Schienenverkehr: »Die Gründe für die Misere der Bahn sind teils 120 Jahre alt«
Die Deutschen beschweren sich gerne – besonders über die Unpünktlichkeit der Deutschen Bahn. Zu Recht? Ein Blick in Statistiken sagt: Ja. Im europäischen Vergleich kamen bereits im Jahr 2012 nur in Portugal und Litauen noch weniger Züge pünktlich an ihrem Zielort an als in Deutschland. Die Schweiz etwa will deshalb deutsche Fernverkehrszüge künftig nur noch bis Basel fahren lassen anstatt bis nach Zürich oder Chur. Die verspäteten ICEs bringen den fein abgestimmten Fahrplan der Schweizer Bahn aus dem Takt. Es ist also längst kein diffuses Gefühl mehr, dass bei der Deutschen Bahn etwas mächtig aus dem Gleichgewicht geraten ist – selbst dann, wenn gerade keine Gewerkschaft zum Streik aufruft. Zuletzt sagte der für den Personenfernverkehr zuständige Deutsche-Bahn-Vorstand Michael Peterson der »Augsburger Allgemeinen«, dass man nach Abschluss einiger Baustellen wieder eine Pünktlichkeitsquote von mehr als 80 Prozent erreichen wolle. Der Verkehrswissenschaftler Ullrich Martin von der Universität Stuttgart ist allerdings skeptisch, ob das ohne tief greifende Veränderungen und umfassende, flächendeckende Infrastrukturprojekte überhaupt möglich ist.
Herr Martin, wann sind Sie zuletzt Bahn gefahren und pünktlich angekommen?
Oh, da muss ich intensiv überlegen; zumal Pünktlichkeit bei genauer Betrachtung gar nicht leicht zu definieren ist. Muss mein gebuchter Zug pünktlich sein oder geht es nur um die Ankunftszeit? Auf einer Reise von Berlin nach Stuttgart mit einem Umstieg war ich vor Kurzem acht Minuten vor der geplanten Zeit am Zielort – aber ich bin nicht mit dem Zug gefahren, der auf meiner Fahrkarte stand. Der war nämlich so extrem verspätet, dass ich einen früheren, ebenfalls verspäteten ICE nehmen konnte.
Laut Statistik erreichten im Jahr 2022 nur 65 Prozent der Fernverkehrszüge ihr Ziel mit weniger als sechs Minuten Verspätung; so unpünktlich war die Deutsche Bahn noch nie. Und es wird gerade eher schlimmer als besser. Woran liegt das aus Ihrer Sicht?
Die Probleme der Deutschen Bahn sind sehr vielschichtig. Ich verfolge das jetzt von Berufs wegen seit mehr als 40 Jahren. Es ist immer das gleiche Szenario, das abläuft. Zuerst heißt es, die Infrastruktur sei furchtbar, alles sei marode und müsse dringend saniert werden. Im nächsten Schritt kommt dann der Ruf nach mehr Geld, um diese Maßnahmen umzusetzen. Dann stellt man fest, dass das auch nicht ausreicht. Und im dritten Schritt folgt dann eine Umstrukturierung des Bahnkonzerns, um zu zeigen, dass man etwas tut. Genau in dieser Phase befinden wir uns jetzt wieder. Zum 1. Januar 2024 wurden die DB Netz AG und die DB Station&Service AG zur neuen DB InfraGO AG zusammengeführt. Das »GO« steht für »gemeinwohlorientiert« und unterstreicht die Ausrichtung auf die Bedürfnisse der Bürger, der Wirtschaft und des Klimaschutzes. Aber die eigentlichen Ursachen werden dabei nicht hinreichend berücksichtigt.
Die da wären?
