Protoevangelium des Jakobus: Später war mehr Lametta
Im 16. Jahrhundert brachte der Jesuit, Universalgelehrte und Abenteurer Guillaume Postel ein geheimnisvolles Manuskript aus Kleinasien nach Europa. Der Franzose ahnte schon, dass diese Schrift etwas ganz Besonderes sein würde. Nichts weniger als den verloren gegangenen Anfang des Markusevangeliums glaubte er in den Händen zu halten. Denn der Text enthielt, worüber der Evangelist Markus sich mysteriöserweise ausschweigt: eine ausführliche Schilderung der Geburt Jesu.
Der polyglotte Postel übersetzte die Schrift aus dem Griechischen ins Lateinische und ließ sie im Jahr 1552 in Basel veröffentlichen. Ein Knaller, könnte man meinen. Doch mit seinem »Protoevangelium des Jakobus« bereitete Postel nur wenigen Freude. Sein Text weckte Unbehagen. Und das sowohl bei den katholischen als auch bei den reformatorischen Lesern.
Dass sich der Autor darin als ein gewisser Jakobus zu erkennen gibt, dass es sich folglich nicht um den Evangelisten Markus handelte, war nicht das Problem.
Das Problem war, dass das Buch zwar inhaltlich eindeutig zum Umfeld der Bibel gehörte, aber offenkundig nicht den Rang eines Evangeliums beanspruchen konnte. Zwar hatte Postel mit dem Zusatz »Proto-« (»Anfangs-«) eine Trennlinie zu den Evangelien gezogen. Doch die begriffliche Nähe zur Heiligen Schrift blieb bestehen. Man ordnete dieses Werk in die Kategorie »apokryph« ein. Seit dem 2. Jahrhundert nach Christus werden so frühchristliche Schriften bezeichnet, die offensichtlich nicht zu den authentischen Zeugnissen über das Leben und die Lehre Jesu gehören. Es sind »verborgene«, »dunkle « Manuskripte.
Düster allerdings ist das Protoevangelium des Jakobus mitnichten. Im Gegenteil: Viele seiner Schilderungen waren nicht nur altbekannt, sondern sogar sehr beliebt. Anders als das Werk selbst waren sie nie in Vergessenheit geraten. Sie hatten jahrhundertelang in der Volksfrömmigkeit und Kunst überlebt und auf diese Weise das uns heute vertraute Bild von Weihnachten und den handelnden Personen geprägt.
Alt, aber nicht alt genug?
Rang und Namen einer Heiligen Schrift konnte das Protoevangelium trotzdem nicht beanspruchen, allein schon deshalb nicht, weil es nach Meinung von Postels Zeitgenossen keine authentische Schrift war. In der Forschungsgeschichte setzte sich in der Folgezeit die Ansicht durch, dass die Schrift vielleicht im 5. oder 6. Jahrhundert aufgezeichnet wurde. Das war jedoch ein Irrtum. Im 20. Jahrhundert tauchten neue Schriftfunde auf, etwa auf Papyrus geschriebene Fassungen, und schnell wurde klar, dass das Protoevangelium nach Jakobus wesentlich älter ist. Es stammt aus der Frühzeit des Christentums, aus der Mitte des 2. Jahrhunderts.
Damit entstand es nur wenige Jahrzehnte nach den vier Evangelien der Bibel und fällt genau in jene aufgewühlte Epoche des Christentums, in der noch keineswegs entschieden war, welche Schriften zum Kanon gehören sollten, also der einigermaßen verbindlichen Zusammenstellung des Neuen Testaments. Das Protoevangelium, so viel steht heute fest, wurde irgendwann ausgesiebt. Kopiert, gelesen und übersetzt wurde es trotzdem. Besonders im Osten des Römischen Reichs war die Schrift in zahlreichen Übersetzungen (neben dem Lateinischen auch zum Beispiel ins Syrische, Koptische, Arabische, Slawische) bekannt. Zudem hatten bereits in der Spätantike Autoren den Stoff des Jakobus-Werks aufgegriffen und so für dessen weitere Verbreitung gesorgt.
Was machte das Protoevangelium so besonders?
Der Text hat zwei Schwerpunkte: zum einen die Schilderung der Geburt Jesu durch eine Jungfrau und zum anderen die anschließende Verfolgung des Kindes durch König Herodes. Das hat es mit den Weihnachtserzählungen in den Evangelien nach Matthäus und Lukas gemeinsam. Auffällig ist, dass das Protoevangelium mehr Details und zusätzliches Material bietet. Erstaunlich ist, dass es die Geschichte der Familie und der Geburt Jesu völlig anders erzählt.
Ein außergewöhnliches Mädchen wird geboren
Schon beim ersten Lesen fallen einige Unterschiede ins Auge. Beispielsweise spielen die Großeltern Jesu in der Erzählung eine entscheidende Rolle. In der Bibel dagegen werden sie nicht einmal erwähnt.
