Ernährung: Macht Milch krank - oder munter?
Galt Milch nicht einmal als so »wertvoll wie ein kleines Steak«, als Knochenstärkungsmittel, als naturreines Produkt von Almkühen? Oder zumindest als ein nicht wegzudenkendes Grundnahrungsmittel, dem Europäer über 7000 Jahre vertraut haben? Ja, doch das ist Vergangenheit. Milch hat heute in manchen Kreisen den Nimbus eines weißen Giftes. Milch soll zu Übergewicht, Diabetes und Übersäuerung führen, obendrein Krebs, neurodegenerative Leiden, Herzkrankheiten und Allergien befördern. Sogar Nierensteine, Arthritis, entzündliche Darmerkrankungen und Akne sollen auf das Konto von Milchvöllerei gehen.
Selbst Hausärzte raten mittlerweile bei ständigen Erkältungen, doch mal Milch wegen ihrer »verschleimenden« Wirkung wegzulassen. Andere fürchten den Milchzucker (Laktose), der ihnen Bauchgrimmen bereitet, und greifen darum lieber zu laktosefreier Milch oder gleich zu Milchersatzprodukten. Betrachtet man allerdings die wissenschaftlichen Fakten, bleibt nicht mehr viel vom schlechten Image. Das frühere, das gute Image war hingegen auch maßlos übertrieben.
Gefahr durch Keime in Milch
Womöglich gesundheitsgefährdende Frischmilch sorgte im Herbst 2019 für Besorgnis: Viele Supermärkte mussten mit Aeromonas-hydrophila-Bakterien verunreinigte Milch aus dem Handel nehmen und die Öffentlichkeit vor dem Verzehr warnen. Betroffen war ausschließlich frische Milch mit 1,5 Prozent Fettgehalt in Ein-Liter-Verpackungen aus einer bestimmten Herstellungscharge (Identitätskennzeichen DE NW 508 EG, haltbar bis zum 20.10.2019 oder davor). Die Milch vom Hersteller Deutsches Milchkontor (DMK) war unter verschiedenen Markennamen in den Handel gekommen (Aro, Milsani, Milfina, Gut & Günstig, Gutes Land, K-Classic, Milbona, Tip, Hofgut, Ja!, siehe Liste).
Als Ursache der Verunreinigung ist eine defekte Dichtung ausgemacht worden, die bei Routinekontrollen entdeckt wurde: Dadurch konnten Keime in eine Produktionsanlage in Nordrhein-Westfalen gelangen. Die Verbraucher wurden anschließend in einer groß angelegten Rückrufaktion vor dem Verzehr der betroffenen Milch gewarnt. Aeromonas-Keime können Magen-Darm-Erkrankungen mit Durchfall verursachen und gerade bei Menschen mit geschwächtem Immunsystem zu Entzündungen von Haut, Weichteilen, Knochen oder Knochenmark führen. Eine Blutvergiftung ist selten, aber möglich, wenn die Infektion nicht behandelt wird. Aeromonas-Keime leben in der Umwelt in Süß- und Brackwasser und können, unhygienische Umstände vorausgesetzt, in Fisch-, Fleisch- oder Milchprodukte und frisches Gemüse gelangen und dort überdauern, wenn die Speisen nicht gekocht werden. Insgesamt gingen auf das Konto der Bakterien allerdings bisher nur wenige dokumentierte Krankheitsfälle.
Zwar ist sicher, dass Milch einige wertvolle Inhaltsstoffe liefert, etwa Eiweiß, Kalzium, Vitamin B2 und B12 sowie Magnesium, Zink und Jod. Und darum profitieren etwa Kinder durchaus von Milch. Sie sorgt für starke Knochen und Zähne. »Aber Milchgenuss im Erwachsenenalter schützt nicht vor Osteoporose und Knochenbrüchen, wie man lange dachte«, sagt Walter Willett, Ernährungswissenschaftler an der Harvard University. Eine Metaanalyse hat dies kürzlich nochmals bestätigt. Grund für diese Annahme war, dass Milch ein hervorragender Kalziumlieferant ist, und Kalzium braucht der Knochen für seine Festigkeit. Mittlerweile weiß man jedoch, dass das Osteoporoserisiko von vielen anderen Faktoren beeinflusst wird. Vitamin D fördert beispielsweise den Einbau von Kalzium in den Knochen, und auch Bewegung in jungen Jahren schützt vor Osteoporose.