Die Gründe für die Misere im Schienenverkehr liegen schon sehr, sehr lange zurück. Seit mehr als 120 Jahren, also seit der Kaiserzeit, gibt es in Deutschland einen Innovationsstau bei der Bahn. Der ist sukzessive entstanden, weil es immer wieder Dinge gab, die wichtiger waren. Leider waren dies häufig Kriege oder Wirtschaftskrisen. Das hört sich dramatisch an, ist aber historisch belegt. Ein Beispiel: Eisenbahnwaggons im Güterverkehr werden heute nach wie vor mit der so genannten Schraubenkupplung verbunden. Man mag es nicht glauben, aber diese Technik wurde im Jahr 1840 entwickelt und hat sich seitdem nicht verändert. Die Wagen werden heute noch vollständig manuell miteinander ge- und voneinander entkuppelt – es muss also immer ein Rangiermitarbeiter zugegen sein, der die rund 15 Kilogramm schweren Eisenbügel auf den Haken der Lok wuchtet und die Bremsschläuche verbindet oder trennt.
Und es gab nie Modernisierungsversuche?
Doch, es gibt längst modernere, automatisierte Kupplungssysteme, etwa die digitale automatische Kupplung, kurz DAK. Selbst Russland ist da fortschrittlicher, die nutzen eine Weiterentwicklung der amerikanischen, halbautomatischen Willison-Kupplung. Aber die Einführung neuer Technik in Europa wurde mit dem Verweis auf Einheitlichkeit zwischen den Staaten oder aus wirtschaftlichen Gründen immer wieder verschoben. Ganz ähnlich sieht es aus bei der Technik der Stellwerke. Die ältesten deutschen Stellwerke sind ebenfalls mehr als 120 Jahre alt, und davon gibt es noch hunderte. Partiell gab es über die Jahrzehnte hinweg immer wieder Neuerungen, die aber nie flächendeckend eingeführt wurden. Entsprechend haben wir heute eine technische Vielfalt, die kaum noch beherrschbar ist. Ich selbst habe die Berechtigung, auf drei dieser Stellwerksgenerationen zu arbeiten – aber auch das ist schon grenzwertig. Inzwischen gibt es fünf Generationen. Primär haben wir keinen Personalmangel – viele Probleme sind hausgemacht. Die flächendeckende Einführung moderner Lösungen wäre einer der wichtigsten Punkte in der aktuellen Situation und zwingende Voraussetzung für eine effiziente Digitalisierung der Betriebsprozesse.
Das würde aber ja bedeuten, dass unzählige Streckenabschnitte sukzessive gesperrt und umgerüstet werden müssten. Produziert das nicht neue Probleme?
Ja, aber nur kurzzeitig. Dafür gäbe es hinterher zahlreiche Effizienzsteigerungen. Ich bin immer wieder erstaunt, dass die Bevölkerung solche Argumente akzeptiert. Es ist zum Beispiel völliger Quatsch, dass Zugverspätungen mit planmäßigen Baustellen zusammenhängen – das ist ein Widerspruch in sich. Denn die Fahrzeitverlängerungen, die durch Baustellen entstehen, sind in die eigens dafür erstellten Baufahrpläne eingetaktet. Rein rechnerisch müssen selbst unter Annahme eines perfekten Netzzustands bei knapp 40 000 Streckenkilometern und einer durchschnittlichen Nutzungsdauer von 40 Jahren ohnehin jedes Jahr 1000 Kilometer Strecke in Stand gesetzt werden. Das ist einfacher Dreisatz.
»Hätten wir heute andere Kupplungssysteme, könnten Güterzüge schneller beschleunigen und abbremsen, sie könnten größere Lasten bewegen und schneller Fahrtrichtungswechsel vollziehen«
Das Schienennetz wurde in den 1990er Jahren im Zuge der großen Bahnreform zurückgebaut. Unrentable Strecken, Weichen und Bahnhöfe wurden stillgelegt. Fällt uns das heute auf die Füße?
