Einsamkeit: Die Epidemie, die keine ist
»All the lonely people, where do they all come from?«, sangen die Beatles 1966. Heute sind es die Medien, die eine regelrechte Einsamkeitsepidemie beklagen. Angefacht hat die Debatte in Deutschland auch das Buch von Manfred Spitzer: »Einsamkeit – die unerkannte Krankheit: schmerzhaft, ansteckend, tödlich«. Einsamkeit sei, so schreibt der Ulmer Psychiater und Neurowissenschaftler, eine »Krankheit«, gar die »Todesursache Nummer eins«.
Tatsächlich geht Einsamkeit gerade bei älteren Menschen mit negativen Folgen für die Gesundheit einher. Sie löst Stress aus, und ein hoher Stresspegel schwächt wiederum das Immunsystem, wodurch die Betroffenen anfälliger für Herzinfarkte, Schlaganfälle oder Depressionen werden. Anzeichen, die von einer Einsamkeitsepidemie zu künden scheinen, gibt es auf den ersten Blick viele. Schließlich leben wir in einer Gesellschaft, in der der Individualismus zunimmt, immer mehr Personen in Singlehaushalten leben, die sozialen Kernnetzwerke kleiner geworden sind, die Menschen weniger Kinder haben und dazu immer älter werden.
Doch ganz so einfach ist es nicht. Zunächst einmal ist Alleinsein nicht mit Einsamkeit gleichzusetzen. Einsamkeit ist ein Gefühl, eine subjektive Wahrnehmung, die nicht genau mit den objektiven sozialen Gegebenheiten übereinstimmen muss. Es entsteht aus der wahrgenommenen Diskrepanz zwischen erwünschten und erreichten sozialen Beziehungen. Der Soziologe Janosch Schobin von der Universität Kassel hält die These, dass wir immer einsamer werden, nicht für sehr plausibel: »Hinter der Tatsache, dass immer mehr Menschen allein leben, stehen eigentlich positive Entwicklungen. Menschen können sich in unserer liberalen Gesellschaft aussuchen, mit wem sie zusammen sein wollen.« Das sei im Hinblick auf das Thema Einsamkeit eigentlich von Vorteil. Denn einer der Gründe für Einsamkeit bestehe in negativen Beziehungen. »Wenn man schlechte Beziehungen auflösen kann, sorgt das für weniger Einsamkeit.«
»Hinter der Tatsache, dass immer mehr Menschen allein leben, stehen eigentlich positive Entwicklungen«
Janosch Schobin, Soziologe
Auch dass Menschen inzwischen im Schnitt weniger Kinder bekommen, muss sie nicht zwangsläufig einsamer machen. »Im Gegenteil«, meint Janosch Schobin. »Weniger Kinder zu haben bedeutet, mehr Zeit für jedes einzelne Kind zur Verfügung zu haben und damit bessere Familienbeziehungen.« Außerdem leben Menschen in wohlhabenden Nationen nicht auf so engem Raum wie in ärmeren Ländern. »Damit fallen soziale Stressfaktoren weg, die auch einsam machen können.« Deshalb könne man eigentlich erwarten, dass die Menschen mittlerweile sogar weniger einsam sind als früher.
Falsche Schlüsse
Studiendaten sprechen ebenfalls dagegen, dass wir zunehmend vereinsamen. Als Belege für eine grassierende Einsamkeitsepidemie werden oft Statistiken herangezogen, denen zufolge sich junge Menschen heute einsamer fühlen als ältere Erwachsene. Im Community Life Survey 2017/18 des Office for National Statistics in England gaben beispielsweise insgesamt sechs Prozent der Befragten an, sich oft oder immer einsam zu fühlen. Bei den 16- bis 34-Jährigen war der Anteil dabei höher als bei den über 50-Jährigen.
Aber ist das wirklich ein Beleg dafür, dass die Einsamkeit um sich greift? Nicht unbedingt, denn wie Studien zeigen, schwanken Gefühle der Einsamkeit und der Isolation über die Lebensspanne hinweg. Wissenschaftliche Erkenntnisse warten dabei mit einer echten Überraschung auf. Die meisten Menschen verbinden Einsamkeit eher mit älteren Menschen – doch das ist nicht das ganze Bild. Im Lauf des Lebens gebe es zwei große Höhepunkte im Einsamkeitserleben, sagt die Psychologin Susanne Bücker von der Ruhr-Universität Bochum: einen im jungen Erwachsenenalter und einen im höheren Alter. »Eine mögliche Erklärung ist, dass Menschen im Alter von 25 bis 35 zwei Dinge unter einen Hut zu bringen versuchen: einerseits sich beruflich zu etablieren, andererseits eine Familie zu gründen.« Dann bleibe schlicht weniger Zeit, sich um sein soziales Netz zu kümmern. Im höheren Erwachsenenalter wiederum ballen sich die Risikofaktoren: Die Gesundheit lässt nach, was vielfach die eigene Mobilität einschränkt und damit die Möglichkeit, am sozialen Leben teilzuhaben. Und der Tod des Partners ist ebenfalls ein Risikofaktor.
