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Anschauliche Erdrotation

Der Wissenschaftshistoriker Michael Hagner findet Trost in den Schwingungen des berühmten Versuchs.

Die Erde dreht sich. Das wissen wir, obwohl uns unsere Wahrnehmung etwas ganz anderes vermittelt. Wenn man nur kurz darüber nachdenkt, erscheint es merkwürdig, dass man nichts von der Bewegung merkt, denn schließlich sausen wir mit Überschallgeschwindigkeit um den Erdmittelpunkt. Doch das ist nur scheinbar paradox. Wenn man sich fragt, wie weit man sich bewegt haben muss, damit die Kreisbahn einen Zentimeter von der Geraden abweicht, so kommt man auf mehr als 350 Meter. Wir bewegen uns also sehr schnell, aber unsere Bahn krümmt sich so sanft, dass wir praktisch nichts davon spüren. So kann man verstehen, warum es schwierig ist, die Erdrotation direkt zu messen, geschweige denn ein Experiment zu ersinnen, das die Bewegung veranschaulicht.

Mit eigenen Augen die Drehung des Planeten verfolgen

Genau das gelang dem französischen Physiker Léon Foucault mit seinem berühmten Pendel, das im Jahr 1851 im Panthéon in Paris der Öffentlichkeit präsentiert wurde. Damals bedurfte es keines Beweises der Erdrotation, vielmehr handelte es sich um eine Mischung aus Präzisions- und Schauexperiment, das anlässlich der Wiedereröffnung der zur nationalen Gedächtnisstätte umgewidmeten Kirche die kulturelle Vormachtstellung Frankreichs demonstrieren sollte. Das an einem über 60 Meter langen Draht aufgehängte Pendel drehte seine Schwingungsebene nach fünf Minuten um etwa ein Grad, wodurch sich nach ruhiger Betrachtung diese Veränderung an einer Skala auf dem Boden ablesen ließ. Den Besuchern erklärte man, nicht das Pendel drehe sich, sondern die Betrachter mit der Erde um die fest im Weltraum stehende Schwingungsebene. Mit einem Mal konnte man die sonst nicht wahrnehmbare Bewegung unseres Planeten mit eigenen Augen sehen. Die Wirkung auf die Besucher war immens, und das Pendel begann seine Karriere als Star unter den Schauexperimenten.

Der schlichte und gerade dadurch besonders suggestive Aufbau hatte von Anfang an den Charakter einer künstlerischen Installation. Sie diente nicht nur der naturwissenschaftlichen Belehrung, sondern wurde auch genutzt, um politische Botschaften zu vermitteln, zum Beispiel für antikirchliche Propaganda: Man erinnerte damit an die Verurteilung Galileis, denn die nun anschaulich gewordene Rotation der Erde bewies ihre Beweglichkeit. Dass die Erde sich um die Sonne bewegt, ergab sich nach dieser Erzählweise zwanglos. Genauso machten es die atheistischen Kommunisten, als sie 1931 die Isaakskathedrale in St. Petersburg in ein antireligiöses Museum umwandelten und an die Stelle der Taube des Heiligen Geistes ein über 90 Meter langes Pendel hängten.

Einen versöhnlichen Eindruck vermittelt dagegen eine Installation, welche die Niederlande 1952 den Vereinten Nationen schenkte. Sie befindet sich noch heute in der großen Eingangshalle des UN-Hauptgebäudes in New York: Wenn die Repräsentanten der Mitgliedsstaaten eintreffen, steigen sie über eine besondere Treppe zum Sitzungsaal hinauf und kommen dabei an einem foucaultschen Pendel vorbei, das über ihren Köpfen schwingt. Wir alle drehen uns auf derselben Erde, lautet offenbar die Botschaft.

Diese spannende Geschichte des foucaultschen Pendels als kulturhistorisches Objekt von seinen Anfängen bis in die Gegenwart hat Wissenschaftshistoriker Michael Hagner in seinem schönen Buch »Foucaults Pendel und wir« dargestellt. Hagner ist Professor für Wissenschaftsforschung an der ETH Zürich und untersucht das Verhältnis von Kunst und Wissenschaft. Sein Werk ist mit dem Untertitel »Anlässlich einer Installation von Gerhard Richter« versehen. Im Juni 2018 hat der genannte Künstler in der Dominikanerkirche im Zentrum von Münster ein Foucault-Pendel – kombiniert mit großen grauen Glastafeln – installiert und der Stadt geschenkt. Man könnte sagen, die Transformation des Pendels vom Schauexperiment zum Kunstwerk hat hier seinen einstweiligen Abschluss gefunden. Hagners gut lesbares Buch zeigt in eindrucksvoller Weise, wie Wissenschaft, Politik und Kunst miteinander verwoben sind.

Einen weniger guten Eindruck hinterlässt die antikirchliche Haltung des Autors, denn sie verleitet ihn an mancher Stelle zu Ungenauigkeiten und Verkürzungen. Es ist traurige Tatsache, dass Kopernikus' »De revolutionibus orbium coelestium« erst 1835 aus dem »Index librorum prohibitorum« genommen wurde, also aus der Liste der Bücher, die ein braver Katholik nicht lesen darf. Doch Hagner erweckt den Eindruck, es sei noch im 19. Jahrhundert nötig gewesen, die Kirchenoberen davon zu überzeugen, dass die Erde sich um die Sonne bewegt. So wundert er sich, dass Bischöfe bereitwillig die bestens geeigneten Kathedralen für Pendelvorführungen zur Verfügung stellten.

Gelegentlich scheint der Verfasser auch die tägliche Rotation der Erde und ihre jährliche Bewegung durcheinanderzuwerfen oder zumindest als austauschbar zu betrachten. Dabei beweist das foucaultsche Pendel streng genommen keineswegs irgendetwas hinsichtlich der Jahresbewegung. Nur weil die Erde rotiert, muss sie noch lange nicht um die Sonne kreisen. Den ersten wirklichen Beweis dafür erbrachte Friedrich Wilhelm Bessel 1838: Schon Kopernikus hatte erkannt, dass die Fixsterne ihre scheinbare Position im Lauf des Jahres ändern müssten. Weil die Sterne aber so weit entfernt sind, ließ sich der winzige Effekt erst mit der Technik des 19. Jahrhunderts nachweisen.

Das letzte Kapitel von Hagners Buch ist im Inhaltsverzeichnis kursiv hervorgehoben. Es handelt sich um einen Essay über Gerhard Richters künstlerische Arbeit. Zunächst nähert sich Hagner wie ein Historiker dem Werk und betrachtet dessen Entstehungsgeschichte. Doch dann beginnt er zu assoziieren, bis er schließlich zum Ergebnis kommt, all die menschlichen und von Menschen gemachten Tragödien würden am Ende die Erde in ihrem Lauf nicht aufhalten. Die Erde tue das, »was sie immer schon getan hat, nachdem der Kosmos sich einigermaßen eingewackelt hatte: Sie dreht sich um die Sonne und um die eigene Achse.« Offenbar hat das foucaultsche Pendel Hagner sehr berührt.

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