Das lässt sich so pauschal nicht sagen. Die Ideen, die dahintersteckten, waren teilweise berechtigt. Bewegliche Elemente wie Weichen sind häufig Störungsursache. Es ist also eine komplexe Optimierungsaufgabe, so viele Weichen wie nötig zu haben, um das Streckennetz flexibel zu halten, aber so wenig wie möglich, um das Störpotenzial zu minimieren. Natürlich braucht man Überholmöglichkeiten, weil Güter- und Regionalzüge deutlich langsamer unterwegs sind als der Fernverkehr. Aber da sind wir wieder bei der Kupplung. Hätten wir heute andere Kupplungssysteme, könnten Güterzüge schneller beschleunigen und abbremsen, sie könnten größere Lasten bewegen und schneller Fahrtrichtungswechsel vollziehen. Und wenn die Geschwindigkeitsunterschiede zwischen Zügen auf der Strecke kleiner sind, muss auch weniger überholt werden. Das heißt, ich könnte auf derselben Infrastruktur, mit denselben Fahrzeugen und demselben Personal mehr Menschen und mehr Güter bewegen.
Die Kupplung scheint ein Symbol für eine Vielzahl der Probleme im Schienenverkehr zu sein. Wäre es da nicht sinnvoll, möglichst rasch diese eine große Investition zu tätigen, alle Wagen umzurüsten und damit an anderen Stellen viel Geld einzusparen?
Ja, so ist es, und das lässt sich rechnerisch zeigen. Haben wir sogar mal gemacht. Aber für eine flächendeckende Einführung müsste jemand Verantwortung übernehmen und zur Tat schreiten. Würden sich beispielsweise drei oder vier große Eisenbahngesellschaften in Europa zusammentun und sagen, wir machen das jetzt, würden sicherlich viele kleinere nachziehen. Leider verstecken sich die Bahnunternehmen aber hinter der Politik oder hinter europäischen Bestimmungen – und so fehlt nicht nur der notwendige Druck, sondern es bleiben auch angemessene Förderprogramme aus.
Aber die Bundesregierung hat große Pläne mit der Bahn – zumindest auf dem Papier. Sie will die Verkehrsleistung im Fernverkehr bis 2030 verdoppeln, auch sollen immer mehr Güter vom Lastwagen auf die Schiene wechseln. Wie soll das gehen, ohne dass das gesamte System völlig entgleist?
Also zunächst einmal halte ich es für illusorisch, die Bahninfrastruktur in Deutschland umfangreich zu erweitern. Das hat auch mit dem Föderalismus zu tun. Man braucht von Stuttgart nach Bremen gegenwärtig knapp sechs Stunden – unter anderem weil der Zug im Ruhrgebiet zur S-Bahn wird und viel zu oft hält. Aber Deutschland ist außerdem sehr dicht besiedelt. Hier leben rund 230 Personen auf einem Quadratkilometer – in China sind es nur knapp 150. Zudem leben die Menschen in Deutschland sehr weit verstreut. Es gibt wenig große Metropolen, in denen sich die Einwohner konzentrieren. Und dann gibt es noch Kuriositäten wie die eingleisige Strecke zwischen Lünen Preußen und Münster. Das ist ein gut 45 Kilometer langes Stück der wichtigen Hauptstrecke vom Ruhrgebiet nach Norddeutschland. Die wurde vor ziemlich genau 100 Jahren zweigleisig geplant, aber aus finanziellen Gründen zunächst nur eingleisig gebaut. Daran hat sich trotz anders lautender Pläne bis heute nichts geändert. Jeder verspätete Zug auf der Strecke zwingt andere Züge in beiden Richtungen zum Warten. Das summiert sich über den Tag auf.
Und es kommt zu einer Thrombose im Schienennetz.
Genau. Es gab immer mal wieder Bemühungen, solchen Verkehrsinfarkten zu begegnen, wie etwa ein Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz, aber das ist alles immer sehr halbherzig. Und wenn dann irgendwo entlang der Strecke der Schwanz einer Eidechse entdeckt wird, verzögert sich ein Bauvorhaben gleich um mehrere Jahre oder wird ganz abgeblasen.
Ich bin erst kürzlich in Frankreich von Paris nach Bordeaux gefahren – 500 Kilometer in nur zweieinhalb Stunden, weil der Zug mit annähernd 300 Kilometern pro Stunde nonstop durchrauscht. Wurden solche Hochgeschwindigkeitsstrecken auch mal für Deutschland erwogen?