Dass Milch der Gesundheit schadet, ist aber auch nicht richtig, wie eine Analyse des Max Rubner-Instituts (MRI) aus dem Jahr 2014 zeigt, die 2018 überarbeitet wurde. Das Krebsrisiko wird etwa mit dem Konsum von zwei bis drei Milchportionen pro Tag, wie sie die meisten Fachgesellschaften empfehlen, nicht erhöht. »Es gibt lediglich Hinweise, dass mehr als ein Liter Milch pro Tag das Risiko für Prostatakrebs erhöht«, sagt Bernhard Watzl, Ernährungswissenschaftler am MRI. »Als Getränk ist Milch also eher nicht zu empfehlen.« Im Schnitt liegen die Deutschen aber sowieso unterhalb der empfohlenen Aufnahmemengen. Ein normaler Milchkonsum scheint sogar in geringem Maß gegen Magen-, Darm- und Brustkrebs wirksam zu sein. Allerdings ließ sich die Gefahr für das Brustgewebe nur durch den Konsum fermentierter Milchprodukte wie Jogurt abmildern.
Als Getränk nicht zu empfehlen
Wie kommen einige Milchgegner also dazu, Milch als Krebs fördernd zu betiteln? Schuld soll etwa so genannte micro-RNA (miRNA) sein. Diese kleinen Erbgutfragmente können Gene regulieren. Rund 245 verschiedene solcher Minipartikel tummeln sich in der Kuhmilch. Sie sollen laut Wissenschaftlern wie Bodo Melnik von der Universität Osnabrück aus der Nahrung durch die Darmwand ins Blut gelangen, wo sie – über Speziesgrenzen hinweg – bioaktiv sind. Melnik glaubt, dass Kuh-miRNA nicht nur für Krebs, sondern auch für Akne, Übergewicht und Diabetes verantwortlich ist. Allerdings stammen diese Funde bislang bloß aus Tierversuchen. »Das Thema micro-RNA ist sehr interessant, aber bislang wenig erforscht«, so Watzl. »In praktisch allen Lebensmitteln kommt Micro-RNA vor, auch in Getreide oder Gemüse.«
»Milchgenuss im Erwachsenenalter schützt nicht vor Osteoporose und Knochenbrüchen, wie man lange dachte«Walter Willett
Möglicherweise sind diese Partikel im Gegenteil gesundheitsförderlich. »In der Asthmaprävention wird diskutiert, ob micro-RNA aus Milch die Genexpression so verändert, dass das Asthmarisiko sinkt«, sagt Markus Ege, Epidemiologe an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Auch das Bundesinstitut für Risikoforschung (BfR) schreibt in einer Stellungnahme, dass Auswirkungen von miRNA aus Milch auf die menschliche Gesundheit sehr unwahrscheinlich seien.
Anfang 2019 lieferte eine weitere Meldung Zündstoff für das Milch-Bashing. Der renommierte Krebsforscher Harald zur Hausen erläuterte ausführlich seine Theorie, laut der bakterienähnliche, infektiöse Substanzen aus Milch und Rindfleisch, im Säuglingsalter genossen, das Risiko für Brust- und Darmkrebs erhöhe. Einer Stellungnahme von BfR und MRI zufolge gibt es jedoch kaum Studien, die einen Zusammenhang zwischen Ernährung im ersten Lebensjahr und Krebs untersuchten. Und dort, wo es Studien gibt, etwa zu Brustkrebs, seien diese widersprüchlich. Eltern sollten sich also nicht verunsichern lassen. Kleine Mengen Milch in der Beikost sind wichtig, da diese die Kalziumversorgung des Säuglings gewährleisten.
Milch fördert keine Herzkrankheiten
Falsch ist auch, dass Milch Herzkrankheiten fördere. Das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen durch den Verzehr von Milch und Milchprodukten ist nicht erhöht, zeigt das MRI-Papier. Lange standen vor allem Vollfettprodukte auf dem Index, da sich in der Milch gesättigte Fette tummeln, die das Cholesterin im Blut erhöhen könnten – ein Risikofaktor für Herzkrankheiten. Allerdings zeigten Studien der letzten Jahre, dass Milchfett unproblematisch ist. »Die Milchmatrix, also das Zusammenspiel der vielen Inhaltsstoffe der Milch, scheint eher gesundheitsförderlich zu sein«, sagt Watzl. »Einzelne Inhaltsstoffe isoliert zu betrachten, führt nicht weiter.«
Dick macht Milch wohl ebenso wenig. Im Gegenteil: Interventionsstudien mit Diäten zeigten, dass Milch beim Aufbau von Muskelmasse hilft, während Fettmasse abgebaut wird. Ob fettarme Milchprodukte für die schlanke Linie von Vorteil sind, konnten Studien bislang nicht belegen.
Auch das Diabetesrisiko ist etwas geringer, allerdings nur, wenn Milchprodukte wie Käse und Jogurt auf dem Speiseplan stehen. Vermutlich schützen Milchprodukte vor Diabetes, weil Vitamin K, ein Schutzfaktor, bei der Fermentation entsteht. Die Forschung steht in Sachen Fermentation jedoch noch am Anfang. Vor allem Laktobazillen und Bifidobakterien sind bei der Herstellung von Milchprodukten beteiligt. Möglicherweise interagieren sie mit dem Darmmikrobiom.