Laut Jakobus heißen sie Joachim und Anna. Sie sind reich, genießen in Jerusalem ein hohes Ansehen, und sie sind geradezu vorbildlich in ihrer Religionsausübung. Wunderhaft sind die Umstände der Geburt ihrer Tochter Maria, denn die Ehe von Anna und Joachim bleibt lange kinderlos. Erst im hohen Alter, nach intensiven religiösen Riten und Bitten an Gott, wird Maria geboren. Von Beginn an zeigt sich, dass Maria eine besondere religiöse Funktion haben wird, und so wächst das Mädchen in vorbildlicher Reinheit im Tempel in Jerusalem auf.
Mit dem Beginn der Menstruation muss Maria den Tempel verlassen. Unter den Israeliten wird ein angesehener, verlässlicher Ehemann für Maria gesucht, der sie unter seinen Schutz nimmt, aber keinen sexuellen Kontakt mit ihr haben darf.
Eine Orakelbefragung führt dazu, dass sie mit dem älteren Bauunternehmer Josef verlobt werden soll. Der ist zunächst gar nicht glücklich darüber. Machte man sich denn nicht lächerlich als alter Mann mit einer so jungen Ehefrau? Doch er muss sich dem Druck des Orakels beugen.
Als Maria in Josefs Abwesenheit schwanger wird, fühlt er sich zunächst hintergangen, dann fällt direkt der Verdacht auf ihn. Erst durch ein weiteres Orakel wird bewiesen, dass Josef nicht der Vater des Kindes ist, sondern dass Maria als Jungfrau schwanger wurde und somit das Kind durch göttliches Eingreifen entstanden ist.
Zusammengefasst: Jesus stammt nach Jakobus aus einer bedeutenden, angesehenen Jerusalemer Familie und nicht aus einfachen Verhältnissen; das Leben Marias zeigt von Kindheit an den Eingriff göttlichen Wirkens; und sie wächst in vollkommener Reinheit auf. Alle beteiligten Akteure haben einen unzweifelhaften Leumund und sind durch göttliche Wunder legitimiert. Somit wäre bewiesen, dass Jesus von einer Jungfrau geboren wurde.
Weihnachtsgeschichte mit Lücken
Selbstverständlich ist in den Weihnachtsgeschichten der offiziellen Evangelien auch von den wunderhaften Umständen der Geburt Jesu die Rede. Aber vieles bleibt ungesagt. Ein Text wie das Protoevangelium legt nahe, dass diese Leerstellen alsbald gefüllt werden wollten. Das Hadern des Josef, der Maria als vermeintliche Ehebrecherin hätte steinigen lassen müssen, dann die falschen Verdächtigungen (»Da wandte sich der Priester an Josef und fragte: ›Josef, warum hast du das gemacht?‹«), dann das Happy End – es überrascht nicht, dass solche Familiengeschichten auf Interesse stoßen. Auch wenn die Fixierung auf die Jungfräulichkeit für den heutigen Leser vielleicht erstaunlich sein mag.
Für die Leser des Jakobus war sie das wahrscheinlich nicht. War das doch der Stoff, aus dem Legenden sind: Die griechisch-römische Antike kennt zahlreiche Ausnahmepersonen, die jungfräulich gezeugt worden sein sollen, Alexander der Große zum Beispiel durch einen Blitzstrahl. Auch Buddha und Zarathustra wurden nicht auf die übliche Art und Weise gezeugt. Und selbst der moderne »Star Wars«-Mythos des George Lucas kommt nicht ohne Jungfrauengeburt aus.
Das Narrativ der Geburt durch eine Jungfrau in Bethlehem hatte noch eine weitere Funktion: Es erfüllten sich darin aus Sicht der Gläubigen uralte Prophezeiungen des Alten Testaments. Sie legitimierten den als Unruhestifter ans Kreuz genagelten Jesus als wahren Messias.
In den allerältesten Schichten des Frühchristentums war das wohl noch kein Thema. Vergleicht man die Überlieferungen der ersten gut hundert Jahre nach Jesu Tod miteinander, stößt man auf eine Traditionslinie, in der die Geschichte der Geburt gar nicht vorkommt: Die ältesten Schriften des Neuen Testaments, die Paulusbriefe und das Markusevangelium, erwähnen sie genauso wenig wie das (jüngere) Johannesevangelium.
In einer weiteren, wohl später einsetzenden Traditionslinie scheint dagegen die Jungfrau Maria eine immer höhere Bedeutung zu bekommen. Diese Linie führt von den Evangelien Matthäus und Lukas zum Protoevangelium und von dort aus zu weiteren apokryphen »Kindheitsevangelien«, in denen auch ausführlich aus der Zeit vor dem öffentlichen Wirken von Jesus die Rede ist.
