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Frontotemporale Demenz: »Therapien, die den Erkrankungsverlauf bremsen, gibt es noch nicht«

Vergleichsweise wenige Menschen erkranken wie der Schauspieler Bruce Willis an einer frontotemporalen Demenz. Oft wird sie lange mit anderen Krankheiten verwechselt. Wie sie entsteht, was sie von Alzheimer unterscheidet und ob es Chance auf Heilung gibt, erklärt der Neurologe Carlo Wilke im Interview.
Porträtfoto von Schauspieler Bruce Willis in schwarzem Anzug, weißem Hemd und mit Krawatte
Prominenter Patient mit frontotemporaler Demenz: Das Bild zeigt Schauspieler Bruce Willis, der den Durchbruch mit der »Stirb langsam«-Reihe schaffte, Anfang 2019 bei der Premiere seines Films »Glass« in London.

Rund 60 Millionen Menschen leben Schätzungen zufolge weltweit mit Demenz. Bruce Willis ist einer von ihnen: Wie die Familie des Schauspielers Anfang 2023 bekannt gab, leidet der 68-Jährige an einer vergleichsweise seltenen frontotemporalen Demenz (FTD). »Obwohl es schmerzt, sind wir erleichtert, endlich eine eindeutige Diagnose zu haben«, schrieben Ehefrau Emma Heming-Willis und Exfrau Demi Moore am 16. Februar 2023 in gleich lautenden Beiträgen auf Instagram. Willis hatte bereits 2022 seine Schauspielkarriere beendet, nachdem Sprachstörungen bei ihm diagnostiziert worden waren. Mediziner sprechen auch von Aphasien.

Da sich eine frontotemporale Demenz anders äußert als weitere Demenzformen wie beispielsweise Alzheimer, ist sie oft schwieriger zu erkennen. Häufig wird sie zunächst mit psychischen Störungen wie einer Depression oder einem Burnout verwechselt. Der Neurologe Carlo Wilke betreut als Assistenzarzt am Universitätsklinikum Tübingen und dem dortigen Standort des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) eine Ambulanz für frontotemporale und früh beginnende Demenzen. »Spektrum.de« sprach mit ihm über Krankheitsursachen, Diagnosemöglichkeiten und Heilungschancen.

»Spektrum.de«: Bruce Willis litt schon länger unter einer Sprachstörung. Jetzt diagnostizierten seine Ärzte eine seltene Form einer schnell fortschreitenden Demenz, eine frontotemporale Demenz, kurz FTD. Was können Sie aus seiner bisherigen Symptomatik auf den Krankheitsverlauf ableiten?

Carlo Wilke: Eine fortschreitende Sprachstörung weist auf einen Untergang von Nervenzellen im Stirn- und/oder Schläfenlappen des Gehirns hin. Das ist kennzeichnend für eine FTD. Grundsätzlich, wenngleich weniger wahrscheinlich, könnte diese Symptomatik auch auf eine atypische Form einer Alzheimererkrankung hinweisen, die sich nicht nur als Gedächtnisstörung, sondern gelegentlich auch als Sprachstörung äußern kann.

Wie lässt sich FTD diagnostisch von einer Alzheimererkrankung abgrenzen?

Dr. med. Carlo Wilke | Der Mediziner ist Neurologe und Wissenschaftler am Universitätsklinikum Tübingen. Er betreut dort unter anderem die Ambulanz für frontotemporale Demenzen und andere frühbeginnende Demenzen und forscht zu neurodegenerativen Erkrankungen.

Klinisch kann sich eine FTD typischerweise in zwei Formen ausprägen: einerseits durch Verhaltens- und Persönlichkeitsveränderungen, andererseits durch Sprachstörungen. Bei der Verhaltensform der FTD zeigen die Betroffenen häufig enthemmtes, impulsives Verhalten, beispielsweise in Form von sozial unangemessenem Verhalten, einer Antriebsverarmung oder einem Verlust von Mitgefühl und Einfühlungsvermögen. Hinzukommen können stereotype oder zwanghaft wirkende Verhaltensweisen, ein verändertes, hastiges Essverhalten und Schwierigkeiten bei der Umsetzung komplexerer Aufgaben. Sprachliche Beeinträchtigungen können Wortfindungs- oder Grammatikstörungen, aber auch Probleme beim Sprachverständnis umfassen.

