Kurdistan: Das Königreich, das nur zwei Jahre existierte
»Die Kurden waren schon immer ein kämpfendes Volk«, sinniert Mustafa Chawrash. Der Mann ist Peschmerga-General in der Metropole Sulaimaniyya – oder wie die Kurden sagen: Slemani. Die Peschmerga waren bewaffnete Kämpfer und sind heute die Soldaten der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak. Ihr Name bedeutet wörtlich »Die dem Tod ins Auge sehen«. Auch Mustafa Chawrash hat seit seinem 15. Lebensjahr dem Tod wiederholt ins Auge gesehen. Der Blick des heute 78-Jährigen, der in seinem warmherzigen Auftreten wie ein Elder Statesman wirkt, schweift über seine aufstrebende Heimatstadt. Slemani wirkt friedlich, modern und wohlhabend. Dennoch blickt Chawrash nachdenklich in die Vergangenheit: »Seit wir uns erinnern, kämpfen die Kurden in einer Welt voller Krieg für den Frieden«, sagt der General, der lange Jahre an der Seite des gleichaltrigen Peschmerga-Führers und ehemaligen Präsidenten der Autonomieregion, Masud Barzani, stand. Barzani gehört einer der beiden Familien an, die politisch und militärisch die autonome Region fest im Griff haben und jahrelang miteinander blutige Machtkämpfe austrugen: die Barzanis und Talabanis.
Für Chawrash ist das eigentliche Ziel der Kurden selbst mit der Autonomie innerhalb des Iraks noch nicht erreicht. Ihm geht es um die vollständige Unabhängigkeit seines Volks. Dass die Souveränität nicht in Sicht ist, findet er bedauerlich. Dennoch werde er den Stab an die nachfolgende Generation genauso weiterreichen, wie er dereinst seinerseits von Kurdenführer Mustafa Barzani (1903–1979) den Auftrag übernommen habe, für die Freiheit zu kämpfen. »Heutzutage ist das aber eher ein Ringen auf politischer Ebene«, resümiert Chawrash.
Slemani ist das historische Zentrum des kurdischen Widerstands: zunächst gegen das Osmanische Reich, später gegen die als Kolonialherren empfundenen Briten und nach diesen gegen die arabischen Gewaltherrscher in Bagdad. Der Schrecklichste unter ihnen war der Diktator Saddam Hussein (1937–2006), der den Irak von 1979 bis zum Sturz durch die USA im Jahr 2003 brutal regierte.
Die willkürliche Grenzziehung von 1916 hat Folgen bis heute
»Nichts Bessers weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen, als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei, wenn hinten, weit, in der Türkei die Völker aufeinanderschlagen.« Goethe legte diese Worte einer Figur in seinem »Faust« in den Mund. Was der Dichter nicht wusste: Er sprach über die Kurden. Schon zu Goethes Zeit wehrten sie sich gegen die türkische Fremdherrschaft. Damals jedoch eher unorganisiert, Stamm für Stamm, und letztlich ohne Erfolg. Eine erste echte Chance zur Vereinigung witterte Scheich Mahmud Barzandschi (1878–1956) erst im Mai 1919. Er unternahm den bis heute einzigartigen Versuch, sein Volk geeint in die Freiheit zu führen. Die Möglichkeit dazu erwuchs aus den Ereignissen des Ersten Weltkriegs.
Das Osmanische Reich, dem die Region 600 Jahre lang angehörte, war zu Beginn des 20. Jahrhunderts finanziell sowie militärisch geschwächt und erhoffte sich vom späten Kriegseintritt an der Seite des Deutschen Reichs im Oktober 1914 eine Rückgewinnung alten Glanzes. Dieser Plan scheiterte vor allem an verlustreichen Schlachten gegen Russland und an den Briten. Letztere waren in der Lage, mit Hilfe ihres Geheimagenten Thomas Edward Lawrence (1888–1935), der später als »Lawrence of Arabia« berühmt wurde, zahlreiche arabische Stämme aus dem heutigen Irak, Syrien und Jordanien gegen die Türken zu mobilisieren. Diese Allianz zwang das Osmanische Reich 1918 in die Knie.
