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»Fünfte Sonne«: Aztekische Geschichtsschreibung

Das Bild der Azteken wird stark durch europäische Quellen bestimmt. Doch welche Sicht hatte dieses Volk auf sich selbst?
Gemälde der Eroberung Tenochtitlans.

Wäre es möglich, Politik, Gesellschaft und Kultur des mittelalterlichen Frankreich nur anhand archäologischer Ausgrabungen und ein paar zeitgenössischer englischer Texte zu erfassen? Wohl kaum, argumentiert die amerikanische Historikerin Camilla Townsend. Und sie bemängelt, dass so eine unzureichende Vorgehensweise in der Geschichtsschreibung über die Azteken lange Zeit vorherrschend gewesen sei. Die Sicht auf dieses mittelamerikanische Volk erscheint durch eine »europäische Brille« verzerrt. Besonders der Brauch des Menschenopfers habe das Bild geprägt, ebenso die Frage, warum dieses große, mächtige Reich unter Moctezuma II. von den europäischen Konquistadoren innerhalb weniger Jahre ab 1519 erobert werden konnte.

Townsend wählt in ihrem Buch andere Quellen, mit denen sie sich der aztekischen Kultur nähert. Denn die Überlebenden der Kämpfe und der von den Europäern ins Land gebrachten Seuchen erlernten von den neuen Herrschern die lateinische Schrift, mit der sie in der Landessprache Nahuatl ihre Geschichte aufzeichneten. Auf diese »Nahuatl-Annalen« greift Townsend zurück. Sie enthalten Erinnerungen sowie ehemals mündliche Überlieferungen.

In acht Kapiteln zeichnet die Autorin die Entstehung des aztekischen Volkes (vor 1299) über die Ankunft der Spanier (1519) und ihre Eroberungen (1520–1521) bis in das 17. Jahrhundert nach. Indem Townsend die Ankunft der Spanier nicht als zeitliches Ende, sondern als Mittelpunkt ihrer Darstellung wählt, gibt sie auch dem Weiterleben aztekischer Kultur in den nachfolgenden Generationen Raum.

Die »Nahuatl-Annalen« erschließen sich erst, wenn man die Sprache beherrscht. Sie liefern ein Gegenstück zu den europäischen Quellen. Zwar gab es den Brauch des aus europäischer Sicht barbarisch erscheinenden Menschenopfers. Er geht auf den religiösen Glauben zurück, dass bereits vier Universen untergegangen seien und erst durch die Selbstopferung des gottgläubigen Nanahuatzin die derzeitige fünfte Sonne geschaffen wurde. Doch standen Menschenopfer nicht im Zentrum des alltäglichen Lebens. Auch aztekische Kriegszüge gegen andere Völker und Städte waren nicht religiös bestimmt, sondern Folgen machtpolitischer Auseinandersetzungen und der durch weit verzweigte, dynastische Heiratspolitik hervorgerufenen Spannungen. Daneben zeigen die »Nahuatl-Annalen«, dass den Azteken die technische Unterlegenheit gegenüber den spanischen Eroberern bewusst gewesen sei, so Townsend. Ebenso wurde ihnen neben europäischen Krankheiten zum Verhängnis, dass sich die Konquistadoren der Hilfe von Völkern bedienten, die von den Azteken unterdrückt worden waren. Hernán Cortez nutzte für Dolmetschertätigkeiten die Sprachbegabung der bei Coatzacoalcos geborenen und in die Sklaverei verkauften Malinche, die später seine Geliebte wurde.

Zeitgenössische europäische Darstellungen spiegeln die Sichtweise des Siegers, der sich nicht nur militärisch, sondern auch kulturell überlegen fühlte. Zwar sind sie sprachlich leichter zugänglich, doch geben sie die historische Wahrheit nur zu einem Teil oder unter oft verzerrter Perspektive wieder. Durch ihren Zugang über die »Nahuatl-Annalen« zeigt Townsend jedoch, dass es sich lohnt, die »europäische Brille« abzulegen. Dann erkennt man eine vielschichtige, komplexe Kultur, die die Eroberung überlebte und sich neu ausrichtete. Allerdings bergen diese Texte ihre eigenen quellenkritischen Probleme. Denn sie entstanden erst nach der Eroberung, als die Kinder und Enkel dieses Volkes sich europäischen Einflüssen anpassten. Auch hier muss also nach historischer Wahrheit, Legende, Beeinflussung sowie einer sich eventuell bewusst von den Kolonialherren abgrenzenden Selbstdarstellung gefragt werden.

Townsend legt insgesamt ein spannendes Buch vor, das durch eine kommentierte Bibliografie der »Nahuatl-Annalen« ergänzt sowie durch ein Register erschlossen wird. Sie richtet sich an Leserinnen und Leser mit Interesse für die aztekische Geschichte oder auch für die europäische Kolonialgeschichte. Allerdings irritiert es, dass die Autorin das wichtige Kapitel »Wie Wissenschaftler die Azteken erforschen« erst an das Ende ihres Buches setzt. Zwar äußert sie schon einleitend Kritik an der bisherigen Geschichtsschreibung. Doch könnte man dieses Kapitel dann auch am Beginn ihrer Darstellung erwarten.

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