Sternengeschichten Folge 613: Das abenteuerliche Leben der Quallengalaxien
Wer schon einmal eine Qualle gesehen hat, die nicht tot und matschig irgendwo am Strand liegt, sondern durchs Meer eher schwebt anstatt zu schwimmen, wird zustimmen: Diese Lebewesen sehen nicht so aus, als würden sie auf die Erde gehören. Mit ihren bunten Farben, transparenten Körpern, Tentakeln und wallend-schwebenden Bewegungen wirken sie definitiv außerirdisch und nicht von dieser Welt. Nun gibt es natürlich absolut keine Hinweise, dass es sich bei Quallen tatsächlich um Aliens handelt. Diese Tiere sind Teil des Lebens auf der Erde und so wie alles andere durch die Evolution entstanden. Und damit lassen wir die Biologie jetzt beiseite. Die ist zwar durchaus spannend, aber ich will etwas über Astronomie erzählen. Und so spektakulär es auch wäre, wenn ich jetzt von außerirdischen Quallen in den Ozeanen fremder Planeten berichten könnte: Darum geht es leider nicht. Es geht stattdessen um Galaxien, und zwar eine ganz besondere Art von Galaxien, die man »Jellyfish galaxies« oder auf deutsch »Quallengalaxien« nennt.
Wenn man sich ein Bild von so einer Galaxie ansieht, dann sieht man schnell, warum sie so bezeichnet werden. Ich empfehle, im Internet nach einem Bild der Galaxie mit der Bezeichung IC 5337 beziehungsweise JW100 zu suchen. Oder die Galaxie ESO 137-001. In beiden Fällen sieht man eine Galaxie, die auf den ersten Blick in etwa so aussieht, wie man sich das vorstellt: Eine große Scheibe aus Sternen. Auf den zweiten Blick erkennt man aber tentakelartige Auswüchse, die blau und rosa-rötlich leuchten und sich von der Scheibe weit hinaus ins All erstrecken. Insgesamt schauen die Galaxien tatsächlich so aus wie gigantische Quallen, die durch die Weiten des Weltraums treiben.
Abgesehen vom äußerst ansprechenden ästhetischen Eindruck dieser Galaxien erzählen uns diese kosmischen Quallen aber auch einiges darüber, was einer Galaxie im All so passieren kann. Die Jellyfish-Galaxien sind ein sehr beeindruckender Beleg dafür, dass selbst so etwas gewaltiges wie eine Galaxie aus hunderten Milliarden von Sternen nicht isoliert von ihrer Umgebung existieren. Davon kann man durchaus überrascht sein, denn immerhin sind Galaxien ja nicht nur enorm groß; zwischen ihnen ist auch enorm viel Platz. Unsere Milchstraße hat zum Beispiel eine Ausdehnung von circa 100.000 Lichtjahren. Bis zur nächsten Nachbargalaxie, der Andromeda, sind es aber immer noch gut 2,5 Millionen Lichtjahre. Da kann man schon auf die Idee kommen, dass da keinerlei Einflussmöglichkeit zwischen den Galaxien besteht.
Die Realität sieht aber anders aus. Ich habe in diversen Folgen ja schon davon erzählt, dass Galaxien eben gerade keine isolierten Objekte sind. Sie bilden Haufen und Gruppen, die durch die Gravitationskraft zusammengehalten werden, die die Galaxien aufeinander ausüben. Die Milchstraße und die Andromeda sind zum Beispiel mit jeder Menge anderer Galaxien Teil der »Lokalen Gruppe«, von der ich in Folge 371 ausführlich erzählt habe. Und diese Galaxienhaufen finden sich zu noch größeren Ansammlungen zusammen, den Superhaufen. Und ich habe auch schon oft erzählt, dass das leere All nicht wirklich komplett leer ist. Zwischen den Sternen, zwischen den Galaxien und zwischen den Galaxienhaufen ist zwar nicht viel, aber eben nicht Nichts. Dort finden wir die interstellare Materie oder, im Falle der Galaxienhaufen, das sogenannte Intracluster-Medium, von dem ich in Folge 579 mehr erzählt habe. Das sind zwar, vereinfacht gesagt, nur ein paar Atome hier und da, aber auch das kann Auswirkungen haben, wie wir noch sehen werden.