Dieses komplexe Verhältnis zwischen Alter und Einsamkeit zeigt, warum der Vergleich zwischen älteren und jungen Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt irreführend ist. Berichten jüngere Menschen von mehr Einsamkeit als Menschen im mittleren Erwachsenenalter, muss das nicht heißen, dass die jüngere Generation als Generation einsamer ist, sondern kann schlicht ein Effekt des Alters sein.
»Bislang gibt es wenig Evidenz für die Aussage, Einsamkeit habe in der Gesellschaft epidemieartig zugenommen«
Susanne Bücker, Psychologin
Um einer vermeintlichen Einsamkeitsepidemie auf den Grund zu gehen, muss man deshalb anders vorgehen und die Aussagen gleichaltriger Menschen miteinander vergleichen – etwa die heutiger Millenials im Alter von 23 bis 38 Jahren mit denen von Menschen aus der Generation der Babyboomer, als diese ebenfalls so alt waren. »Bislang gibt es wenig Evidenz für die Aussage, Einsamkeit habe in der Gesellschaft epidemieartig zugenommen«, sagt Susanne Bücker. »Für das hohe Erwachsenenalter haben wir recht gute Evidenz, dass die Einsamkeit stabil geblieben ist. Die älteren Menschen heute fühlen sich nicht gravierend einsamer als die älteren Menschen vor vielen Jahren.«
Die Psychologin Louise Hawkley von der University of Chicago untersuchte 2019 gemeinsam mit Kollegen, ob Menschen, die zwischen 1948 und 1965 geboren wurden, sich im höheren Alter einsamer fühlen als Personen, die zwischen 1920 und 1947 zur Welt kamen. Sie verwendeten dazu Langzeitdaten aus den USA, die in den Jahren 2005 bis 2016 erhoben worden waren. Insgesamt ließen sich keine Hinweise darauf finden, dass die Babyboomer im späteren Leben stärker unter Einsamkeit litten als die Menschen der früheren Generation oder dass sie bei älteren Menschen in diesem Zeitraum zugenommen hat.
Teenager sind tendenziell sogar weniger einsam
Ähnliches gilt für jüngere Menschen. Forscher um den Psychologen Matthew Clark von der University of Queensland im australischen Brisbane führten 2014 gleich zwei Studien durch: In der ersten nahmen sie frühere Untersuchungen unter die Lupe, um die Veränderungen der Einsamkeit im Lauf der Zeit zu analysieren. Die Studie konzentrierte sich auf mehr als 13 000 College-Studenten im Zeitraum von 1978 bis 2009. Letztlich ergab sie sogar einen leichten Rückgang von Einsamkeitsgefühlen. In der zweiten Untersuchung nutzten die Forscher eine große repräsentative Stichprobe mit mehr als 385 000 Highschool-Schülern aus den Jahren 1991 bis 2012. Auch hier zeigte sich, dass spätere Jahrgänge sich etwas weniger einsam fühlten als frühere Jahrgänge.
Für eine Einsamkeitsepidemie in Europa gibt es derzeit ebenso wenig belastbare Belege. Der Kasseler Soziologe Schobin verweist in diesem Zusammenhang etwa auf das European Social Survey, in dessen Rahmen seit 2002 unter anderem Daten über das Wohlbefinden von Menschen aus mehr als 30 europäischen Ländern erhoben werden. »Das European Social Survey hat zwischen 2006 und 2012 keinen Anstieg der Einsamkeit in Europa gemessen«, so Schobin. Manche Gesellschaften wurden etwas einsamer, andere etwas weniger einsam. »Aber das liegt alles innerhalb der statistischen Schwankungsbreite.« Und dann gibt es noch einen Zeitvergleich für Deutschland aus verlässlichen Daten des Sozio-oekonomischen Panels. »Dort sieht man zwar Schwankungen, doch auch hier nimmt Einsamkeit tendenziell eher ab«, sagt Schobin.
»Auf der einen Seite ist Einsamkeit ein wichtiges Thema«, glaubt die Psychologin Susanne Bücker. Schließlich habe sie für die Betroffenen negative Folgen, etwa im Hinblick auf die Gesundheit. »Auf der anderen Seite ist es unseriös, in einer Panikmache von einer ›Einsamkeitsepidemie‹ zu sprechen.« Denn der Großteil der Menschen sei nicht einsam; je nach Studie betreffe das Thema 5 bis 15 Prozent der Bevölkerung.
In Zukunft könnte es dennoch an Relevanz gewinnen – aber aus einem anderen Grund: Denn die Menschen werden im Schnitt immer älter, und damit verlängert sich eine der Phasen im Leben, in denen wir besonders anfällig für Einsamkeitsgefühle sind. »Es gibt heute nicht mehr so dichte soziale Verwandtschaftsnetzwerke. Stattdessen haben wir kleinere soziale Kernnetzwerke mit wichtigen Beziehungen«, sagt Janosch Schobin. Verliere man eine Person, zu der man solche eine Bindung habe, könne einen das leicht in die Einsamkeit stürzen. »Hier sollte sich die Politik Gedanken machen und präventiv eingreifen.«
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