Kleinkindern nachweisbar, die lange auf das vermeintlich falsche Stofftierresultat geblickt hatten.
Dass Kinder tatsächlich schon Vorhersagen treffen können, daraus Erwartungen ableiten und Abweichungen von diesen Erwartungen registrieren überrascht die Forscher – denn im Verhaltensrepertoir von Kindern dieses Alters ist noch nichts davon zu sehen, das einsichtsvoll gehandelt und eigene Fehler korrigiert werden. Sie wahrzunehmen könnte aber bereits möglich sein, so Berger: "Die Gehirnstrukturen zur Fehlererkennung sind schon im ersten Lebensjahr angelegt."
Damit könnten alle experimentierfreudigen Leistungsfanatiker unter den Jungeltern nun ans Werk gehen – Stoppuhren, Plüschtiere und Nachwuchs raus, und los geht der Mathefrühtest. Aber mal im Ernst – rechnen lernen Lisa und Tamina, Julia und Marie so oder so früh genug. Dem stolzen Papa hier im Nachbarraum ist's eh egal: Mit sechs Wochen, meint er gerade, konnte seine Jüngste lächeln. Ist auch wirklich wichtiger.
Wie gut, dass Lina, Kevin, Pauline und der Rest der erhofften Rentenzahler von morgen nicht einmal versteht, wo das Problem ist – es wird ja noch dauern, bis sie das arg komplizierte Wort "Problem" überhaupt aussprechen können. Zugegeben: Im Finden jener Probleme, die sie dann lösen, sind die Großen eindeutig besser. Etwa Andrea Berger von der Ben-Gurion-Universität des Negev und ihre Kollegen. Die Forscher hatten sich gesagt "Unterschätze niemals einen Sechsmonatigen" und dann einen ganz neuen Test zur kognitiven Leistungsermittlung problemlösender Babygehirne erarbeitet. Kann ein halbjähriger Durchschnitts-Kevin, so ihre Frage, schon rechnen?
Beim Mathetest der Halbjährigen stellen sich allerdings ein paar typische Kommunikationsprobleme: Mit sechs bis neun Monaten – so alt waren 24 im Labor der Wissenschaftler getesteten Tobi- und Pauline-Versuchskaninchen – kann man eines noch nicht wirklich gut: antworten. Und auch verstehen, was man hier soll, und warum man so lange ruhig sitzen soll, klappt noch nicht so ganz.
Was Forscher allerdings noch nie davon abgehalten hat, Babys trotzdem im Labor Aufgaben zu stellen und daraus Schlüsse zu ziehen. Etwas anderes nämlich können Babys wie geschmiert: kucken. Und regelmäßig kucken sie länger auf Dinge, die sie interessieren. Und Interesse haben sie vor allem an Allem, was neu und überraschend ist. Ergo sieht ein Versuch mit den jüngsten aller Freiwilligen meist so aus, dass Blickrichtung und -dauer der Kleinen gemessen werden. Schauen sie lange auf eine ihren Blicken gebotene Situation, so erkennen sie darin etwas Besonderes. Und bietet man ihnen geschickt ausgewählte Situationen, erlaubt dies dann Rückschlüsse darauf, was für Besonderheiten die Kinder eben schon als besonders wahrnehmen.
Beim Rechentest geht das dann so: Man nehme zwei Plüschtiere und zeige sie dem interessierten Kevin. Dann schiebe man eine Sichtblende davor – was Kevin nicht aus der Ruhe bringt, denn "Objektpermanenz" kann er schon nach etwa dreieinhalb Monaten: Er weiß, dass die zwei Tiere nicht mehr zu sehen nicht bedeutet, dass diese überhaupt nicht mehr vorhanden sind. Wenn nun die Hand einer freundlichen Wissenschaftlerin hinter der Sichtblende kramt, etwas greift, mit einem Tierchen hervorkommt und ihn mitnimmt, dann sind ergo hinter der Sichtblende noch – äh, wie viel Stofftiere? Moment.
Für Kevin könnten hinter der Sichtblende nun noch immer noch zwei objektpermanente Plüschdinge sein. Oder fehlt da nun eines? Eine kluge Pauline könnte das vielleicht ausrechnen: Wenn da nun eines wegkommt, dann müssen eben zwei minus ein Tierchen übrig sein – also eines. Genau dies, ob also durchschnittlich siebeneinhalb Monate alte Kinder die einfache Subtraktion beherrschen, wollten Berger und Co wissen: Sie zogen die Sichtblende weg und maßen, wie lange die Miniprobanden auf die dahinter nun sichtbar werdenden Stofftiere schauten. In der Hälfte der Fälle lag da dann wirklich nur ein Stofftier – sonst tricksten die Wissenschaftler und ersetzten unbemerkt den herausgeholten gegen einen Ersatz, so dass trotzdem zwei Plüschtiere auftauchten.
Letztere Situation brachte die Nachwuchsmathematiker tatsächlich deutlich mehr aus dem Konzept, ermittelten die Forscher aus ihren Daten: Offenbar hatten die Kinder beim Versuch "zwei Kuscheltiere minus eines" wirklich das korrekte Ergebnis "macht eines" erwartet und ein falsches Resultat rund eine Sekunde länger stirnrunzelnd angeblickt. Kinder können also rechnen?
Bis hierhin wäre das Ergebnis von Berger und Co noch nicht völlig überzeugend für die Welt aller Kleinkinderkognitions-Experten. Unter ihnen herrscht nämlich schon seit 1991 Uneinigkeit über die vermeintlichen Kleinkinder-Rechenkünste – einige Forscher glauben einfach nicht, dass die Blickdauer der Babys wirklich etwas zu bedeuten hat und daraus verlässliche Schlussfolgerungen zu ziehen sind. Also beobachtete Bergers Team die Kinderkandidaten zusätzlich noch mit einem Elektroenzephalografen, der die Gehirnströme der Schnullerprobanden während des Tests mit bislang unerreicheter Genauigkeit aufzeichnete.
Wie sich zeigte, passiert im Gehirn kleiner Verblüffter genau dasselbe wie in jenem Großer: Entspricht etwas nicht unseren Erwartungen, dann zeigt sich dies an typischen Änderungen der Gehirnströme – und eben diese typische Änderung war auch bei den Kleinkindern nachweisbar, die lange auf das vermeintlich falsche Stofftierresultat geblickt hatten.
Dass Kinder tatsächlich schon Vorhersagen treffen können, daraus Erwartungen ableiten und Abweichungen von diesen Erwartungen registrieren überrascht die Forscher – denn im Verhaltensrepertoir von Kindern dieses Alters ist noch nichts davon zu sehen, das einsichtsvoll gehandelt und eigene Fehler korrigiert werden. Sie wahrzunehmen könnte aber bereits möglich sein, so Berger: "Die Gehirnstrukturen zur Fehlererkennung sind schon im ersten Lebensjahr angelegt."
Damit könnten alle experimentierfreudigen Leistungsfanatiker unter den Jungeltern nun ans Werk gehen – Stoppuhren, Plüschtiere und Nachwuchs raus, und los geht der Mathefrühtest. Aber mal im Ernst – rechnen lernen Lisa und Tamina, Julia und Marie so oder so früh genug. Dem stolzen Papa hier im Nachbarraum ist's eh egal: Mit sechs Wochen, meint er gerade, konnte seine Jüngste lächeln. Ist auch wirklich wichtiger.
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