80 Jahre Warschauer Aufstand: »Kommandeur Warschau meldet, Lage sehr sehr ernst«
Am 5. September 1944 notierte ein verzweifelter Einwohner Warschaus: »Die Deutschen stürmen, verbrennen und morden, und es gibt keinen Widerstand auf unserer Seite, weil es keinen geben kann. Es gibt keine Einheiten, keine Flugzeuge, keine Grenadiere. Was kann man mit bloßen Händen machen? Heute, wenn die Kraft aufgebraucht ist, ändert sich auch die Stimmung und Einstellung zum Aufstand. Fast jeder hat den Willen verloren. Fast jeder fragt dieselben Fragen: Wie konnte es so weit kommen und wofür?«
An jenem Tag im September dauerte der Warschauer Aufstand gegen die deutschen Besatzer bereits mehr als einen Monat an – und damit wesentlich länger, als die schlecht ausgerüsteten Aufständischen ursprünglich angenommen hatten: Nur wenige Tage hatten sie die Deutschen attackieren wollen, dann sollte Verstärkung durch Stalins Rote Armee eintreffen. Doch diese kam nicht.
»Die Bolschewisten stehen seit fünf Wochen vor Warschau. Es gab kein einziges Geräusch eines größeren Gefechts, also ist die einzige mögliche Schlussfolgerung, dass sie nicht vorrücken wollen. In der Zwischenzeit sterben wir auf Grund von Hunger, Schmutz, Erschöpfung und Bombardements«, endet der verzweifelte Eintrag des Zivilisten vom 5. September. Selbst die Aufständischen hätten die Hoffnung verloren und zugegeben, dass sie sich ihren Kampf anders vorgestellt hatten.
Wie war es zu dieser Fehleinschätzung gekommen?
Im Sommer 1944 befand sich Polen bereits seit fünf Jahren unter deutscher Besatzung. Mit dem Überfall der Wehrmacht am 1. September 1939 setzte für die Bevölkerung ein Terrorregime ein, das von Mord, Zwangsarbeit und Vertreibung gekennzeichnet war. Im Westen wüteten die Nazis, im Osten die Sowjets. Im so genannten Hitler-Stalin-Pakt vom August 1939 hatten die beiden Großmächte das Land unter sich aufgeteilt.
Die größte Untergrundarmee des Zweiten Weltkriegs
Doch bereits im September 1939 hatte sich der polnische Widerstand organisiert – der schließlich die größte Untergrundarmee des Zweiten Weltkrieges hervorbringen sollte. Dabei kam der im Februar 1942 gegründeten Heimatarmee die entscheidende Rolle zu. Sie war die offizielle militärische Repräsentanz der polnischen Exilregierung, die seit 1940 von London aus agierte. Durch den Anschluss weiterer polnischer Widerstandsorganisationen wuchs sie in den kommenden Jahren auf bis zu 350 000 Mitglieder an.
1944 begann die »Armia Krajowa« (kurz: AK) mit der Operation »Burza«, zu Deutsch: »Gewittersturm«. Darin wollte die AK die wichtigsten polnischen Städte von den Deutschen befreien, um den von Osten heranrückenden Sowjets als Territorialherrscher entgegentreten zu können. Diese befanden sich nach Hitlers Überfall auf die Sowjetunion in einem fragilen, von Misstrauen geprägten Bündnis mit Polen. Oft war die AK zu schwach, um die Städte eigenständig zu befreien, und musste auf die Rote Armee warten – um nach den gemeinsamen Kämpfen nur zu oft entwaffnet, verhaftet, verschleppt oder selbst in die Rote Armee eingezogen zu werden.
Warschau kam bis zur zweiten Julihälfte in den Burza-Plänen nicht vor: Viel zu groß erschien das Risiko für die dicht besiedelte Stadt mit ihrer großen Zivilbevölkerung. Dass schließlich doch die Entscheidung für einen Aufstand in Warschau fiel, dürfte laut dem 2021 verstorbenen Historiker Włodzimierz Borodziej wohl auf zwei Ereignisse zurückgehen: Das gescheiterte Stauffenberg-Attentat auf Hitler am 20. Juli wurde von vielen Beobachtern als Vorbote des Zerfalls des Deutschen Reichs gewertet. Und außerdem schob sich die sowjetische Kriegsmaschinerie immer weiter Richtung Westen und war nicht mehr weit von Warschau entfernt.
Wollte man die Sowjets als Hausherren in der eigenen Hauptstadt empfangen und eine bessere Verhandlungsbasis für ein souveränes Polen schaffen, blieb also nicht mehr viel Zeit. Der Oberbefehlshaber der AK Tadeusz »Bór« Komorowski (1895–1966) ließ am 1. August 1944, um Punkt 17 Uhr, zum finalen Befreiungsschlag der Hauptstadt ausholen.
