Mobilitätswende: Wie lange gibt es unsere Autoindustrie noch?
Die Vision von James Arbib und Tony Seba ist düster, zumindest für die Autoindustrie – und mutmaßlich gut für die Umwelt. Bereits 2030 werden US-Bürger 95 Prozent aller Wegstrecken in Elektrofahrzeugen zurücklegen, die autonom fahren und einigen wenigen Anbietern gehören, der so genannte Transport as a Service (TAAS). Das schreiben der Silicon-Valley-Unternehmer Seba und der Londoner Tech-Investor Arbib in einer Studie des kalifornischen Thinktanks RethinkX vom Mai 2017. Die Konsequenz aus dieser Vision: Kaum jemand wird ein eigenes Auto besitzen, da auf diese Weise die Kosten jeder einzelnen zurückgelegten Meile nur noch ein Zehntel der heutigen betragen. Es wird deutlich weniger Fahrzeuge auf den Straßen geben, da diese nicht länger herumstehen, sondern stets dort im Einsatz sind, wo sie gebraucht werden. Man benötigt kaum noch Parkplätze und vor allem nicht mehr das, was die deutschen Autobauer gut können: die diffizile Herstellung eines Verbrennungsmotors mit seinen mehr als 2000 beweglichen Teilen, die sich in hoher Geschwindigkeit drehen.
Und für all das sei keine Regulierung notwendig, betont Seba: "Das alles wird der Markt richten." E-Mobilität werde schnell so viel günstiger werden als die Fortbewegung auf Basis klassischer Verbrennungsmotoren, die komplex und wartungsintensiv sind. Ein Elektromotor hingegen ist eine vergleichbar einfache Sache. Zudem sparen sich die Nutzer von Transport as a Service den Aufwand, sich um Instandhaltung und Pflege zu kümmern, was diese Lösung zusätzlich finanziell attraktiv macht. Seba geht davon aus, dass die amerikanische Durchschnittsfamilie 5600 US-Dollar im Jahr an Transportkosten spart, was einer zehnprozentigen Einkommenserhöhung gleichkomme. "Diese Disruption wird schnell kommen und global unausweichlich sein", warnt er eindringlich. Privatnutzer würden sich ihrer privaten Autos viel schneller entledigen, als es die großen Analysten vorhergesagt haben. Das Konzept des Autobesitzes an sich werde schneller Geschichte sein, als es sich die meisten heute vorstellen können – auch die Autobauer selbst.
Denn sie unterschätzten nicht zuletzt die Dynamik des Kulturwandels. Ängste vor neuen Technologien würden dann schnell überwunden, wenn die Vorteile derart deutlich zu spüren sind. Und in der Tat scheint sich das Konzept des eigenen Autos langsam aufzulösen: Schließlich nutzen schon heute 500 000 Passagiere pro Tag allein in New York City Transportdienste wie Uber – dreimal mehr als im Jahr zuvor. Auch in Deutschland nimmt Carsharing zu.
Gibt es einen Haken?
Doch die Aufsehen erregende Studie von Arbib und Seba hat einen Haken. Sie geht davon aus, dass diese Disruption, die vollständige Verdrängung einer alten Technologie, bereits im Jahr 2021 beginnt – denn dann seien autonome Fahrzeuge in großem Stil auf öffentlichen Straßen unterwegs. Und dann würden alle Märkte, die mit klassischer Automobilität zu tun haben, von TAAS übertrumpft: von der klassischen Autoindustrie über Zulieferer bis hin zu Versicherungen und natürlich der Ölindustrie.
Diese optimistische Rechnung mag allerdings kaum ein anderer Forscher so teilen. "Das ist eine recht provokante These, wie sie US-Wissenschaftler gerne vertreten", sagt Michael Krail, Projekteiter Automatisiertes Fahren beim Fraunhofer ISI. Einige Studien deuten darauf hin, dass die Preise für Elektrofahrzeuge wohl zwischen 2025 und 2030 vergleichbar sind mit denen herkömmlicher Verbrenner – was naheliegend ist: Beim PKW entstehen 40 bis 45 Prozent der Kosten beim Antrieb. "Entsprechende Elektromotoren sind technisch weitaus einfacher." Diese Entwicklung werde auch unterstützt durch schärfere gesetzliche Vorgaben, die Verbrennungsmotoren erfüllen müssen, um gewisse Effizienzziele zu erreichen. "Treibstoff-Spartechnologien sind teuer."
