»Der chinesische Paravent«: Kolonialismus in deutschen Wohnzimmern
Elf Familienerbstücke, elf Vorfahren, elf Geschichten aus der deutschen Kolonialzeit: So ließe sich dieses Buch in aller Kürze zusammenfassen. Hinter diesen einfachen Stichworten verbirgt sich jedoch eine literarisch-historisch Reise von elf Familien in die je eigene Geschichte. Anhand von Objekten – darunter ein Hyänenschädel, eine Holztrommel oder ein Teeservice – werden die heutigen Besitzer mit deren Erwerbsgeschichte und dem Handeln ihrer Groß- und Urgroßeltern konfrontiert. Dabei wird deutlich, wie prägend, aber auch gewinnbringend der Einsatz in den Kolonien – ob in Handel, Militärdienst oder der Missionsarbeit – für die Familien in den deutschen Überseegebieten war und es zum Teil heute noch ist.
Der Ursprung des Buchs liegt in einem persönlichen Projekt aus der Coronazeit, als die Autorin, Redakteurin der Zeitung »Der Tagesspiegel«, die Geschichte eines Familienerbstücks erforschte: eines Raumtrenners mit Stoffbezug, dessen Ikonographie eine Verbindung zum chinesischen Kaiserhaus nahelegt. Mit ihm beginnt das erste Kapitel dieses spannenden und sehr persönlichen Buchs.
Die folgenden Kapitel sind ähnlich aufgebaut: Anhand der Biografien der Erwerbenden und ihrer Rollen in der/den deutsche(n) Kolonialgeschichte(n) wird recherchiert, wann und wie das jeweilige Artefakt in den Familienbesitz kam und was über es selbst und seine Herkunft bekannt ist. Nicht selten kommt es hier zu Überraschungen, auch weil parallel Museen und Spezialisten eigene Nachforschungen anstellten.
Soldaten, Kaufleute, Missionare
Was auf den ersten Blick etwas schematisch wirkt, erweist sich als kluger Aufbau. Die Autorin, selbst Kunstgeschichtlerin und Historikerin, verknüpft die persönlichen Erfahrungen und Lebensgeschichten der Vorfahren geschickt mit den weltpolitischen Ereignissen der jeweiligen Epochen. Leider geraten dabei die Objekte mit kolonialem Bezug mitunter etwas aus dem Blick, da ihr Einfluss auf die Familien und ihre Vorfahren – in der Regel die Groß- und Urgroßväter – und die deutsche Kolonialzeit oft in den Vordergrund rückt.
Nicola Kuhn präsentiert dabei die unterschiedlichsten Familien und kolonialen Akteure: Soldaten, Kaufleute und Missionare. Ihre Fälle stammen aus allen ehemaligen deutschen Kolonien in Afrika, Asien und der Südsee. Sie zeigt, wie reich das koloniale System die Akteure machte, wie groß die Unterschiede zwischen den Europäern und den Einheimischen waren und wie brutal die Kolonialtruppen raubend gegen die Indigenen vorgingen. Die meisten Episoden spielen dabei zum Ende der Wilhelminischen Ära. Der Erste Weltkrieg war für sie ebenso bestimmend wie der von vielen der Protagonisten im Kontext des Kriegsgeschehens am eigenen Leib erfahrene Verlust der Kolonien.
Was man als Leser etwas vermisst, ist eine Art Überblick über die deutsche Kolonialzeit und deren historische Einordnung, und auch eine Übersichtskarte wäre wünschenswert gewesen. Für die Lektüre ist ein gewisses Vorwissen daher durchaus hilfreich. Was das Buch qua Konzentration auf die Familiengeschichten auch nicht leistet, ist eine allgemeinere Beurteilung der Kolonialzeit. Die Perspektive der Nachfahren schwankt hier meist zwischen Verharmlosung und dem individuellen Wunsch nach Restitution. Insgesamt ist Nicola Kuhn aber ein spannendes und lehrreiches Buch gelungen, das neugierig macht auf eine Zeit, die auch für viele deutsche Familien prägend war – und es zum Teil bis heute ist.
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