Die Heimatarmee erzielte erste Erfolge
Als die vorwiegend jungen Kämpfer der Heimatarmee – unter ihnen zehn Prozent Frauen – mit ihren Angriffen auf deutsche Stellungen in Warschau begannen, überraschten sie die Besatzer nicht wirklich. Dennoch erzielten sie in den ersten Tagen des Aufstands beachtliche Erfolge und brachten fast die Hälfte des Stadtgebiets links der Weichsel unter ihre Kontrolle. Wichtige strategische Ziele – etwa die Weichselbrücken oder die Flughäfen Okęcie und Bielany – blieben aber unerreicht. Die Lage war auf beiden Seiten unübersichtlich, die Schlacht in den engen, verwinkelten Straßen chaotisch. Allein am ersten Tag starb rund jeder zehnte AK-Kämpfer.
Der SS-Funktionär Ernst Kaltenbrunner (1903–1946), Chef des Reichssicherheitshauptamtes, fasste am 2. August die Situation in diesen Worten zusammen: »Kommandeur Warschau meldet, Lage sehr sehr ernst. Mehrere lebenswichtige Einrichtungen in Hand der Banditen oder stark bedroht. Einzelne unserer Stützpunkte bereits niedergekämpft. Licht und Telefon noch intakt. Fernsprechamt Praga verloren. Aufstand über gesamtes Stadtgebiet verteilt. Keine Reserven vorhanden.«
Am 4. August kontrollierte die AK die gesamte Altstadt, das Elektrizitätswerk, das Rathaus und die Hauptpost. Derart große Gebiete sollten die Aufständischen nicht wieder unter ihre Kontrolle bringen.
Denn das Blatt wendete sich bereits. Reichsführer SS Heinrich Himmler tobte: Er sah es an der Zeit, das »polnische Problem« ein für alle Mal zu lösen. Dafür beauftragte er SS-Obergruppenführer Erich von dem Bach-Zelewski (1899–1972). Sein Befehl: alle Aufständischen nach Gefangennahme zu erschießen, den nicht kämpfenden Bevölkerungsteil unterschiedslos niederzumachen und die Stadt dem Erdboden gleichzumachen. Am 4. August traf auf deutscher Seite Nachschub ein, die Truppenstärke verdoppelte sich.
Mehrere der neuen Einheiten sollten die Kämpfe jedoch nicht nur letztlich entscheiden, sondern die größten Kriegsverbrechen in Warschau überhaupt verüben: darunter die »Kampfgruppe Reinefarth« und die SS-Brigade Dirlewanger, eine Gruppe aus kriminellen SS-Männern, die durch Vergewaltigungen und exzessive Gewalt an Zivilistinnen und Zivilisten an der Ostfront bereits von sich reden gemacht hatte.
Die brutale Niederschlagung des Aufstands
Wie der Zeithistoriker Stephan Lehnstaedt von der Touro University Berlin in seinem Buch »Der Warschauer Aufstand 1944« schreibt, verwandelte das Eintreffen Heinz Reinefarths (1903–1979) »die Schlacht in ein Schlachten«. Als die Truppen des »Höheren SS- und Polizeiführers Warthegau« am 5. August in den Stadtteil Wola einmarschierten, massakrierten sie alle Polinnen und Polen, die in ihren Weg gerieten. Tagelang plünderten, mordeten und vergewaltigten sie, trieben die Menschen als lebende Schutzschilde vor sich her. Um den vielen Erschießungen nachzukommen, wurde ein Rotationssystem eingeführt, das einen Wechsel der Schützen gewährleistete. Bis zum 7. August töteten die Einheiten 30 000 bis 40 000 Menschen.
Die polnische Exilregierung in London drängte wiederholt auf mehr Unterstützung von Seiten der Briten und Amerikaner. Doch diese erwies sich bereits vor dem Aufstand als eher halbherzig. Die Amerikaner, so fasst der britisch-polnische Historiker Norman Davies in seinem Buch »Rising '44« zusammen, reichten polnische Angelegenheiten und Forderungen an die Briten weiter, die den Polen wiederum nahelegten, sich doch besser direkt mit Moskau ins Benehmen zu setzen.
Warschau war geografisch wie psychologisch für die Westalliierten weit weg: Zwar flogen sie vereinzelte Unterstützungsmissionen, doch machte der weite Hin- und Rückflug ohne Zwischenlandung diese ineffektiv und gefährlich. Und Anfragen der Briten und Amerikaner zu einer Landung auf sowjetisch kontrolliertem Territorium wies Stalin unter allerlei Ausreden ab.
Tatsächlich dürfte der sowjetische Diktator wohl nie vorgehabt haben, einen nationalen polnischen Widerstand zu unterstützen. »Stalin erkannte, dass sich ihm dieser polnische nationale Untergrund nicht einfach so fügen würde. Wenn die Deutschen diesen Aufstand also massakrierten, musste er sich damit später nicht herumschlagen«, urteilt Stephan Lehnstaedt.