Doch Krail räumt auch mit einem Missverständnis auf. Noch sei unklar, ob Elektrofahrzeuge tatsächlich umweltfreundlicher sind. "Die Emissionen und der Energiebedarf für Batterien sind in der Herstellung um ein Vielfaches höher als beim Verbrennungsmotor." Erst das Konzept des Transport on Demand macht die neue Technologie auch umweltfreundlicher. Denn diese Investitionen in die Produktion rentieren sich umso mehr, je mehr das Fahrzeug fährt. "Von daher ist die Kombination von selbstfahrenden und Elektrofahrzeugen durchaus sinnvoll", so Krail.
Nur das Tempo der Entwicklung zum autonomen Auto und die Abschaffung des Autos als Privateigentum schätzen Seba und Arbib aus seiner Sicht falsch ein. In Deutschland sind 45 Millionen Fahrzeuge zugelassen, "ein eigener Pkw ist der Normalfall". Carsharing sei insbesondere auf dem Land noch kaum verfügbar – "das ist dort noch kein Geschäftsmodell".
Entwickler versus Marketing?
Doch wie kommt Seba überhaupt darauf, dass autonome Autos bereits 2021 in großem Stil auf der Straße fahren? Der Informatiker und Standford-Ökonom schreibt in seinem Bericht, diese Analyse basiere vor allem auf unzähligen Gesprächen mit gut informierten Persönlichkeiten, die er geführt habe. Krail vermutet, dass es sich um Gespräche mit den Marketingabteilungen der Unternehmen gehandelt haben müsse, die autonomes Fahren vorantreiben. Denn wer die Entwickler fragt, bekommt ein ganz anderes Bild. "Die Sensorik ist noch nicht weit genug." Schließlich ist es nicht einfach, Sensoren so zu bauen, dass sie unter allen Bedingungen funktionieren.
Aktuell ist Level 3 des autonomen Fahrens Stand der Forschung: Solche Fahrzeuge fahren unter bestimmten optimalen Bedingungen selbst, brauchen aber ein Lenkrad und einen stets aufmerksamen Fahrer, der bei Schwierigkeiten schnell das Steuer übernimmt. Level 4 bedeutet, dass Fahrzeuge komplett autonom fahren können, aber auch hier nur unter bestimmten Bedingungen, beispielsweise nur bei Tageslicht und gutem Wetter. Erst Level 5 sind komplett autonome Autos, die unter allen Bedingungen überall in der Welt selbst fahren und jede Situation meistern – und das ist Zukunftsmusik. "Schon bei Level 4 gibt es sehr viele technische Probleme, die sind bis 2030 sicher nicht gelöst", sagt Krail.
Seba ist empört über den Verdacht, er habe nur mit den Marketingabteilungen geredet. "Ich bin selbst ein Experte, ich habe künstliche Intelligenz am Massachusetts Institut of Technology studiert, fragen Sie mich bitte nicht, ob ich mit den falschen Leuten gesprochen habe", schimpft er. Zudem habe er selbst bereits ein Level‑4-Fahrzeug gefahren, "das fuhr selbst, diese Fahrzeuge gibt es da draußen." Und er fühlt sich falsch wiedergegeben von den Medien: Seine Vision geht nicht davon aus, dass 2021 bereits Level‑5-Fahrzeuge autonom fahren. Level 4 genüge, um eine Revolution auszulösen: "Stellen Sie sich vor, einige Autos können nur in Florida fahren, andere nur in Norwegen, jedes unter bestimmten Bedingungen." Dann komme die Schwarmintelligenz hinzu und Computersimulationen in Kombination mit Deep Learning. Auf Grundlage aller Daten, die diese Level‑4-Fahrzeuge in ihrem spezifischen Umfeld sammeln und produzieren, sei es ein Leichtes, das Können auf alle Fahrzeuge zu übertragen.
"Google Waymo hat nur drei Millionen reale Meilen als Trainingsdaten", berichtet er, "doch auf dieser Grundlage schaffen sie durch Computersimulation acht Millionen Meilen am Tag." Die Google-Tochter arbeitet an der Technologie autonomer Autos und nutzt eine ähnliche Technologie wie die, auf deren Grundlage Googles Deep Mind innerhalb kurzer Zeit zum besten Go-Spieler wurde. Computer schaffen sich ihre Trainingsdaten selbst durch Simulation. Und man muss Seba Recht geben: Diese Technologie wurde schon häufig unterschätzt. Womöglich ist der Schritt von Level 4 zu Level 5 im autonomen Fahren kleiner, als viele denken.
