Der Mathematische Monatskalender: Giulio Fagnano, der Begründer der elliptischen Funktionen
Gemäß Carl Gustav Jacob Jacobi war der 23. Dezember 1751 der Geburtstag der elliptischen Funktionen; und damit hatte es das Folgende auf sich: Leonhard Euler war gebeten worden, die gesammelten Schriften »Produzioni matematiche« von Graf Giulio Carlo Fagnano zu begutachten, da dieser als Mitglied für die Berliner Akademie der Wissenschaften vorgeschlagen worden war. Unter den Beiträgen Fagnanos entdeckte Euler die Abhandlung »Metodo per misurare la Lemniscata« (Methode zur Messung der Bogenlänge einer Lemniskate) aus dem Jahr 1718, die ihn in Begeisterung versetzte.
Tatsächlich war es dem italienischen Mathematiker Fagnano gelungen, ein Problem zu lösen, mit dem sich zuvor andere vergeblich auseinandergesetzt hatten. Euler erkannte unmittelbar, wie sich der Ansatz von Fagnano verallgemeinern lässt; diese eulersche Abhandlung trug dann wesentlich zur Entwicklung der Theorie der elliptischen Funktionen bei.
Fagnano selbst war von den von ihm entdeckten Eigenschaften der Lemniskate so begeistert, dass er die Kurve auf das Titelbild der »Produzioni matematiche« abdrucken ließ und auch verfügte, dass sie auf seinen Grabstein gemeißelt werden soll.
Der mathematische Monatskalender
Ihre wissenschaftlichen Leistungen sind weit verbreitet, doch wer waren die Mathematik-Genies, die unser Verständnis der Welt nachhaltig prägten? Seine ersten »mathematischen Monatskalender« hatte Heinz Klaus Strick, ehemaliger Leiter des Landrat-Lucas-Gymnasiums in Leverkusen-Opladen, für seine Schülerinnen und Schüler geschrieben, ergänzt durch passende Briefmarken der vorgestellten Personen. Alle spannenden Lebensläufe, skurrilen Porträts und unglaublichen Geschichten hinter den namhaften Persönlichkeiten finden Sie hier.
Entdeckt wurde diese Kurve von Giovanni Domenico Cassini. Er hatte sich um 1680 allgemein mit der Frage beschäftigt, welche Kurven sich ergeben, wenn das Produkt der Abstände eines Kurvenpunkts P(x,y) zu zwei Punkten P1(c,0) und P2(−c,0) konstant gleich a2 ist (a, c ≥ 0). Das heißt, es gilt: (x2 + y2)2 − 2c2( x2 − y2) = a4 − c4. Im Fall a = c erhält man den Graphen einer Lemniskate, einer liegenden Acht.
Bogenlänge von Kurven – elliptische Integrale
Ist eine Kurve durch den Graphen einer differenzierbaren Funktion f gegeben, dann lässt sich – nach Anwenden des Satzes von Pythagoras – die Länge L des Bogens zwischen zwei Punkten (a, f(a)) und (b, f(b)) mit Hilfe eines Integrals bestimmen: \(L(a,b) = \int_a^b \sqrt{1+(f'(x))^2} dx.\)
Beispielsweise ergibt sich beim Kreis mit \(f(x) = \sqrt{r^2 – x^2}\) und \(f'(x) = \frac{-x}{\sqrt{r^2 – x^2}}\) für die Länge eines Viertelkreisbogens: \[ L(0,r ) = \int_0^r \sqrt{}1 + \frac{x^2}{r^2 – x^2} dx = r\cdot \int _0^r \frac{dx}{\sqrt{r^2-x^2}} \] \[ = r\cdot [\arcsin(1) – \arcsin(0)] = \frac{\pi}{2} \cdot r\]
Diese Berechnung ist möglich, da sich das Integral durch eine konkrete elementare Funktion beschreiben (man sagt: »in geschlossener Form angeben«) lässt. Ähnliches gilt auch für die Zykloide, die logarithmische Spirale und die Parabel, nicht aber für die Berechnung der Bogenlänge bei einer Ellipse oder einer Hyperbel. Das heißt, man kann zwar die Bogenlänge durch ein Integral ausdrücken, aber keine konkrete Berechnung durchführen. Allgemein bezeichnet man solche Ausdrücke als elliptische Integrale, bei denen die Integralfunktion eine rationale Funktion ist, die eine Quadratwurzel aus einem kubischen oder biquadratischen Term enthält.