Die Sieger teilten das türkische Imperium auf. Großbritannien hatte gemeinsam mit Frankreich aber bereits am 16. Mai 1916 eine geheime Übereinkunft über die Spaltung Mesopotamiens (Irak) und Syriens getroffen – das so genannte Sykes-Picot-Abkommen: Sie zogen neue Grenzen in den Wüstensand und teilten traditionelle Stammesgebiete willkürlich mit dem Lineal. Nach Kriegsende besetzten die Briten dann Mesopotamien und benannten es später in Irak (arabisch für »gut verwurzeltes Land«) um. Außerdem machten sie den aus Jordanien stammenden Faisal I. (1885–1933) aus der Dynastie der Haschemiten zum König in Bagdad.
In dem mesopotamischen Mandatsgebiet – wie die Region zunächst hieß – befand sich im Norden auch ein Siedlungsgebiet der Kurden. Während 1919 in Versailles und anderen Pariser Vororten zahlreiche Friedensverträge ausgehandelt wurden, setzten die Briten in Slemani einen lokalen Gouverneur ein: den als honorig bekannten Scheich Mahmud Barzandschi. Die Briten hatten nämlich rasch erkannt, dass die weitgehend unzugängliche Region des Kandil- und Zagros-Gebirges für sie schwer zu kontrollieren war. Mit Barzandschi verbanden sie die Hoffnung, sich nicht um das Kurdengebiet kümmern zu müssen. Sie wollten sich lieber auf den erdölreichen arabischen Teil des Iraks konzentrieren.
Die erste Rebellion brach 1919 los
Mahmud Barzandschi dachte jedoch nicht daran, den Briten als Statthalter zu dienen. Er fürchtete, dass Großbritannien die Kurden kontrollieren wollte – indirekt über den arabischen König in Bagdad. In diesem Moment handelte Barzandschi. Er sah die Chance gekommen, die kurdische Unabhängigkeit zu verwirklichen. Er nutzte seinen Posten als Gouverneur und Scheich, zettelte 1919 mehrere Aufstände an und ließ 1920 die Mehrheit der britischen Beamten in Kurdistan gefangen nehmen. Die Kämpfe setzten sich einige Monate fort, bis Barzandschi bei einem Gefecht zwischen Kirkuk und Slemani verwundet wurde. Der Anführer fiel den Briten in die Hände, die ihn vor Gericht stellten und zum Tod verurteilten. Allerdings ahnten die Europäer: Würde das Urteil vollstreckt, könnte die Region in Unruhen versinken. Barzandschi wurde also begnadigt und ins Exil nach Indien, einer Kronkolonie Großbritanniens, geschickt. An seiner Statt setzte man seinen Bruder Scheich Qader als Gouverneur ein. Dieser hatte jedoch wesentlich weniger Einfluss auf die kurdischen Stämme.
Zur gleichen Zeit bahnte sich ein neuer Konflikt an. Hintergrund war der im August 1920 im Pariser Vorort Sèvres ausgehandelte Vertrag mit dem Osmanischen Reich. Das Ziel der Alliierten bestand darin, dessen Einflussgebiet auf Anatolien zu begrenzen. Von den territorialen Zugeständnissen sollten auch die Kurden profitieren.
Der Vertrag versprach der kurdischen Bevölkerung ein autonomes Gebiet, das die Region südlich von Armenien, östlich des Euphrats und nördlich der türkischen Grenze zu Syrien und Mesopotamien umfasste. Endlich schien die kurdische Selbstbestimmung in greifbarer Nähe zu sein. Doch die Türken waren mit dem Vertrag nicht einverstanden. Der letzte Sultan des Osmanischen Reichs, Mehmed VI. (1861–1926), war zwar offiziell noch im Amt, aber de facto hatte sich 1920 in Ankara unter der Führung von General Mustafa Kemal, später bekannt als Atatürk (1881–1938), eine Gegenregierung gebildet. Die neuen Machthaber lehnten den Vertrag von Sèvres strikt ab. Und es gelang ihnen, die vorherigen Grenzen der Nachkriegszeit durchzusetzen.
