»Kindheit«: Eine Lektion in Gelassenheit
Fragen rund um die Kindererziehung sind oft emotional aufgeladen: Ab wann soll ich mein Kind fremdbetreuen lassen? Wie viel Kontrolle und wie viel Mitbestimmung brauchen Kinder? Und wie viel Zeit sollten sie maximal in der digitalen Welt verbringen?
»Der Diskurs über Kinder ist häufig polarisiert und von Schwarz-Weiß-Denken geprägt«, heißt es zu Beginn dieses Buchs. Darin drücke sich eine Sehnsucht nach einfachen Lösungen und klaren Antworten aus, mit der sich auch die Wissenschaft immer wieder konfrontiert sehe. Den Sorgen der Eltern stünden unzählige Ratgeber, Patentrezepte und Meinungen gegenüber. »So gibt es nicht nur viel Unsicherheit, Angst und Überforderung, sondern auch viel Kopfschütteln, Reinreden und Besserwissen«.
Die elf Autorinnen und Autoren um Herausgeber Oskar Jenni – Entwicklungspädiater und Nachfolger von Remo H. Largo am Universitäts-Kinderspital Zürich – beleuchten das Thema Kindheit aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Sie stammen aus ganz unterschiedlichen Disziplinen, etwa aus Entwicklungspsychologie und -pädiatrie, Philosophie, Ökonomie oder den Erziehungswissenschaften. Gemeinsam widmen sie sich großen und brennenden Frage zur Kindheit, zum Beispiel: »Ist eine gerechte Bildung möglich?« oder »Was macht Kinder glücklich?«
Zitate der Autorinnen und Autoren, die immer wieder den jeweiligen Punkt treffen, lockern den Fließtext auf. Jeder Satz der Beiträge wirkt wohlüberlegt, ihr Ton ist angenehm unaufgeregt. So vermittelt das Buch genau die Beruhigung, die sein Untertitel verspricht. Dennoch spricht es klar und schonungslos auch die großen Probleme an, die etwa mit Blick auf Bildungsgerechtigkeit oder die mangelnde Vereinbarkeit von Familie und Beruf bestehen.
Einfache Antworten gibt es nicht
Wer einfache Antworten auf Erziehungsfragen sucht, wird hier nicht fündig. Diese zu liefern, ist auch gar nicht das Ziel der Autorinnen und Autoren. Vielmehr möchten sie die Art und Weise, wie über Kindheit heute diskutiert wird, verändern. Es sei an der Zeit, die Fragen anders zu stellen, schreiben sie. Es gehe darum, die Themen in ihrer Komplexität zu erfassen, Ambivalenzen zuzulassen und zu erkennen, dass es keine einfachen Antworten geben kann; und dann auf der Basis des aktuellen Wissensstands Vorschläge und Perspektiven zu erarbeiten.
Beispielsweise kritisieren sie im Kapitel »Ist eine digitale Welt kinderfreundlich?« die generalisierende Äußerung des Hirnforschers und Bestsellerautors Manfred Spitzer, digitale Medien würden »dumm, dick, aggressiv, einsam und abhängig« machen. Natürlich strukturiere sich das flexible Gehirn ein Leben lang auf der Basis von Erfahrungen um. So lange der Lebensmittelpunkt von Kindern aber in der realen Welt und im Zusammensein mit anderen Kindern liege, werde ihr Gehirn nicht einfach von digitalen Medien in der beklagten Weise geprägt.
In diesem Zusammenhang weist das Autorenteam auf manch andere unterschätzte Gefahr hin – etwa, dass digitale Medien Menschen dazu verleiten können, die Liebsten durch Tracker und Apps zu überwachen. Oft seien es nicht die Kinder, sondern die Eltern, die protestieren, wenn auf einer Klassenreise keine Handys erlaubt seien. Aber auch Heranwachsende hätten ein Recht auf Nichterreichbarkeit.
Eltern können aus der Lektüre viel für ihren Alltag mitnehmen. Das Buch macht klar, dass Eltern weder perfekt sein müssen noch überhaupt sein können. Es verdeutlicht, dass es kein Patentrezept für den richtigen Erziehungsstil geben kann und dass Eltern die eigenen Regeln, Prinzipien, Erwartungen und Wünsche an die Realität und an ihre Kinder anpassen müssen. Und das ständig. Neben interessanten Forschungserkenntnissen und scharfsinnigen Überlegungen vermittelt das Buch vor allem eines: eine ordentliche Portion Gelassenheit.
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