Existenzielle Bedrohung?
Gerade die deutschen Autobauer werde diese unterschätzte Disruption hart treffen, sagt Seba: "Wenn 2021 nicht alle deine Autos elektrisch und autonom sind sowie auf Bestellung kommen, dann bist du draußen." Doch weder BMW noch VW oder Daimler nehmen diese "existenzielle Bedrohung" aus seiner Sicht ernst genug – auch wenn sie alle in jüngster Zeit große Investitionen in Elektromobilität angekündigt haben. "Sie glauben immer noch daran, dass Autos individuell besessen werden, und sie glauben immer noch, dass der Verbrennungsmotor 2030 überleben wird", orakelt Seba, "aber das ist Unsinn: 2030 ist das Ende der Disruption, nicht der Anfang." Deutsche Autobauer seien sehr gut darin, 2000 bewegliche Teile zusammenzubauen. "Aber all diese Fähigkeiten werden überflüssig: ein Elektromotor besteht aus maximal 20 Teilen – und diese berühren sich nicht einmal!"
Aber was ist die Lösung? Zuerst einmal müsse die Industrie akzeptieren, dass ein dramatischer Wandel bevorstehe, dramatischer als der vom Pferd zum Auto. Dazu gehört auch, das Konzept Auto auf den Kopf zu stellen – und das sei die Chance für den Markt: "Es geht darum, Computer auf Rädern zu bauen", erläutert Seba, "wer so denkt, für den kommen neue Chancen auf." So werde Software viel wichtiger, und daraus ergeben sich neue Geschäftsmodelle: Apps beispielsweise, perfekter Service. "Da sind Trillion-Dollar-Möglichkeiten, Geld zu verdienen, aber die klassische Produktion wird nicht dazu gehören."
An einer dieser Möglichkeiten arbeitet Amnon Shashua. Auch er, der Vorstandsvorsitzende und technische Direktor der Unternehmens Mobileye, wird nicht müde zu betonen, dass autonome Autos alternativlos sind und dass wir Fahrzeuge nicht mehr allzu lange privat besitzen werden: "Reguläre Autos stehen zu 96 Prozent herum, sie sind eine unserer größten Investitionen." Manche sagen, ohne Shashua gäbe es so bald keine autonomen Autos, so elementar sei sein Beitrag. Sein Unternehmen Mobileye produziert Chips für Kameras, die in Autos verbaut sind. Fast jedes neue Auto fährt inzwischen mit so einer Kamera – 80 bis 90 Prozent davon kommen von Mobileye, wie er beiläufig betont, und ihre Aufgabe ist es, Fahrerassistenzsysteme zu unterstützen. Abstandhalter, automatische Bremsvorgänge bei drohenden Kollisionen. Shashuas Technologie liefert dafür die Grundlagen.
Und das soll sie alsbald auch für das autonome Fahren tun, ist seine Vision: All die Autos mit Mobileye-Kameras senden die Bilder dieser Kameras dann an die Cloud, wo aus all diesen Daten mit Hilfe künstlicher Intelligenz eine Karte entsteht, die den Autos den Weg weist und die Ampeln, Fahrspuren, Radfahrer und Fußgänger erkennt. Und eine Software, die hilft zu berechnen, mit welcher Geschwindigkeit das Fahrzeug auf der Nachbarspur fährt und ob man selbst noch vor diesem einscheren kann oder lieber erst dahinter. Jedes Fahrzeug rechnet für sich aber mit Hilfe der Schwarmintelligenz. Shashua hat dafür bereits viele Partner gewonnen, unter anderem BMW und Volkswagen.
2021, davon ist auch Shashua überzeugt, soll das alles marktreif sein. Wenn, ja wenn da nicht die Regulierungsbehörden reinfunken, "dann haben wir viel Geld investiert und ein Problem". Die aus seiner Sicht zu akademische Diskussion derzeit macht ihm Sorgen – jene über ethische Dilemmata etwa, wenn es um die Frage geht, ob ein autonomes Auto bei einem unvermeidlichen Unfall eher das Leben seines Fahrers oder eines Fußgängers opfert. "Das ist unrealistisch und hilft nicht weiter."
Wird es der Markt richten?
