Quallen als Nahrung: Meeresfrüchte mit Glibberfaktor
Im Jahr 2014 suchte eine massive Quallenplage Süditalien heim. 400 Tonnen Lungenquallen tummelten sich auf einem Quadratkilometer – ein Teppich aus den Tieren bedeckte das Meer im Golf von Tarent. Am Strand standen vermutlich viele entsetzte Touristen, aber auch Schaulustige, darunter Antonella Leone, Biochemikerin am italienischen Forschungsinstitut für Nahrungsmittelproduktion (CNR-ISP) in Lecce. »Was tun mit den ganzen Quallen?«, fragte sie sich damals. Die Antwort lag für die Wissenschaftlerin nahe: »Sie könnten doch als Nahrungsmittel dienen.«
In Europa sind Quallen fast nur als Plagegeister bekannt, die so manchen Strandtag verderben. Und selbst wenn man Appetit darauf verspürte, zu kaufen gibt es sie hier nicht, schließlich fallen sie unter die Novel-Food-Verordnung der EU. Um sie zu produzieren und zu handeln, müsste man also eigens einen Antrag stellen. Manche asiatische Feinkostläden allerdings verkaufen Quallen als getrocknete Importware bereits heute. Tatsächlich sind einige Quallenarten vor allem in China, aber auch in Japan, Malaysia und Thailand ein ganz normales Lebensmittel, teils sogar eine Delikatesse. In China sollen die Meerestiere bereits seit 1700 Jahren den Speiseplan bereichern. Ihnen werden gesundheitsfördernde Wirkungen nachgesagt, etwa gegen Arthritis und andere entzündliche Erkrankungen.
Weltweit werden laut Schätzungen der University of British Columbia aus dem Jahr 2016 etwa 750 000 Tonnen Quallen aktiv gefischt. Es gäbe jedoch noch viel mehr Kapazitäten, schließlich landen Medusen, also die erwachsenen Quallen, oft im Beifang großer Fischernetze, werden aber bislang aussortiert und verworfen. Durch die Überfischung von Tun- und Schwertfischen, ihren originären Fressfeinden, werden sie immer mehr. Auch die Erderwärmung und die damit steigenden Wassertemperaturen sind eine Art Dünger für Mikroalgen, eine der Nahrungsgrundlagen der Quallen. Zu viele können so wiederum die Meeres-Biodiversität gefährden. Die teils sehr giftigen Tentakel sind für viele Fische gefährlich, zudem fressen Quallen Fischlarven. All das spricht für eine Nutzung als Nahrungsmittel, was wiederum den Fischkonsum senken könnte und den Druck aus dem überhitzten Fischereisystem nehmen würde. »Es ist wichtig, dass wir unsere Nahrungsquellen diversifizieren und Rohmaterialien mit geringeren Umweltauswirkungen erforschen«, sagt Leone.
Quallenfarmen an Land
So wird etwa versucht, Quallen auf dem Land in speziellen Anlagen zu produzieren. Damit wäre man unabhängig von weit entfernten oder verschmutzten Küstengewässern. Der Meeresbiologe Andreas Kunzmann vom Leibniz-Zentrum für Marine Tropenforschung (ZMT) in Bremen forscht unter anderem an der Zucht der Mangrovenqualle Cassiopea andromeda. Sie bildet unter Lichteinfluss tierisches Protein. In Aquakultur lassen sich außerdem die Inhaltsstoffe optimieren. »Die Medusen sollen mit Hilfe von modernster LED-Technik in einem urbanen Umfeld kultiviert werden, um in Zukunft zu einer lokalen und nachhaltigen Proteinversorgung beizutragen«, so Kunzmann. Zudem ist das Fangen der Tiere im Becken einfacher, da sie in großen Netzen im Meer gerne entwischen oder zerdrückt werden. Egal, wie produziert: Die Welternährungsorganisation FAO hat sich im März 2022 in einem Report für den Konsum von neuartigen Lebensmitteln wie Quallen ausgesprochen, um die Welternährung zu sichern.
Antonella Leone und ihr Team vom europäischen Forschungsprojekt GoJelly, an dem 16 Partner beteiligt sind und mit dem auch die ZMT-Wissenschaftler kooperieren, widmen sich seit 2018 gleich mehreren Themen parallel. Sie erforschen etwa, welche europäischen Quallenarten überhaupt für den Verzehr geeignet sind. Das sind zum Beispiel Rhizostoma pulmo, die Lungenqualle, sowie Pelagia noctiluca, die Leuchtqualle. Die italienischen Forscher fahren dafür jedes Jahr im Sommer mit kleinen Booten aufs Meer und fangen die Quallen mit Netzen. In der Fachzeitschrift »Nature« berichtete Leone kürzlich von ihrer Faszination für die Tiere: »Manche Quallenarten lassen sich einfach in den Wellen und mit der Strömung treiben. Aber die Lungenqualle ist ein aktiver und sehr eleganter Schwimmer.«
Zurück im Labor scannen die Forschenden dann das Quallenfleisch auf mögliche »Gesundstoffe«. Tatsächlich scheinen Quallen eine Art Superfood zu sein: kaum Kalorien, dafür hochwertiges Eiweiß, wenig Fett und Kohlenhydrate. Auch Mineralstoffe wie Kalzium, Kalium und Magnesium stecken in Quallenfleisch. »Zwar bestehen Quallen zu rund 97 Prozent aus Wasser, ihre Trockenmasse hat aber ein interessantes Nährwertprofil, das dem anderer Meeresfrüchte gleicht«, sagt Kunzmann. »Das Eiweiß hat einen hohen Anteil an essenziellen Aminosäuren.« Das heißt, dass es vom menschlichen Organismus besonders gut verwertbar ist.