Stalin ließ die Deutschen gewähren – und die Alliierten ließen Stalin
Obwohl Stalin seine Verbündeten immer wieder vor den Kopf stieß, hielt sich der Druck auf ihn in Grenzen. Den westlichen Alliierten sei der Sieg über Deutschland wichtiger gewesen »als die Existenz irgendwelcher Staaten in Mittel- und Osteuropa«, sagt Lehnstaedt. Nach dem Motto: »Wenn Stalin diese haben will – und wir wissen, dass er sie haben will –, dann soll er sie eben bekommen. Hauptsache, er hilft uns dabei, die Deutschen zu besiegen«, paraphrasiert der Historiker die damaligen Geschehnisse. Es handelte sich bereits um ein »Abstecken der Interessensphären«, die sich später im Kalten Krieg verfestigen sollten.
Am 1. September klagte der polnische General Kazimierz Sosnkowski (1885–1969), dass fünf Jahre vergangen seien, seit Polen, der Ermutigung der britischen Regierung folgend, zum »einsamen Kampf gegen die deutsche Macht« angetreten sei. Nun jedoch seien die Warschauer »sich selbst überlassen, verlassen in der Front des gemeinsamen Kampfes gegen die Deutschen«.
Für Aufständische und Zivilbevölkerung wurde die Lage unterdessen immer verzweifelter. Die eroberten Gebiete schrumpften zusammen, die Deutschen legten weite Teile Warschaus in Schutt und Asche. Wasser und Nahrungsmittel wurden knapp, Krankheiten breiteten sich aus. Ohne alliierte Unterstützung war an ein Durchhalten nicht zu denken.
Hoffnung auf Hilfe keimte auf
Als die Rote Armee am 10. September endlich den Warschauer Stadtteil Praga auf der gegenüberliegenden Weichselseite erreichte, keimte Hoffnung auf. Und tatsächlich: Mitte September erlaubte Stalin eine Landungsoperation vom östlichen auf das westliche Weichselufer. Dazu erkor er die Berling-Armee aus – polnische Truppen innerhalb der Roten Armee. Amerikaner erhielten nun auch die Erlaubnis, auf sowjetischen Flughäfen zu landen, und konnten Versorgungsgüter über der Stadt abwerfen. Erstmals warfen auch sowjetische Flugzeuge Material ab.
Doch die anfängliche Hoffnung der Aufständischen auf dem westlichen Weichselufer wurde bitter enttäuscht, denn es setzten nur wenige Einheiten über. »Der Rest der Roten Armee blickt der Katastrophe auf der gegenüberliegenden Weichselseite zu. Als die Berling-Armee zurückgeschlagen wird, ist die Moral wirklich am Boden, da funktionierte nichts mehr«, beschreibt Lehnstaedt die furchtbare Situation.
Tatsächlich blieb es bei dieser symbolischen Geste in Richtung der Alliierten. Nach der missglückten Landungsoperation blieben die Polen wieder allein auf sich gestellt.
Die Deutschen machten aus Warschau ein brennendes Massengrab
Hätte man das Verhalten der Sowjets vorhersehen können? Nein, sagt Historiker Lehnstaedt: »Die Erfahrungen der polnischen Heimatarmee in Wilna zeigten, dass die Rote Armee selbstverständlich vorrückte, auch wenn sie dann vielleicht die Widerstandskämpfer entwaffnete. Aber dass sie auf einmal aufhört, gegen die Deutschen zu kämpfen, war neu.«
Ohne weitere Unterstützung durch die Rote Armee hatten die Polen keine Chance. Insgesamt dauerte der Warschauer Aufstand 63 Tage bis zu seiner Niederschlagung. Am 2. Oktober 1944 unterzeichneten Gesandte des AK-Oberbefehlshabers Komorowski die Kapitulation. Das einstige »Paris des Ostens« war nur noch ein brennendes, in Schutt und Asche liegendes Massengrab. Schätzungsweise 150 000 bis 200 000 Zivilisten und rund 16 000 polnische Soldaten waren umgekommen. Die überlebenden Warschauer wurden gezwungen, ihre Stadt zu verlassen. Zirka 90 000 wurden zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich verschleppt, etwa 60 000 in Konzentrationslager deportiert.
Nach der Unterzeichnung der Kapitulation sprengten oder brandschatzten die deutschen Besatzer systematisch Gebäude um Gebäude. Von den Bauten der Stadt waren nach Kriegsende weniger als zehn Prozent übrig. Von den Haupttätern wurde kein einziger nach Kriegsende von einem bundesdeutschen Gericht für die Verbrechen in Warschau belangt. Heinz Reinefarth machte sogar Karriere in der jungen Bundesrepublik, zunächst als langjähriger Bürgermeister von Westerland und später als schleswig-holsteinischer Landtagsabgeordneter.
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