Tony Seba hingegen macht sich keine Sorgen bezüglich der Regulierung. "Das wird der Markt richten", sagt er – wie zu allen anderen Fragen auch. Doch noch ist vieles nicht geklärt beim Thema autonomes Fahren, beispielsweise die Haftung. Zudem ringen die Entwickler mit undurchsichtigen algorithmischen Entscheidungen der modernen neuronalen Netze: Kann man sich auf diese verlassen, ohne zu wissen, wie sie zu Stande kamen? Die deutsche Regierung wird kaum so schnell autonomes Fahren genehmigen, solange nicht sicher ist, dass die Entscheidung eines autonomen Autos nachvollziehbar ist und klar ist, wer für Unfälle haftet. Auch das, wiederholt Seba, richtet der Markt: "Sobald ein einziges Land autonome Autos genehmigt hat und die Disruption dort in Gang kommt, wird es sich kein anderes Land mehr leisten können, diese nicht zu genehmigen, der Nachteil wäre zu groß." Wer zehnmal höhere Transportkosten hat als die Konkurrenz, wird schnell zum Verlierer: "Eine solche Technologie nicht zu genehmigen, würde dann bedeuten, deine Leute arm zu machen."
Und die deutschen Autobauer? Werden sich diese in Zukunft darauf zurückziehen, Apps zu entwickeln, wie Seba rät? In der Tat wird die Softwareseite immer wichtiger, diese Einsicht bestätigt auch Stefan Müller von Daimler/Car2Go – doch genau darin sei sein Konzern gut aufgestellt. "Uber und Co haben keine Ahnung von der Steuerung von Flotten", urteilt er – schließlich sei da jeder einzelne Fahrer für sein Fahrzeug und seine Route verantwortlich. Doch das ändert sich, wenn TAAS mit autonomen Fahrzeugen auf den Markt drängt: "Demand Prediction wird wichtig werden", betont Müller: Wann und wo werden in zehn Minuten oder in einer Stunde wie viele Fahrzeuge benötigt. "Darin haben wir Erfahrung. Car2Go steuert heute schon eine Flotte von 14 000 Autos. Das muss man können in Zukunft."
Zudem müsse man in der Lage sein, diese Flotte autonomer Autos zentral zu steuern. Vom Konzept der Schwarmintelligenz der Autos untereinander hält Müller nicht viel: "Das sind zu große Datenmengen. Jede Bewegung eines Fahrzeuges in einer Stadt hat schließlich Auswirkungen auf alle anderen." Car2Go hingegen mache das heute schon. Alle Fahrzeuge in allen 26 Städten werden zentral gesteuert im Daimler-Hauptquartier. Noch freilich müssen Fahrer beauftragt werden, die Fahrzeuge von einer Stelle an die andere zu fahren, wo sie mutmaßlich gebraucht werden. "Doch dieses Wissen über Demand Prediction haben im Moment wenige."
Gerade wenn die autonomen Flotten der Zukunft voll elektrisch sind, wovon Müller überzeugt ist und was nach seiner Einschätzung etwa 2030 der Fall sein wird, wird diese Planung komplexer: "Smart Maintenance wird dann ein großes Thema." Schließlich müssen die Fahrzeuge regelmäßig geladen und auch mal gewartet werden. Solche Simulationen für die Zukunft laufen schon heute auf den Daimler-Servern.
Wie schnell das alles am Ende geht? "Das kann wohl heute noch keiner sagen." Auch das Ende des Modells des Autobesitzes sieht Müller nicht. Im Unternehmen werde eher diskutiert, inwiefern das autonome Auto der Zukunft nicht das erweiterte Wohnzimmer sei – "und das mag man eventuell nicht mit anderen teilen". Zukunftsforscher des Konzerns sagten ein Nebeneinanderher beider Konzepte voraus: Transport als Service sowie eigenes Auto. Und auch auf den Verbrennungsmotor will Müller noch keinen Abgesang anstimmen. Schließlich gebe es bereits seit einigen Jahren Elektrofahrzeuge, doch diese seien von den Kunden wenig nachgefragt. Investitionen anderer Hersteller hatten sich in der Tat als Pleite herausgestellt. Daimler plane dennoch, bis 2020 in jedem Segment ein Elektrofahrzeug anzubieten – "wenn wir nicht glauben würden, dass das die Zukunft ist, wäre das ökonomisch unsinnig". Doch so schnell, wie die amerikanischen Forscher annehmen, werde es sicher nicht gehen.
Genau das, entgegnet Seba, sei aber doch das Wesen der Disruption: dass sie von den zentralen Playern unterschätzt wird. Was am Ende das richtige Timing war, wird die Geschichte zeigen.
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