Das ist ein jahrzehntealtes Thema, nicht nur in Deutschland. Wie legt man bestimmte Strecken aus? Da sind wir wieder beim Thema Zersiedelung. Muss ein Zug von München nach Paris, der über Stuttgart fährt, generell auch in Ulm halten? Nichts gegen Ulm, das ist eine sehr schöne Stadt, doch in europäischen Dimensionen gedacht, ist es vielleicht nicht die Art von Metropole, die vollumfänglich an ein europäisches Hochgeschwindigkeitsnetz angebunden sein muss. Aber es gibt in Deutschland ebenfalls Strecken mit einer Streckengeschwindigkeit von mehr als 250 Kilometern pro Stunde, etwa zwischen Frankfurt und Köln, zwischen Mannheim und Stuttgart sowie zwischen Erfurt und Leipzig – nur eben nicht durchgängig wie in Frankreich.
Wie sieht es denn auf europäischer Ebene mit der Kompatibilität der verschiedenen Zug- und Schienensysteme aus?
In Europa gibt es viele historisch gewachsene nationale Bahnsysteme und unterschiedliche technische Standards. Deshalb war bei internationalen Zügen oft ein Lokwechsel im Grenzbahnhof nötig. Aber die Europäische Union fördert bereits die Einführung einheitlicher Technologien, wie etwa ein europäisches Zugsicherungssystem namens European Train Control System, abgekürzt ETCS, das über Funkschnittstellen zwischen Schiene und Fahrzeug beispielsweise die Geschwindigkeit überwacht und ob ein Zug einen bestimmten Gleisabschnitt befahren darf. Damit erübrigen sich ortsfeste Signale, und die Kosten für die Instandhaltung der Infrastruktur sinken. Die Schweiz und Luxemburg haben schon weitgehend umgerüstet. In Deutschland erfolgt dies deutlich langsamer, weil erst in den 1980er Jahren ein selbst entwickeltes System ausgerollt wurde, das gut funktioniert. Für neue Hochgeschwindigkeitsstrecken ist ETCS aber mittlerweile durch EU-Recht vorgeschrieben.
»Da die Bahn spurgeführt und fahrweggelenkt ist, ist sie das Verkehrsmittel, das sich am besten automatisieren ließe«
Wäre es denn mit Blick auf den sich zuspitzenden Fachkräftemangel denkbar, den Schienenverkehr in Zukunft zu automatisieren und Züge autonom fahren zu lassen? Wie weit ist Deutschland da?
Im Gespräch ist vieles. Dadurch, dass die Bahn spurgeführt und fahrweggelenkt ist, ist sie natürlich prädestiniert dafür. Sie ist das Verkehrsmittel, das sich am besten automatisieren ließe. In der Praxis gibt es das schon – im kanadischen Vancouver etwa. Auch in Nürnberg fahren manche U-Bahnen seit mehr als zehn Jahren führerlos, sogar im Mischbetrieb mit personalgeführten Zügen. Das ETCS-System ist bereits darauf ausgelegt, das eines Tages in größerem Stil zu ermöglichen.
Aber?
Es gibt zwei wesentliche Einschränkungen. In beiden zuvor genannten Fällen handelt es sich um abgeschlossene Systeme ohne Berührungspunkte mit anderen Verkehrsmitteln. So gibt es im deutschen Schienennetz viel zu viele Bahnübergänge, die sich nicht ohne Weiteres in die Automatisierung einbeziehen lassen. Und die Bahnhöfe, bei denen die Bahnsteige direkt durch Zugänge über die Gleise erreicht werden, sind ebenfalls nicht darauf ausgelegt. Was mich aber ärgert, ist, dass sich niemand zielorientiert damit beschäftigt, wie sich diese Probleme lösen lassen. Andererseits darf man nicht vergessen: Es braucht zwar vielleicht keinen Lokführer mehr; dennoch ist Personal zum Beispiel für die Überwachung der einzelnen Zugfahrten sowie für Wartung und Instandhaltung nötig, das möglichst schnell eingreifen können muss, wenn beispielsweise eine Tür klemmt. Damit käme ich womöglich nur auf eine Einsparung des Triebfahrzeugpersonals von 30 bis vielleicht 50 Prozent.
