»The Line«: Warum Saudi-Arabiens ehrgeizige Stadt der Zukunft nicht optimal ist
Im Oktober 2022 haben die Bauarbeiten für das Megaprojekt »The Line« begonnen, eine 170 Kilometer lange Planstadt in der Wüste Saudi-Arabiens. Neun Millionen Menschen sollen innerhalb von bloß 34 Quadratkilometern unterkommen – einer Fläche vergleichbar mit Hockenheim, das nur 21 000 Einwohner beherbergt. Gelingen soll das durch eine einmalige Stadtplanung: »The Line« soll aus zwei langen Reihen von 500 Meter hohen Wolkenkratzern bestehen, die sich in 200 Metern Entfernung gegenüberstehen und die Wüstenstadt wie eine Mauer eingrenzen. Zudem soll das dortige urbane Leben möglichst nachhaltig sein: Autos haben in der futuristischen Stadt keinen Platz, zudem soll die gesamte Energieversorgung emissionsfrei sein.
In einer bei »Nature Partner Journal Urban Sustainability« im Juni 2023 veröffentlichten Arbeit argumentieren der Mathematiker Rafael Prieto-Curiel und der Physiker Dániel Kondor vom Complexity Science Hub Vienna, dass »The Line« aus mathematischer Sicht nicht besonders nachhaltig ist. »Eine Linie ist die am wenigsten effiziente Form für eine Stadt«, sagt Prieto-Curiel in einer Pressemitteilung. »Es hat schon seine Gründe, warum die Menschheit 50 000 Städte gebaut hat, die alle irgendwie rund sind.«
Das Hauptproblem bei der gewählten geometrischen Form sind die riesigen Distanzen, die sich ergeben: Pickt man zufällig zwei Personen aus der Planstadt heraus, sind sie durchschnittlich 57 Kilometer voneinander entfernt, wie Prieto-Curiel und Kondor berechnen. Zum Vergleich: In der südafrikanischen Metropole Johannesburg (die in der Metropolregion ähnlich viele Einwohner beherbergt, wie »The Line« es zukünftig soll, aber 3357 Quadratkilometer bedeckt) sind zwei Personen durchschnittlich bloß 33 Kilometer voneinander entfernt.
Das Mobilitätsproblem soll in »The Line« durch einen Hochgeschwindigkeitszug gelöst werden. Dieser bräuchte aber um die 86 Stationen, damit jeder Einwohner eine Haltestelle in Laufnähe hat. Die vielen Stopps verlängern die Reisedauer – zudem kann ein Zug auf diese Weise nicht die angestrebten hohen Geschwindigkeiten erreichen. Durch die vielen Haltestellen würde eine Person durchschnittlich mehr als 60 Minuten zu ihrem Ziel unterwegs sein, berechnen Prieto-Curiel und Kondor.
Der Vorteil von zweidimensionalen Städten
Eine viel effizientere Lösung liege nahe, so die beiden Forscher: »The Circle«. Würde man die Hochhäuser, die in »The Line« geplant sind, innerhalb einer kreisförmigen Fläche anordnen, hätte man die Probleme mit den weitläufigen Distanzen behoben. Ein Kreis mit derselben Fläche wie »The Line« (34 Quadratkilometer) hat einen Durchmesser von bloß 6,6 Kilometern. Zwei zufällig herausgepickte Personen haben dann eine durchschnittliche Entfernung von 2,9 Kilometern zueinander. Ein Hochgeschwindigkeitszug wäre überhaupt nicht nötig, da theoretisch alles in Laufweite erreichbar ist. Ein paar zusätzliche Buslinien sowie Fahrräder würden genügen. Die runde Stadtform wäre zwar weniger Aufsehen erregend, aber dennoch »am wünschenswertesten, da sie die Pendeldistanzen und den Energiebedarf für den Transport reduziert«, schreiben Prieto-Curiel und Kondor.
Der Hauptgrund für den Vorteil besteht darin, dass eine Kreisfläche aus mathematischer Sicht zweidimensional ist, während eine Linie eindimensional ist. In einer Dimension skaliert die Anzahl erreichbarer Orte linear mit der Distanz, die man zu gehen bereit ist – während die Anzahl im Zweidimensionalen mit dem Quadrat der Distanz zunimmt. Noch dazu sind eindimensionale Strukturen viel anfälliger als solche in höheren Dimensionen. Falls zum Beispiel irgendwo innerhalb von »The Line« ein Feuer ausbricht, sind direkt tausende Menschen von einem Großteil der Stadt abgeschnitten. Immerhin bringe das Projekt die Menschen dazu, über urbane Formen zu diskutieren, sagt Prieto-Curiel, »und das ist immens wichtig, denn die Städte wachsen, insbesondere in Afrika«.
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