Der Plan eines kurdischen Staatsgebiets platzte endgültig im Juli 1923 mit dem Vertrag von Lausanne. Atatürk hatte mit den europäischen Mächten eine Nachkriegsordnung für sein Land ausgehandelt, die die Umsiedlung tausender Griechen und Türken zur Folge hatte, Vertreibung und Völkermord ungesühnt legitimierte und den Kurden jegliche Mitsprache verweigerte. Für die Türkei beanspruchte Atatürk in Lausanne zudem das »Vilâyet Mossul« – die osmanische Provinz der nordirakischen Städte Mossul, Kirkuk und Slemani. Wie konnte es dazu kommen?
Keine Chance mehr für den Kurdenstaat
Winston Churchill (1874–1965), damals Minister für die britischen Kolonien, befürchtete, Atatürk wollte sich die Provinz einverleiben, um von dort die im Irak stationierten britischen Streitkräfte angreifen zu können. In der wachsenden Krise kamen wieder die Kurden ins Spiel. Churchill befürwortete erneut einen eigenständigen kurdischen Staat – zumindest im Nordirak – als Pufferzone zwischen der Türkei und den Briten im Zentralirak. Dazu sollte es aber nicht kommen. Die Beraterin der Briten, Gertrude Bell (1868–1926), sprach sich gegen diese Idee aus. Die Nahostexpertin, Geheimagentin und zeitweilige Reisegefährtin von Lawrence of Arabia überzeugte ihre Regierung, das Kurdengebiet lediglich als eigenständige Verwaltungseinheit im Zuständigkeitsbereich des britischen Mandats und des arabischen Königs in Bagdad anzuerkennen. Dieser Kompromiss tilgte nach dem Vertrag von Sèvres die Hoffnung auf ein unabhängiges Kurdistan endgültig.
Den Kurden wurde immer klarer, dass keiner der Vertragspartner von Sèvres sein Versprechen halten würde. Die Briten versuchten indes, die Situation zu beruhigen. Churchill kam 1922 auf die verwegene Idee, Barzandschi aus Indien zurückzuholen. Denn Atatürks Militär hatte mittlerweile tatsächlich britische Truppen im Nordirak angegriffen – mit dem Ziel, Mossul zu erreichen. Und offenbar erwies sich Scheich Qader, Barzandschis Bruder, als zu schwach, den kurdischen Widerstand gegen die Türken zu organisieren. Nun sollte Mahmud Barzandschi den Briten helfen. Churchill war überzeugt davon, dass nur er die Kurdenregion stabilisieren konnte. Nach Slemani zurückgekehrt, wurde Barzandschi von den Briten erneut zum Gouverneur ernannt.
Im Dezember 1922 trug sich der britische Oberbefehlshaber im Irak, Percy Cox (1864–1937), mit dem Gedanken, die irakischen Kurden eine eigene Regierung bilden zu lassen. Seine Vorbedingung war, dass sich die Stämme eine Verfassung nach westlichem Muster gaben und etliche britische Bedingungen akzeptieren sollten. Barzandschi lehnte ab. Danach ging es Schlag auf Schlag. Der Kurdenanführer rief das Königreich Kurdistan aus, ernannte sich selbst zum König, stellte ein Regierungskabinett auf und ging ein Bündnis mit den Türken ein.
Zwei Jahre lang lieferten sich die Kurden immer wieder heftige Gefechte mit den Briten – bis die Kolonialmacht im Juli 1924 Slemani mit der Royal Air Force in Grund und Boden bombte. Barzandschi zog sich in die unzugänglichen Berge zurück. Sein Kampf dauerte bis 1932, als er erneut in britische Hände fiel und nach Bagdad ins Exil geschickt wurde. 1941 wurde er frei gelassen und starb 1956 in seiner Heimatstadt Slemani.
Barzandschis Nachfolger setzten seine Vision fort
Auch wenn der »Kurden-König« den Freiheitskampf nicht mehr selbst weiterführen konnte, hatte er bereits 1919 einen Nachfolger herangezogen: den damals 16-jährigen Mustafa Barzani. Er stammte aus dem nordkurdischen Dorf Barzan, wonach sich der Stamm Barzani nennt. Als Kind wuchs er im Gefängnis von Diyarbakir im heute kurdischen Teil der Türkei auf. Die Osmanen hatten seine Eltern, die als Rebellen galten, gefangen genommen. Als Mustafa zwölf Jahre alt war, musste er mit ansehen, wie sein älterer Bruder Abdulselam in Mosul von den Türken gehängt wurde.