Sie verlängert und verkürzt das Leben nicht
Trotzdem brauchen Erwachsene Milch und Milchprodukte nicht zwingend für ihre Gesundheit. Eiweiß, Kalzium oder Zink kommt in vielen anderen Lebensmitteln vor. Den Jodbedarf kann man über Fisch oder jodiertes Salz decken. Und Fermentieren kann man auch zahlreiche andere Lebensmittel wie etwa Sauerkraut. Erst kürzlich hat eine Metaanalyse gezeigt, dass der maßvolle Konsum von Milch und Milchprodukten das Leben weder verlängert noch verkürzt.
Aber ist vielleicht etwas dran, dass Milch die Atemwege verschleimt und darum während einer Erklärung gemieden werden sollte? Dafür gibt es ebenfalls keine Beweise, so schreiben österreichische Cochrane-Wissenschaftler. Milch liefert jedoch so genannten Schleimzucker (Galaktose). Dieser Zucker ist in ähnlicher Form im Sekret der oberen Atemwege enthalten, was möglicherweise den Eindruck verstärkt, dass Milch verschleimt.
»Klar ist nur, dass Bauernhofkinder durch Rohmilch vor Allergien und Asthma geschützt sind«Markus Ege
Derzeit intensiv erforscht wird die Frage, ob die Erhitzung und Homogenisierung von Milch einen Einfluss auf die Gesundheit hat. Zwar unterscheiden sich rohe, pasteurisierte, ESL- und H-Milch hinsichtlich des Makronährstoffgehalts kaum. In Rohmilch finden sich allerdings mehr intakte Inhaltsstoffe: Die Fettbestandteile und Eiweiße sind physikalisch-chemisch betrachtet deutlich anders als in hocherhitzten und homogenisierten Produkten.
Welche Rolle die Verarbeitung hinsichtlich Gesundheit oder Krankheit spielen, ist jedoch derzeit ungewiss. »Klar ist nur, dass Bauernhofkinder durch Rohmilch vor Allergien und Asthma geschützt sind«, sagt Ege. Er rät wie die meisten Experten allerdings von Rohmilch wegen möglicher pathogener Keime ab. Dass Rohmilch auch zur Prävention von Krebs oder Laktoseintoleranz taugt, ist hingegen nicht belegbar.
A2-Milch ist nicht gesünder
Rund zehn Prozent der Deutschen können Milchzucker nicht richtig verdauen. Wer dann eine größere Menge Milch etwa als Latte macchiato trinkt, reagiert mit Bauchschmerzen, Blähungen und Durchfall. Abhilfe schafft hier beispielsweise laktosefreie Milch. So genannte A2-Milch, eine Art Urmilch, wie man sie neuerdings stellenweise im Kühlregal findet, hat dagegen keine belegbaren Vorteile für Laktoseintolerante oder die Gesundheit im Allgemeinen. Diese Milch stammt von speziellen Rinderrassen wie Guernsey oder Brown Swiss. Sie liefert einen höheren Anteil des Proteinbestandteils Casein A2 und weniger Casein A1, der von den Milchgegnern als Krankmacher angesehen wird. Das MRI hat sich bereits 2016 auch die Studienlage dazu angesehen und klargestellt, dass diese Milch nicht gesünder oder verträglicher ist, schließlich liefert sie etwa genauso viel Laktose wie normale Milch.
Dass immer mehr Menschen zu Milchersatzprodukten wie Reis-, Hafer- oder Sojamilch greifen, hat teils ökologische oder tierethische Gründe, teils werden gesundheitliche Beschwerden durch Milchverzehr angeführt. Für Menschen mit Laktoseintoleranz kann also ein mit Sojamilch hergestellter Milchkaffee bekömmlicher sein. Einige Milchprodukte wie lange gereifter Käse enthalten jedoch gar keinen Milchzucker, können also durchaus auf dem Speiseplan stehen.
Allerdings haben Milchersatzprodukte tatsächlich eine bessere Ökobilanz, vor allem wenn die Rohstoffe aus Europa stammen, wie etwa bei Hafer- oder Sojamilch. Insgesamt gesünder sind diese Produkte aber nicht. Nur Sojamilch liefert annähernd so viel Eiweiß wie Kuhmilch. Hafer-, Reis- oder Kokosmilch haben dagegen einen marginalen Eiweißgehalt. Auch fehlen in den Milchersatzprodukten Vitamine und Mineralstoffe. Daher werden sie oft zugesetzt. In Käse- und Jogurtimitaten tummeln sich zudem zahlreiche Zusatzstoffe, wie unter anderem ein Marktcheck der Verbraucherzentrale aus dem Jahr 2017 zeigte (PDF).
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