Immerhin. Das würde doch eine enorme Entlastung für diese Berufsgruppen bedeuten.
Ja, das stimmt. Ich muss leider noch mal auf die Kupplung zu sprechen kommen. Mit der Einführung einer automatischen Kupplung würde man auf einen Schlag mehrere hundert Mitarbeiter im Rangierdienst einsparen, und das ist sogar noch konservativ gerechnet. Rangierarbeiter ist ein Beruf, den heute kaum noch jemand machen will. Es sind meistens Männer, die bei Wind und Wetter zwischen Lok und Waggon herumkraxeln müssen. Die könnten dann an anderen Stellen eingesetzt werden.
»Sie können vieles von dem, was ich eben gesagt habe, auf der Internetseite des Wissenschaftlichen Beirats nachlesen. Wir können aber natürlich niemanden zwingen, das auch umzusetzen«
Sie sitzen seit 2018 im Wissenschaftlichen Beirat beim Bundesminister für Digitales und Verkehr. Inwieweit haben Sie da die Möglichkeit, auf solche Entscheidungen einzuwirken?
Sie können vieles von dem, was ich eben gesagt habe, auf der Internetseite des Beirats nachlesen. Dort gibt es veröffentlichte Papiere mit den entsprechenden Empfehlungen, die den verschiedenen Verkehrsministern vorgelegt wurden. Wir können aber natürlich niemanden zwingen, das auch umzusetzen.
Ein anderes Thema, das immer mal wieder herumschwirrt, ist der Deutschlandtakt. Ursprünglich sollte er 2030 kommen, nun heißt es 2070. Warum dauert das so lange?
Das ist die falsche Frage. Sie sollten nicht fragen, warum das so lange dauert, sondern: Kann das unter den gegenwärtigen Randbedingungen überhaupt funktionieren? Und ich würde sagen: Nein, kann es derzeit nicht. Da wird eine völlig falsche Erwartungshaltung geweckt. Ich habe den Eindruck, man beschäftigt sich politikseitig gar nicht so intensiv damit, wie man es eigentlich müsste. Es heißt dann immer, dass der integrale Taktfahrplan, wie es fachsprachlich heißt, in der Schweiz doch gut funktioniere. Ja, aber die Schweiz ist gerade mal so groß wie Baden-Württemberg. Und die Anforderungen steigen überproportional mit zunehmender Fläche. Zudem hat die Schweiz einen dominierenden Knoten im Personenverkehr, nämlich Zürich. Deutschland hat mehrere. Und dann sprachen wir ja noch über Hochgeschwindigkeitsstrecken. Die Schweiz hat sich in der Vergangenheit bewusst dagegen entschieden, Züge schneller als 200 Kilometer pro Stunde fahren zu lassen. Dadurch sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass sich Züge wegen unterschiedlicher Geschwindigkeiten gegenseitig behindern.
»Trotz Trickserei schaffen wir es aber in Deutschland heute nicht mal, eine halbwegs annehmbare Zuverlässigkeit im konventionellen Zugbetrieb zu erreichen«
Und die Zuverlässigkeit der Züge ist in der Schweiz höher.
Exakt. Das muss sie auch sein, damit eine integrale Taktung überhaupt funktioniert. Trotz Trickserei schaffen wir es aber in Deutschland heute nicht mal, eine halbwegs annehmbare Zuverlässigkeit im konventionellen Zugbetrieb zu erreichen. Von der Zuverlässigkeit, die wir für einen integralen Taktfahrplan bräuchten, sind wir meilenweit entfernt. Kurzum: Ich gehe nicht davon aus, dass es unter den derzeitigen Gegebenheiten jemals zu einem vollständigen Deutschlandtakt kommen wird.
