Chronologie der Flucht
»Was bedeutet es für einen Menschen, Heimat für immer zu verlieren, unter Zwang und Gewalt fliehen zu müssen und am Ende im Exil zu leben?« Dieser Frage widmet sich der Historiker Andreas Kossert in seinem Werk »Flucht – Eine Menschheitsgeschichte«. Dabei stützt er sich auf Tagebücher, Erinnerungen und Autobiografien von Flüchtlingen und verbindet die Zeitzeugenberichte mit der »kraftvollen Stimme der Poesie«, wie er es nennt, also der Belletristik. Kossert setzt den Schwerpunkt seiner Betrachtungen in Europa und dem Nahen Osten, zieht aber auch immer wieder Berichte von Flüchtlingen aus anderen Teilen der Erde heran.
Der Schlüssel zur Heimat
Zunächst setzt sich der Autor mit seiner eigenen Wortwahl auseinander und nähert sich den Begriffen Flüchtling, Vertriebener oder Emigrant aus ihrer Wortentstehungsgeschichte. Jeder dieser Ausdrücke beschreibt die Geschichte aus einer anderen Perspektive, stellt er fest. Deshalb sei es wichtig, sorgsam damit umzugehen.
Es folgt ein Überblick über die verschiedenen Fluchtbewegungen der Geschichte, die bereits mit der Vertreibung Adams und Evas aus dem Paradies beginnt und – mit Blick auf Ereignisse wie den Flüchtlingssommer 2015 – noch lange nicht beendet ist. Seine Chronologie ergänzt Kossert mit ausgesuchten dokumentarischen Fotografien, die alle in Schwarz-Weiß gehalten sind. Darunter findet sich beispielsweise eine Abbildung von zwei verzierten Haustürschlüsseln, die von im 15. Jahrhundert von der Iberischen Halbinsel vertriebenen jüdischen Familien teilweise noch über Generationen weitergegeben wurden. Ganz so, als ließe sich die Tür zur Heimat – selbst nach so langer Zeit – im nächsten Moment wieder aufschließen.
Darüber hinaus beleuchtet Kossert den Akt der Flucht selbst, wobei er Raum für die Wortlosigkeit lässt, die sich in vielen Biografien von Geflüchteten über diese Episode legt. Zu traumatisch ist das, was sie erlebt haben. Solche Erfahrungen findet der Autor zum Beispiel in der Biografie von Günther Grass, in den Erinnerungen des Schriftstellers Ralf Rothmanns oder in den Tagebüchern von Susanne Fritz, die alle versuchen, etwas über die Flucht ihrer Eltern und Großeltern herauszufinden, und auf eine Mauer des Schweigens stoßen.
Wie der Autor betont, ist die Flucht nicht mit der Ankunft im neuen Land beendet. Denn dort beginnt der Abschnitt des Ankommens und Sich-Einlebens, der ein Leben lang dauern kann. Viele der Geflüchteten, die Kossert zu Wort kommen lässt, empfinden sich ihr Leben lang als heimatlos. Erst die nächste Generation, die im neuen Land geboren wurde, fängt an, neue Wurzeln zu schlagen.
Obwohl das Buch zahlreiche Zeugnisse und Erzählungen vereint, ist es kein Flickenteppich aus aneinandergenähten Stücken. Der Autor versteht es, die Geschichten, Erinnerungen und Bilder zu einem neuen Muster zusammenzuweben. Die einzelnen Farben bleiben dabei erkennbar und fügen sich durch seine Arbeit zu einem neuen, größeren Bild zusammen.
»Flucht – Eine Menschheitsgeschichte« ist kein Buch, das man an einem Stück herunterlesen muss. Es bietet vielmehr Denkanstöße, für die der Leser zwischen den Kapiteln Zeit braucht, um eigene Gedanken zu fassen und das Gelesene zu reflektieren. Es ist nicht immer einfach, sich in dem Strom aus Namen, Daten und Geschichten zurechtzufinden, doch wer es wagt, hat die Chance, sich dem Thema ganz aus Sicht der Betroffenen zu widmen.
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