»Der Grund«: Straßen, Bonbons oder Ackerboden?
Boden ist ein umkämpftes Gut. Die Journalistinnen Tanja Busse und Christiane Grefe haben Beispiele dafür zusammengestellt. Viele Beispiele. Im nördlichen Teil von Ostwestfalen etwa plant ein Süßwarenhersteller, sechs Hektar Wald für eine Betriebserweiterung abholzen. Im Oderbruch sollen auf einer Fläche von 370 Hektar Bäume für einen Solarpark fallen. Im Kreis Höxter schlängelt sich ein langes Asphaltband über fruchtbarste Bördeböden, die auch in trockensten Jahren noch beste Erträge bringen. Jetzt soll es verbreitert werden, damit die Autobahn noch schneller erreicht werde. Und in der Magdeburger Börde will die kalifornische Firma Intel eine Gigafactory errichten – obwohl hier doch die allerfruchtbarsten Böden lägen, wie die Bauern der Region versichern.
Fast 1000 Kilometer mehr an Straßen, die von der Bundesregierung angepeilten 400 000 neuen Wohnungen pro Jahr und auch Solarparks benötigen neue Flächen. Oft müssten dafür Ackerböden, die Grundlage für unsere Ernährung, weichen. Und nicht nur dafür: Auf etwa einem Sechstel der landwirtschaftlichen Flächen würden Raps und Mais angebaut, um dann als Ersatz für fossile Energieträger zum Einsatz zu kommen. Allerdings sei dies reichlich ineffektiv, denn etwa mit Blick auf die Stromversorgung seien Solarenergie oder Windenergie deutlich ertragreicher. Noch ungünstiger sehe die Bilanz von Raps und Mais aus, wenn sie in Treibstoffen für Autos oder Flugzeuge verwendet würden. Weitere Gründe für den Verlust von Acker- und Waldboden seien Waldbrände, lang anhaltende Dürren und Überschwemmungen.
Tanja Busse und Christiane Grefe schreiben schon länger zu Themen aus Landwirtschaft und Bioökonomie. Neben vielen aktuellen Beispielen bietet ihr Buch eine präzise Argumentation und Klartext insbesondere dort, wo die Autorinnen Interessenlagen und die Arbeit politisch Verantwortlicher analysieren. Sie fordern dazu auf, den Blick auf den Boden zu richten, und schreiben unter Anspielung auf eine Netflix-Komödie: »›Don’t look up, look down!‹ Oder besser: ›Look up, but look down as well‹«. Der Boden unter unseren Füßen sei in Gefahr durch den Klimawandel, rasant steigende Bodenpreise, Landgrabbing, Wohnungsbau, Höfesterben oder Straßenbau: Die Autorinnen betrachten viele Aspekte, und diese oft aus ganz unterschiedlichen Perspektiven. So freuen sie sich über das Wachstum bei erneuerbaren Energien, merken aber auch an, dass Großinvestoren für deren Erzeugung oft wertvolle Böden umwidmen ließen; oder erkennen zwar an, dass Tiere sich auf Weiden wohler fühlen, sehen aber auch, dass sie dort mehr Methan produzieren als in Ställen. Im letzten Kapitel erörtern Busse und Grefe mögliche Lösungen zu Problemen wie diesen.
Die lebenswerte Stadt ist wohl Fantasterei
Wie könnte also eine klimaresiliente und gerechte Welt aussehen, in der Boden als Gemeingut gilt? Busse und Grefe entwerfen schöne Visionen einer lebenswerten Zukunft, trotz Klimawandel. Doch sie schreiben auch: Vor dem Hintergrund der aktuellen Krisen klinge das wohl mehr nach »Fantastereien« – auch weil ihnen die »die Beharrungskräfte der fossilen Wachstumswirtschaft im Land der Autos, Chemie- und Fleischindustrien« als »schier unüberwindbar erscheinen.« Für die Richtigkeit dieser pessimistischen Einschätzung der Autorinnen spricht, dass die Forderung nach einer größeren Wertschätzung für Böden keineswegs neu ist. So wunderte sich der Geologe David R. Montgomery bereits 2007 in seinem immer noch aktuellen Buch »Dirt« (auf Deutsch unter dem Titel »Dreck« 2010 bei oekom erschienen) darüber, dass fossiles Öl als strategische Ressource angesehen werde, fruchtbarer Boden aber nicht. So gingen etwa auch die Arbeiten zur Erweiterung der oben erwähnten Bonbonfabrik weiter – trotz großer Proteste. Zudem beobachten die Autorinnen ange¬sichts der vielen aktuellen Bedrohungen ganz allgemein einen Rückzug ins Private. So bestehe auch auf individueller Ebene oft eine Kluft zwischen Haltung und Praxis, Vision und Wirklichkeit.
Kleine Erfolge
Ein paar Erfolge können Busse und Grefe dann aber doch noch zusammentragen: das EU-Gesetz zur Wiederherstellung der Natur; der flächensparende soziale Wohnungsbau in Wien; die Verkehrswende in Kopenhagen; die Gemeinschaftsgärten der »GemüseheldInnen Frankfurt«; die »Ackerhelden« aus dem Ruhrgebiet mit ihren urbanen Bio-Gartenparzellen; oder Wasserwerke, bei denen die Bedeutung gesunder Böden in ihrem Einzugsgebiet berücksichtigt wurde. Dennoch gilt auch hier: Vieles davon ist zumindest in Teilen noch Wunschdenken, ist geplant oder befindet sich im Pilot- oder Forschungsstadium.
Die Autorinnen wünschen sich, dass sich Bürger als Teil des Politischen sehen und aktiv politisch engagieren. Es lohne sich, so versprechen Busse und Grefe, »Zeit und Herzblut« für einen besseren Umgang mit der Ressource Boden zu investieren. Die Lektüre ihres wichtigen und lesenswerten Buchs könnte sich für die eine oder den anderen als erster Schritt in diese Richtung erweisen.
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