Wie gesund sind Quallen wirklich?
Die Fettqualität kann sich ebenfalls sehen lassen: Es finden sich viele gesunde, langkettige Omega-3-Fettsäuren, die nur in Meerestieren und -pflanzen vorkommen. Und die Qualle kann noch mehr: Die Forscher von GoJelly fanden große Mengen an antioxidativen und entzündungshemmenden Substanzen in den Nesseltieren. Verantwortlich dafür scheinen Kollagene zu sein, die zu bioaktiven Peptiden abgebaut werden und den Blutdruck senken und das Wachstum von Tumorzellen stoppen sollen. Zukünftig sollen diese Wirkstoffe weiter auf ihr tatsächliches Gesundheitspotenzial im Menschen abgeklopft werden.
Bevor die ungewöhnliche Speise aber auf europäischen Tellern landen darf, müssen auch Risiken geklärt sein, schreiben Forscher der Universität Florenz in einem Übersichtsartikel aus dem Jahr 2020. Zum Beispiel verderben die frisch gefangenen Quallen schnell, pathogene Keime könnten sich ausbreiten. Erste Analysen fanden jedoch keine potenziellen Krankheitserreger wie Salmonellen auf Speisequallen. Zudem müssen die Tiere frei von Allergenen sein. Es sind bereits einige Fälle von Anaphylaxien nach Quallenkonsum dokumentiert. Es muss erst noch mehr Forschung geben, um das allergene Risiko besser einschätzen zu können, fordern die italienischen Mediziner.
Klar ist auch, dass Quallen für den menschlichen Verzehr schadstofffrei sein müssen, denn je nach Wasserqualität im Fanggebiet können sie etwa mit Schwermetallen belastet sein. Ein entsprechendes Screening muss also die Produktion begleiten. Bei giftigen Arten gilt es, die schädlichen Substanzen unschädlich zu machen. Das geht zum Beispiel, indem man die Quallen einfriert. Da in Asien unter anderem Alaun mit Aluminium verwendet wird, müssen hier für den europäischen Markt Anpassungen vorgenommen werden. Denn: Die Verwendung von Alaun-Salz bei der Lebensmittelherstellung ist nicht erlaubt, Aluminium steht immerhin im Verdacht, neurodegenerative Krankheiten zu fördern. Dänische Forscher um Mie Pedersen haben im Jahr 2017 gezeigt, dass anstatt Alaun andere, unbescholtene Salze wie Eisenchlorid eingesetzt werden können, um die gelartige Struktur in eine bissfeste umzuwandeln.
Quallen-Carpaccio mit Portulak
Die größte Hürde jedoch sind die Vorurteile der europäischen Konsumenten. Ob neuartige Lebensmittel wie Quallen oder Insekten akzeptiert werden, hängt von kulturellen, aber auch individuellen Faktoren ab. Menschen, die sich generell leicht ekeln, sind seltener bereit, Quallen klein geschnippelt im Salat zu kosten. Personen, die ungern Neues ausprobieren, werden wohl ebenfalls nicht so leicht überredet werden können. Was der Bauer nicht kennt, isst er eben nicht – Wissenschaftler nennen das »Neophobie«. Der Grund: Die Abscheu vor unbekanntem Essen schützte den Menschen einst vor Vergiftung. Vor allem schleimige Konsistenzen weisen auf ein möglicherweise lebensbedrohliches Hygieneproblem hin, weil krank machende Keime darauf haften könnten. Dennoch gibt es Akzeptanz in gewissen Milieus: Laut einer Studie von Leone mit mehr als 1400 italienischen Konsumenten werden Quallen als Nahrung am ehesten von jungen Menschen probiert, die mit der Meeresumwelt vertraut sind. Auch Personen mit hohem Bildungsniveau sowie Weltenbummler sind in Sachen Kulinarik wagemutiger.
Um noch mehr Konsumenten zu überzeugen, suchen Forschende darum nach neuen Zubereitungsarten, weil der europäische Gaumen die gummiartige Konsistenz der asiatisch präparierten Quallenmasse offenbar wenig goutiert. »Es vergleicht sich mit übergartem Tintenfisch oder nicht weich gekochten Kutteln«, erläutert Thomas Vilgis, Lebensmittelphysiker am Max-Planck-Institut für Polymerforschung in Mainz. »Die Akzeptanz für diese ungewohnte Textur ist in unserem Kulturkreis nicht so hoch.«
Gemeinsam mit Mie Pedersen hat er eine Methode erarbeitet, wie man aus der glibberigen Masse durch Einlegen in Alkohol zuerst ein festes und durch anschließende Trocknung ein knuspriges Geschmackserlebnis machen kann. »Wie bei einem Kartoffelchip«, sagt Vilgis. »In diesem Fall ist durch die bekannte knusprige Struktur und feine Meeresaromen die Akzeptanz höher.« Leone hat sich zudem Hilfe bei Sterneköchen gesucht und im Jahr 2022 ein Kochbuch herausgebracht. Wie wäre es mit einem Carpaccio der Pelagia-Qualle mit Zucchini-Blüten-Pesto? Oder mit marinierten Pelagia-Quallen mit Limetten- und Grapefruitsaft, Quinoa, Tomatenöl und Portulak?
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