»Mutterhirn«: Was gute Eltern ausmacht
Wenn Kinder zu Teenagern werden, passt sich ihr Hirn an das Erwachsenenleben an. Es gibt aber noch eine weitere Phase im Leben vieler Menschen, in der sich das Gehirn ähnlich fundamental verändert: wenn sie Eltern werden.
In ihrem Buch »Mutterhirn« zitiert die US-amerikanische Wissenschaftsjournalistin Chelsea Conaboy eine Vergleichsstudie, die 2019 in der Zeitschrift Human Brain Mapping veröffentlicht wurde. Demnach gleichen die strukturellen Veränderungen im Gehirn weiblicher Pubertierender denen von Müttern während und nach der Schwangerschaft: »Es zeigten sich jeweils eine sehr ähnliche Abflachung des Kortex und eine Verbreiterung der Furchen auf der Hirnoberfläche sowie eine nahezu identische Verringerung des gesamten Hirnvolumens, die dem gleichen morphometrischen Muster folgte«, schreibt Conaboy. Damit kontextualisiert sie die oft herabwürdigend vorgetragene Binsenweisheit, das Gehirn von Müttern »schrumpfe«. Denn das Gleiche geschehe auch mit dem Gehirn von Teenagern, um sich auf die anstehenden Aufgaben einer neuen Lebensphase zu fokussieren.
Die Erforschung des Gehirns der nahestehenden Bezugspersonen von Babys steckt der Autorin zufolge noch in den Kinderschuhen. Das gilt besonders für Väter, nicht biologische Eltern und andere vertraute Bindungspartner. Dennoch lässt sich auf Basis des derzeitigen Wissens bereits ein vielschichtiges Bild davon zeichnen, wie sich Elternschaft auf das Gehirn auswirkt und Menschen für den Rest ihres Lebens prägt.
Für ihre Studie hat Conaboy neurobiologische Fachaufsätze ausgewertet und Interviews mit Forschenden geführt. Auf den ersten Blick mag es daher überraschen, dass ihre Kernthese eine soziale Komponente betont: Eine gute Mutter oder ein guter Vater werde man nicht (nur) durch Geburt und Schwangerschaft, die das Gehirn auf die Versorgung eines Babys vorbereiten – sondern vor allem dadurch, dass man Zeit mit seinem Nachwuchs verbringt.
Demnach ist die Fähigkeit zur Fürsorge nicht an das Geschlecht gebunden: »Studien über Väter, nichtbiologische Väter bei gleichgeschlechtlichen Paaren eingeschlossen, haben festgestellt, dass die Gehirne von Männern, die sich regelmäßig um ihre Kinder kümmern, sich in verblüffend ähnlicher Weise verändern wie die Gehirne austragender Mütter.«
Für ihre Berichterstattung zum Bombenanschlag beim Bostoner Marathon im Jahr 2013 wurden Conaboy und ihre Kolleginnen und Kollegen mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet. Die Qualität ihrer Arbeit merkt man auch diesem Buch an, das sich einem ganz anderen Thema widmet: Die bisherigen Ergebnisse der Forschung zum elterlichen Gehirn trägt Conaboy differenziert zusammen. Mühelos verbindet sie dabei biologische Prozesse und soziale Kontexte, streut hier und da Biografisches ein, ohne dass sie zu stark auf ihre eigenen Erfahrungen fokussiert.
Das herausragende Niveau dieses populärwissenschaftlichen und durchaus feministischen Sachbuchs zeigt sich auch daran, dass Conaboy Leerstellen und Fehlinterpretationen in der Forschung offenlegt. Diese sei oft noch von starren Geschlechterkategorien geprägt. Die Autorin gibt zudem zu bedenken, dass Politik und Gesellschaft das große Potenzial verkennen, das sich aus der Elternschaft ergibt. Dazu zählt beispielsweise die Fähigkeit, auf soziale und emotionale Schlüsselreize zu reagieren.
Auch wenn Chelsea Conaboy diese Thematik vielleicht noch etwas stärker hätte herausheben können, überzeugt »Mutterhirn« als (neuro-)wissenschaftlich fundiertes Plädoyer für die Fürsorge – eine Fähigkeit, deren Relevanz für Individuum und Gesellschaft gleichermaßen nicht hoch genug geschätzt werden kann.
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