Also: Die Galaxien beeinflussen sich erstens gegenseitig durch ihre Gravitationskraft und bilden Gruppen. Und zweitens ist der Raum zwischen ihnen nicht leer. Schauen wir also mal so eine Galaxie an, die sich in einem Galaxienhaufen befindet. Sie bewegt sich, angetrieben durch die Gravitationskraft der anderen Galaxien und sie bewegt sich durch das Intracluster-Medium, also das extrem dünne Gas, das sich zwischen den Galaxien befindet. Was jetzt passiert, kennen wir aus dem Alltag. Dazu kann man sich zum Beispiel auf ein Fahrrad setzen und – gerne etwas schneller – losradeln. Dann wird man den Fahrtwind spüren und der wird einem die Haare nach hinten wehen lassen (sofern man Haare in ausreichender Länge hat natürlich). Galaxien haben keine Haare, aber die Sache mit dem Fahrtwind ist eine gute Analogie. Die Teilchen aus dem Intracluster-Medium treffen auf die interstellare Materie. Also all das Zeug, dass sich IN den Galaxien, zwischen den Sternen befindet. Das wird quasi gebremst und bleibt zurück, während die Galaxie sich weiter durch das Intracluster-Medium bewegt. So entstehen lange Ströme aus Gas und es ist Gas, dass durch diesen Vorgang ordentlich durchgewirbelt worden ist. Das kann dazu führen, dass sich das Gas zusammenballt zu Gaswolken, die dann kollabieren und so dicht werden, dass Kernfusion einsetzt. Oder anders gesagt: In den Gasströmen, die die Galaxie aufgrund des "Fahrtwindes" hinter sich her zieht, leuchten junge Sterne auf. So entstehen die bunten Tentakel der Jellyfish-Galaxien.
Etwas weniger poetisch wird dieser Prozess in der Astronomie als »Ram Pressure Stripping« bezeichnet, was auf deutsch so viel wie »Staudruck-Abtragung« bedeutet, aber eigentlich nie auf deutsch verwendet wird. Die ersten, die diesen Vorgang wissenschaftlich beschrieben haben, waren die amerikanischen Astronomen James Gunn und Richard Gott in einer Arbeit aus dem Jahr 1972. Eine detaillierte Untersuchung der Galaxien in weit entfernten Galaxienhaufen war aber erst später mit besseren Teleskopen möglich. Im Jahr 2014 haben Harald Ebeling, Lauren Stephenson und Alastair Edge Bilder ausgewertet, die das Hubble-Weltraumteleskop von Galaxienhaufen gemacht hat. Dabei fanden sie jede Menge sehr gute Bilder von Galaxien, die deutliche Anzeichen von sehr starken Ram Pressure Stripping zeigen. In ihrer Arbeit schreiben sie dazu: »Aus offensichtlichen Gründen werden wir sie im folgenden als ›Jellyfish-Galaxien‹ bezeichnen.«
Die Bilder der Galaxien sind zwar im Vergleich mit den Aufnahmen aus späteren Jahren eher unscheinbar, aber man kann auch da die Ähnlichkeit mit Quallen erkennen. Seitdem sind Galaxien dieser Art auch in der Wissenschaft als »Jellyfish-Galaxien« bekannt und sie sind nicht nur schön, sondern auch wichtig, wenn wir verstehen wollen, wie so eine Galaxie funktioniert. Wenn wir in einem Haufen zum Beispiel sehr viele dieser Quallengalaxien beobachten, dann können wir davon ausgehen, dass auch das Intracluster-Medium entsprechend dicht ist. Je mehr Gas durch das Ram Pressure Stripping aus den Galaxien entfernt ist, desto weniger neue Sterne können dort entstehen. Andererseits kann der »Fahrtwind« auch Gas in den Galaxien komprimieren und so die Sternentstehung anregen. Auf jeden Fall ist aber klar: Jellyfish-Galaxien machen eine Entwicklung durch, die andere Galaxien nicht durchlaufen. Ihr Leben wird, etwas vereinfacht gesagt, quasi abgekürzt, die Sternentstehung läuft schneller als üblich und sie verlieren viel von dem Material, das für die Entstehung neuer Sterne nötig ist. Jellyfish-Galaxien zeigen uns, dass es auch für Galaxien unfreundliche Gegenden im Universum gibt. Aber immerhin sorgt der wilde Ritt durch die Galaxienhaufen dafür, dass wir ein paar extrem schöne Bilder machen können.
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