Was meinen Sie mit Trickserei?
Ich sagte ja bereits, dass die Züge bei planmäßigen Bauarbeiten nicht unpünktlich werden dürfen. Es gibt nämlich einen regelhaften Bauzuschlag, der in den Fahrplan eingearbeitet wird. Also: Wie viel Zeit benötigt der Zug wegen der baustellenbedingten Behinderungen zusätzlich? Als es immer schlimmer wurde mit der Unpünktlichkeit der Bahn, hat man sich einen Trick einfallen lassen. Es wurde damit begonnen, auf allen Strecken in Abhängigkeit vom Streckenzustand zusätzliche Zeitzuschläge in den Fahrplan einzuarbeiten, selbst wenn dort gar keine Bauarbeiten stattfinden. Einmal davon abgesehen, dass dadurch die planmäßigen Reisezeiten länger werden, führt das tendenziell dazu, dass die Züge umso pünktlicher werden, je schlechter der Streckenzustand ist, da nicht alle Züge verspätet sind und der Anteil pünktlicher Züge ansteigt. Das ist doch unfassbar.
Und trotz dieses Tricks ist die Bahn so unpünktlich wie nie.
Ja, mittlerweile ist es wohl so schlimm geworden, dass es sich nicht mehr kaschieren lässt.
Sie beschäftigen sich auch mit dem Einsatz von künstlicher Intelligenz im Schienenverkehr. Können Sie mal ein Beispiel nennen?
Sie kennen ja vielleicht diese Messfahrzeuge. Das ist ein Zug, der mit ganz viel Messtechnik ausgerüstet ist und in regelmäßigen Zeitintervallen das Streckennetz abfährt, um Schwachstellen zu finden. Aber während dieser Fahrten, kann dort natürlich keine reguläre Zugfahrt stattfinden. Besser wäre es also, wenn die Züge, die ohnehin unterwegs sind, die Strecke inspizieren würden. Wir haben deshalb in einem Forschungsprojekt Standardfahrzeuge mit einfacher Sensortechnik ausgestattet, die beispielsweise Winkelgeschwindigkeit und Vertikalbeschleunigung misst. Aus dem entstehenden Datenwust können wir dann mit künstlicher Intelligenz die benötigten Informationen herausfiltern. Möglicherweise lassen sich auf diese Weise Beeinträchtigungen bereits finden, wenn sie noch im Entstehen begriffen sind. Das könnte den Reparaturaufwand insgesamt senken. Das wäre jetzt mal so ein Beispiel. Aber es gibt viele weitere Einsatzmöglichkeiten, wie etwa einen sich abzeichnenden Ausfall einer Weiche bereits zu diagnostizieren, bevor die Störung eintritt.
Es ist mit Sicherheit keine leichte Aufgabe, den über die Jahrzehnte entstandenen Innovations- und Investitionsstau bei der Bahn zu beseitigen. Aber haben Sie denn überhaupt noch Hoffnung auf Besserung?
Ja, Hoffnung habe ich schon. Aber um den aktuellen Innovationsstau abzubauen, braucht es zunächst mal eine durchsetzungsstarke Führung bei der Bahn. Dabei sollte der flächendeckende Einsatz neuer sowie seit Langem bekannter Technologien im Mittelpunkt stehen, um Prozesse wieder beherrschbar zu machen. Ohne in das allgemeine Politik-Bashing einstimmen zu wollen, liegt es dennoch auf der Hand, dass eine verkehrspolitische Unterstützung wichtig ist, wenn die Erwartungen an eine leistungsfähige, kundenorientierte Bahn erfüllt werden sollen. So könnte beispielsweise das Aufgabenspektrum des Eisenbahn-Bundesamtes derart erweitert werden, dass bei Entscheidungen aktiv darauf hingewirkt wird, das System Bahn innovativ weiterzuentwickeln. Die punktuelle Einführung von Spitzentechnologie wird jedenfalls aus vielen bereits genannten Gründen die derzeitigen Probleme nicht lösen, sondern eher noch verstärken.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.