Kein Wunder, dass sich Mustafa Barzani von da an gegen jedwede Fremdherrschaft zur Wehr setzte. In den 1930er und 1940er Jahren überfiel er mit Kameraden immer wieder irakische wie auch britische Truppen. 1946 musste er fliehen, zunächst in das kurdische Mahabad im Iran, dann in einem langen Marsch mit 500 Getreuen in die Sowjetunion. Er traf Stalin, der ihm jedoch außer einem sicheren Exil keine weitere Unterstützung anbot. Erst 1958 kehrte Barzani in den Irak zurück, nachdem dort der verhasste Haschemiten-König ermordet worden war. Der Kurdenanführer setzte seinen Freiheitskampf gegen alle Herrscher in Bagdad bis zu seinem Tod 1979 fort.
Im gleichen Jahr kam der schlimmste Despot der irakischen Geschichte an die Macht: Saddam Hussein. Er erklärte 1980 dem Iran den Krieg, den er 1988 verlor. Weil Saddam Hussein den Barzani-Stamm verdächtigte, mit dem Iran zusammenzuarbeiten, griff er zu einem drastischen Mittel. Im März 1983 verkündete er im irakischen Staatsfernsehen: »Heute habe ich den Barzani-Stamm bestraft und in die Hölle geschickt.« Erst nach der Invasion der USA im Irak 2003 erfuhren überlebende Barzanis, was Saddam Hussein damals gemeint hatte. Der Diktator ließ 8000 männliche Stammesmitglieder verhaften und deportieren. Seither waren sie verschwunden. Der älteste Sohn von Mustafa Barzani – Masud Barzani – konnte erst nach dem Fall Saddam Husseins Nachforschungen anstellen. In der südirakischen Wüste fand man ein Massengrab mit den Überresten von etwa 1000 Männern. Anhand ihrer Kopftücher konnten sie als Angehörige der Barzanis identifiziert werden. Das Schicksal der übrigen Verschleppten ist bis heute ungeklärt.
Der Giftgasangriff auf Halabdscha
Weltweit bekannt wurde ein anderes Verbrechen Saddam Husseins an den Kurden, einer der folgereichsten Giftgasangriffe seit dem Zweiten Weltkrieg: Am 16. und 17. März 1988 ließ die irakische Luftwaffe Giftgasbomben auf die südkurdische Stadt Halabdscha fallen. Zwischen 3200 und 5000 Frauen, Männer und Kinder starben. Besonders ein Foto des heimlich eingereisten türkischen Journalisten Ramazan Öztürk, der drei Tage nach der Bombardierung den Ort aufsuchte, schreckte die Weltgemeinschaft auf. Es zeigt einen toten Vater, der sein totes Baby schützend im Arm hält. Öztürk nannte die fotografierten Opfer »stille Zeugen«. Die westliche Welt war erschüttert.
Infolge des tausendfachen Mordes an den Kurden schritten die USA ein und verhängten 1992 über dem Nordirak eine Flugverbotszone. Dies ist der Ursprung der heutigen Autonomen Region Kurdistan im Irak, wie das Kurdengebiet heute offiziell heißt.
Die Kurden haben ein Sprichwort: »Nur die Berge sind unsere Freunde.« Ihr Sinnspruch spielt auf die zerklüfteten, bis zu 3500 Meter hohen Bergketten mit ihren zahlreichen Höhlen an, in die sich die Peschmerga stets vor Feinden zurückziehen konnten. Wenige Wochen nach dem verheerenden Erdbeben im Kurdengebiet der Türkei am 6. Februar 2023 beklagt sich Mustafa Chawrash in Halabdscha: »Selbst die Berge sind nun nicht mehr unsere Freunde.« Doch die Entgegnung, die auf die Koran-Sure 29:2 gemünzt ist – »diejenigen, die Allah besonders mag, prüft er auch in besonderer Weise« –, bringt den alten Mann zum Lächeln.
Anmerkung der Redaktion: Autor Tom Goeller war von September 2022 bis Juni 2023 als Oberstleutnant der Reserve beim Bundeswehrkontingent im Nordirak und in Jordanien im Einsatz. Mustafa Chawrash traf er mehrere Male während dieses Aufenthalts.
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