Die Ausprägung der Symptome kann bei den Patienten sehr unterschiedlich sein, Überlappungen zwischen der Verhaltensform und der Sprachform der FTD sind durchaus häufig. Begleitend können weitere neurologische Symptome auftreten, beispielsweise motorische Beeinträchtigungen, die Parkinson ähneln, wie Muskelsteifigkeit und Bewegungsverlangsamung, oder eine Muskelschwäche wie bei der amyotrophen Lateralsklerose. Um die Diagnose einer FTD stellen zu können und andere mögliche Krankheitsursachen auszuschließen, sollten zusätzliche Untersuchungen erfolgen, insbesondere eine MRT-Bildgebung des Gehirns, die den Verlust von Hirngewebe im Stirn- und Schläfenlappen nachweisen kann, Untersuchungen von Blut und Nervenwasser und eine genetische Abklärung.

Wie funktioniert diese Gendiagnostik?

Eine eindeutige genetische Erkrankungsursache kann bei rund 20 Prozent der FTD-Patienten nachgewiesen werden. Wir wissen mittlerweile, dass verschiedene Genfehler zu einer FTD führen können. Am häufigsten sind die drei Gene C9orf72, GRN und MAPT betroffen. Der Nachweis eines krankheitsursächlichen Genfehlers in diesen Genen ist vor allem deshalb relevant, weil mittlerweile Therapiestudien durchgeführt werden, die speziell auf genetische FTD-Formen ausgerichtet sind.

Wie wahrscheinlich ist es, an einer FTD zu erkranken?

Gemessen an der Alzheimererkrankung und den Demenzen, die durch Gefäßveränderungen des Gehirns entstehen, ist die FTD selten. Das typische Erkrankungsalter liegt zwischen 50 und 60 Jahren, kann jedoch auch deutlich früher oder später sein. Innerhalb der früh beginnenden Demenzen wiederum ist die FTD eine häufige Demenzform. Männer und Frauen sind gleichermaßen betroffen.

Blick ins Gehirn | Bei einer frontotemporalen Demenz sterben vornehmlich Nervenzellen im Frontallappen an der Stirnseite des Gehirns und im Temporallappen an den Schläfen ab. Diese Hirnregionen sind unter anderem für die Handlungsplanung und die Verhaltenssteuerung wichtig sowie für das Sprachverständnis. So erklären sich auch die Symptome, die Betroffene entwickeln: Oft geht eine frontotemporale Demenz mit Verhaltens- und Persönlichkeitsänderungen einher. Bei der sprachbetonten Variante treten vor allem Sprachstörungen auf, die auch als Aphasien bezeichnet werden. Die Patienten haben dann zum Bespiel Schwierigkeiten, die richtigen Wörter zu finden, grammatikalisch korrekte Sätze zu bilden oder Gesagtes zu verstehen. Gedächtnisprobleme, die etwa typisch für eine Alzheimerdemenz sind, entstehen meist erst im späteren Krankheitsverlauf.

Das klingt differenzialdiagnostisch anspruchsvoll. Wie häufig sind Fehldiagnosen?

Die ersten Symptome einer FTD werden von Betroffenen, Familien und Ärzten nicht selten anderen Ursachen zugeschrieben, beispielsweise einer vermeintlichen psychischen Erkrankung. Leider vergehen bis zur Diagnosestellung oft mehrere Jahre. Ziel sollte deshalb sein, an die Möglichkeit einer FTD zu denken und die Betroffenen frühzeitig in einer spezialisierten Ambulanz vorzustellen.

Wie hoch ist die Lebenserwartung Betroffener?

Ab Symptombeginn vergehen üblicherweise fünf bis sieben Jahre bis zum Tod. Die Überlebenszeit ist jedoch individuell sehr verschieden, so dass pauschale Aussagen wenig helfen. Manche Patienten zeigen eine raschere Verschlechterung, andere einen langsameren Krankheitsverlauf.

»Maßgeblich für die Entwicklung einer frontotemporalen Demenz ist die eigene genetische Veranlagung«

Können die Symptome auch stagnieren?

Das wäre untypisch. Bei der FTD handelt es sich um eine Erkrankung, die mit einem fortschreitenden Verlust von Nervenzellen verbunden ist, der gegenwärtig leider nicht aufgehalten werden kann. Entsprechend nimmt die Hilfsbedürfigkeit der Betroffenen im Krankheitsverlauf zu, bis hin zur Pflegedürftigkeit.