Das Narrativ der Jungfrauengeburt brachte die frühen Christen allerdings in die nächste Bredouille: Wenn im echten Leben eine junge Frau in Abwesenheit ihres Mannes schwanger wird, dann steckt da in den allermeisten Fällen kein göttliches Wirken dahinter. Das war auch den Menschen der Antike klar. Römern, Griechen und Juden musste es absurd erschienen sein, dass die frühen Christen einem offenkundig unehelichen Kind göttliche Attribute zusprachen.
Vor diesem Hintergrund liest sich das Protoevangelium fast wie eine Rechtfertigungsschrift mit zwei Adressaten: Einerseits richtete es sich nach außen, um den Gegnern des noch jungen Christentums die Göttlichkeit Jesu zu beweisen, andererseits nach innen, um die Gemeindemitglieder im eigenen Glauben zu bestärken.
Aus der High Society in den Stall
In den kanonisierten Evangelien taucht Josef zwar als Nachfahre des König Davids auf. Erst später, außerhalb der Weihnachtsgeschichte, erfährt man, dass er von Beruf Bauhandwerker war. Von einer hervorgehobenen gesellschaftlichen Stellung der Familie Josefs kann trotzdem nicht die Rede sein.
Von Marias Familiengeschichte heißt es lediglich, dass sie eine Verwandte der Eltern von Johannes des Täufers war, die aus einer Priesterfamilie stammen. Die Namen ihrer eigenen Eltern sind ebenso wenig von Interesse wie ihre Kindheit und Jugend.
Ganz anders im Jakobusevangelium: Dort steigen beide in die Ränge der höhen Gesellschaft auf. Nebenbei ist bei ihm nicht Josef, sondern Maria die Nachfahrin des König Davids. Für die innere Logik der Weihnachtsgeschichte ist dies ein bedeutendes Detail: Wenn Josef doch gar nicht der Vater von Jesus ist, dann ist es völlig irrelevant, dass Josef »aus dem Hause und Geschlechte Davids war«, wie es bei Lukas heißt. Hat der Autor des Protoevangeliums dieses fehlerhafte Detail im Nachhinein berichtigt?
Zugleich verblüfft angesichts dieser Rollenverteilung, wie sehr sich die Erzählungen unterscheiden: Die Evangelien porträtieren Maria als eine zwar einfache, aber starke junge Frau, die angesichts des Göttlichen, das ihr widerfährt, handelt. Bei Jakobus begegnet man einer göttlichen Tochter aus der Oberschicht, um die herum immer weitere Wunder passieren. Sie wirkt wie ein Objekt, um deren Reinheit man besorgt ist.
Und während in der Bibel Josef im Grunde wie reine Staffage wirkt, ist er bei Jakobus über weite Strecken der eigentliche Mittelpunkt der Handlung. Nicht einmal den Esel führen darf der biblische Josef seiner schwangeren Frau. So fürsorglich ist er nur bei Jakobus.
Das, so ist anzunehmen, macht den Reiz des Protoevangeliums aus. Weg von den provinziellen Wurzeln der Familie aus dem unbekannten Nazareth hin zu einer Geschichte mit gewissem Drama, noch dazu aus der Oberschicht, der High Society Judäas. Was Jakobus erzählt, hat einfach »mehr Lametta« als die Schriften seiner Vorgänger. Vielleicht – dies nur als reine Vermutung – ein bisschen zu viel Lametta für die Aufnahme in den Kanon der Heiligen Schriften.
Dogmen und neue Inszenierungen
Der Berliner Theologe Jens Schröter charakterisiert das Protoevangelium als eine »kreative Neuinterpretation« oder als »narrative Neuinszenierung« der zu der Zeit umlaufenden Geschichten über die Geburt Jesu.
Damit bietet es uns zugleich einen Blick in die Suppenküche des frühen Christentums: Welche Erzählungen würden sich durchsetzen? Welche theologischen Dogmen würden sich herausbilden? Welche historischen Einzelheiten würden bewahrt werden und welche nicht? So gesehen erweitern die apokryphen Evangelien den forschungsgeschichtlichen Horizont und geben erhellende Einblicke in die Entstehung des Christentums und der christlichen Dogmen.
Wie andere apokryphe Schriften auch hat das Protoevangelium im Verborgenen eine unbezähmbare Kraft entfaltet. Spuren finden sich außer in der Volksfrömmigkeit vor allem in der Kunst. Albrecht Dürers Bildzyklus »Das Marienleben« vom Anfang des 16. Jahrhunderts gilt als Paradebeispiel für ein Werk, das jene legendären Motive aufgreift, die ursprünglich einmal dem Jakobus entstammten.
Und weit muss man auch heute nicht suchen: Jede Weihnachtskrippe, aus der Ochs und Esel hervorlugen, ist eine Referenz an das Protoevangelium, in dem diese Tiere zum ersten Mal erwähnt werden. Was zeigt: Ohne Jakobus würde an Weihnachten etwas fehlen.
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