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»Moralspektakel«: Erst die Häme, dann die Moral!

Moral als Statusspiel: Der Philosoph Philipp Hübl sucht nach Wegen aus der gesellschaftlichen Empörungsspirale.
Engel und Teufel

Der Berliner Philosoph Philipp Hübl gehört zu jener Riege jüngerer Denker, die ihre Argumentationen weniger theoretisch herleiten als vielmehr auf empirische Daten stützen. So referiert er auch in »Moralspektakel« eine Fülle von psychologischen und soziologischen Arbeiten, um seine Kernthese zu untermauern, die da lautet: Viele öffentliche Debatten über soziale oder politische Fragen – vom Umgang mit Populisten über die Rechte von Minderheiten bis hin zur Bekämpfung des Klimawandels – sind vergiftet. Was auf den ersten Blick als moralische Wertediskussion daherkommt, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als Versuch, den eigenen Status zu heben, indem man Anerkennung, Attraktivität und Macht für sich reklamiert.

»Wenn etwas nach Moral aussieht, aber nur dem Statusspiel dient, handelt es sich um ein Moralspektakel«, schreibt Hübl – und streut damit Salz in die offenen Wunden unserer digitalen Mediengesellschaft. Denn die eigene moralische Integrität und Gesinnung nach außen zu kehren, ist gerade in der Onlinekommunikation nicht nur billig zu haben, es ist auch ein formidables Mittel, um Zuspruch zu generieren und missliebige Ansichten aus der Diskursarena auszugrenzen.

Erkennbar wird das Spektakel laut Hübl, wenn etwa im Namen der Antidiskriminierung diskriminiert oder unter dem Fähnchen der Diversität die Meinungsvielfalt beschränkt wird oder wenn schon geringste »Vergehen« wie ein unbedachtes Wort (»Indianerhäuptling«) eine Sturzflut der Häme und Verachtung auslösen. Überhaupt habe manch progressiver Aktivist das vorgebliche Ziel, der guten Sache zu dienen, offenbar aus dem Blick verloren: Statt für Positionen zu werben und Mehrheiten zu organisieren, verlegen sich etwa die sogenannten Klimakleber auf Nötigung und Sachbeschädigung, was viele Bürger den Kopf schütteln lässt, statt sie zu einem Umdenken – und »Um-Handeln« – zu bewegen. Doch als »letzte Generation« für das Gute zu kämpfen, macht gegenüber solchen Bedenken schnell immun.

Der kühle Blick auf überhitzte Debatten

Wie schon in seinen früheren Büchern »Bullshit-Resistenz« (2018) und »Die aufgeregte Gesellschaft« (2019) gelingt Hübl der Spagat, das allgemeine Empörungsgetöse zu entlarven, ohne sich mit der rechtspopulistischen Opfermentalität gemein zu machen. Ja, es gibt mehr als genügend Beispiele für überschießende Wokeness und Tugendprotzerei, nur heißt das eben nicht, dass man seine Meinung nicht mehr frei äußern könne oder das linke Establishment die Macht an sich gerissen hätte.

Hübl beleuchtet nahezu jeden Aspekt der heutigen Moralspektakel – von der Entstehung und Funktion ethischer Werte bis zu den Folgen des Stammesdenkens in der Onlinekommunikation. Er stellt dabei viele verbreitete Ansichten infrage: Kann man Diskriminierung durch Gegendiskriminierung von »alten weißen Männern« aufheben? Prägt Sprache wirklich, wie wir über andere denken? Bauen Diversitätstrainings verborgene Vorurteile ab oder dienen sie eher dem »ethical washing« von Unternehmen?

Das Buch präsentiert überraschende Befunde, die einer progressiven Sicht der Dinge oft widersprechen: dass mitunter nicht Frauen, sondern Männer auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt sind; dass im Zuge wachsender Gleichberechtigung die Unterschiede zwischen den Geschlechtern, etwa was die Berufswahl betrifft, nicht ab-, sondern zunehmen; oder dass moralische Sensibilität gerade dort hoch im Kurs ist, wo Gewalt, Unrecht und Benachteiligung am schwächsten ausgeprägt sind – all das sind Ergebnisse, die beliebte Klischees auf den Kopf stellen.

Als ein Manko mag man es empfinden, dass Hübl kaum auf das grundlegende Dilemma des Themas eingeht: die große Schwierigkeit, instrumentalisiertes Moralisieren von authentischer Moral zu unterscheiden. Denn wer auf ein Fehlverhalten anderer hinweist und einen Frevel anprangert, stellt sich damit nolens volens als moralisch sensibel dar und wirbt für bestimmte Sichtweisen. Man kann das Moralisieren um der Sache willen nicht klar vom demonstrativen, »selbstwertdienlichen« Zweck trennen. Besser gesagt, man muss, wenn man es versucht, eben in Kauf nehmen, anderen Menschen ihre Wut, Angst oder Verletztheit nicht abzukaufen, ihre Gefühle zu relativieren und sie damit vor den Kopf zu stoßen.

So durchweht Hübls Buch eine vernunftethische Kühle, die einerseits wohltut, andererseits aber auch manchem als Zumutung erscheinen dürfte. Statt allzu empathisch mitzuschwingen plädiert der Autor für klares Denken und den Mut, sich von gespielter Empörung und Verletztheit nicht ins Bockshorn jagen zu lassen. Kurz: ein Buch, dem man nicht nur im »Superwahljahr« 2024 viele aufmerksame Leserinnen und Leser wünscht.

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