Lässt sich durch den eigenen Lebensstil die Wahrscheinlichkeit beeinflussen, an einer FTD zu erkranken?

Maßgeblich für die Entwicklung einer FTD ist die eigene genetische Veranlagung, auch bei solchen Fällen, bei denen kein konkreter krankheitsursächlicher Genfehler nachgewiesen wurde. Welche Lebensstil- und Umweltfaktoren die Erkrankung begünstigen, ist nicht abschließend geklärt. Dennoch spielen für den Krankheitsverlauf Herz-Kreislauf-Risikofaktoren eine Rolle: Bluthochdruck, Übergewicht, Blutzucker- und Fettstoffwechselstörungen sind abträglich und sollten, soweit möglich, reduziert werden.

Welche Behandlungsmöglichkeiten existieren?

Zugelassene Therapien, die den Erkrankungsverlauf bremsen, gibt es noch nicht. Einige viel versprechende Wirkstoffe werden aber bereits in klinischen Studien für genetische Formen der FTD getestet. Solche Wirkstoffe zielen darauf ab, das Ausbrechen der Erkrankung zu verhindern oder zumindest hinauszuzögern. Dazu zählen zum Beispiel so genannte Antisense-Oligonukleotide – also der DNA ähnliche Moleküle –, die an den Genfehler binden und so verhindern sollen, dass dieser seine schädliche Wirkung entfaltet. Bei der spinalen Muskelatrophie (SMA) ist dieses Wirkprinzip erfolgreich und, so hoffen wir, in Zukunft auch bei genetischen FTD-Formen.

Was macht die Erforschung von FTD-Therapeutika so schwierig?

Sobald ein Mensch zum Patienten wird, ist bereits eine relevante Menge an Nervenzellen zu Grunde gegangen. Diese werden wir auch mit zukünftigen molekularen Therapien nicht zurückbringen können. Wir müssen also den frühen Krankheitsverlauf besser verstehen – die Zeit, bevor die ersten Demenzsymptome auftreten. In dem Zeitfenster besteht die Chance, mit zielgerichteten Therapeutika erfolgreich zu sein. Ein besseres Verständnis dieser frühen Krankheitsphase ist das Ziel von GENFI, der Genetischen FTD-Initiative, an der sich auch das Universitätsklinikum Tübingen beteiligt. Das Ziel von GENFI ist es, die Veränderungen im Gehirn von Menschen mit bekannten FTD-Genfehlern zu messen, noch bevor Symptome auftreten. Dadurch wird die Grundlage für zukünftige Therapiestudien gelegt, in denen Medikamente getestet werden, welche die Gehirnveränderungen aufhalten könnten, bevor Krankheitssymptome auftreten – und somit die Demenz verhindern oder zumindest hinauszögern.

»Die Verhaltensform der FTD stellt eine besondere Belastung für die pflegenden Angehörigen dar, da die Betroffenen häufig keine oder nur geringe Krankheitseinsicht haben«

Aktuell ist eine frontotemporale Demenz also nicht heilbar. Was empfehlen Sie Betroffenen und ihren Angehörigen?

Wir empfehlen Maßnahmen zur körperlichen, geistigen und sozialen Aktivierung der Patienten, soweit das bei Verhaltensänderungen umsetzbar ist. Auch ein strukturierter Tagesablauf kann dazu beitragen, eine Versorgung zu Hause möglichst lange aufrechtzuerhalten. Bei den Sprachformen der FTD ist logopädisches Training hilfreich, auch um alternative Kommunikationsstrategien zu üben. Die Verhaltensform der FTD stellt eine besondere Belastung für die pflegenden Angehörigen dar, da die Betroffenen häufig keine oder nur geringe Krankheitseinsicht haben und ihr Einfühlungsvermögen verlieren. Entsprechend haben pflegende Angehörige von FTD-Patienten leider ein relevantes Risiko, eine depressive Störung zu entwickeln. Wir empfehlen Angehörigen deshalb, frühzeitig auf die eigenen Ressourcen zu achten, Kontakt zu Angehörigengruppen aufzunehmen und bewusst Freiräume für eigene positive Aktivitäten zu planen.

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