Von Jakob Bernoulli stammt die Bezeichnung Lemniskate (griechisch: Schleife). Er hatte gezeigt, dass die Bestimmung der Länge eines Bogens vom Ursprung zu einem Punkt der Lemniskate auf ein Integral vom Typ \(\int \frac{dx}{\sqrt{1-x^4}}\) führt, das sich allerdings nicht »in geschlossener Form« angeben lässt. Diese Integralfunktion konnte er zwar durch eine Reihenentwicklung darstellen, aber weder er noch sein Bruder Johann und auch nicht Euler gelangen nennenswerte Fortschritte.
Mathematische Erkenntnisse von Fagnano
Fagnano untersuchte die Bogenlänge der Lemniskate mit (x2 + y2)2 = x2 − y2 (das heißt: a=√2/2) im ersten Quadranten, also den oberen Bogen zwischen den Punkten (0,1) und (1,0). Bezeichnet man den Abstand des Lemniskaten-Punkts P(x,y) vom Ursprung mit \(r = \sqrt{x^2+y^2},\), dann hat dieser Punkt die Koordinaten \( (x,y) = (\sqrt{\frac{1}{2} r^2(1+r^2)}, (\sqrt{\frac{1}{2} r^2(1-r^2)}). \) Für die Länge s(r) des Bogens vom Ursprung bis zu einem Punkt im Abstand r gilt dann: \(s(r) = \int\frac{dr}{\sqrt{1-r^4}}.\)
Die Bedingung, dass ein solches Bogenstück doppelt so lang ist wie ein anderes, lässt sich durch die Integralgleichung \(2\int_0^{r_1}\frac{dr}{\sqrt{1-r^4}} = \int_0^{r_2} \frac{dr}{\sqrt{1-r^4}} \) beschreiben. Fagnano zeigte, dass dann gilt: \(r_2 = \frac{2r_1 \cdot \sqrt{1-r_1^4}}{1+r_1^4} .\)
Um den Punkt zu finden, durch den zum Beispiel der Bogen der Lemniskate halbiert wird, muss die Gleichung \(\frac{2r\cdot\sqrt{1-r^4}}{1+r^4}= 1 \) gelöst werden. Durch Umformungen dieser Gleichung achten Grades ergibt sich \((\sqrt{\frac{2-\sqrt{2}}{2}}, \sqrt{\frac{3\sqrt{2}-4}{2}}) \approx (0,541; 0,348)\) – ein Punkt, der mit Zirkel und Lineal konstruierbar ist, da seine Koordinaten aus Quadratwurzeltermen zusammengesetzt sind.
Durch ähnliche Ansätze ergeben sich auch (ebenfalls konstruierbare) Zerlegungen des Lemniskate-Bogens in drei oder in fünf gleich lange Bogenstücke.
Wer war Conte Fagnano e Marchese de' Toschi e di Sant'Onofrio?
Giulio Carlo Fagnano stammte aus einem alten Patriziergeschlecht des zum Kirchenstaat gehörenden Adria-Städtchens Sinigaglia (heute: Senigallia, nahe Ancona). Den Eltern Giovanni Francesco Fagnani und Camilla Bartoli war bereits früh aufgefallen, dass ihr Sohn über eine schnelle Auffassungsgabe verfügte. So wurde er zum Studium an das Collegio Clementino der Padri Somaschi (Orden der Somasker) nach Rom geschickt, wo er sich vor allem für Literatur und Philosophie interessierte.
Nach der Studienzeit korrespondierte er mit dem Philosophen Nicolas Malebranche über dessen Buch »De la recherche de la vérité«, das später von der katholischen Kirche auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt wurde. Malebranche, der unter anderem in regem Kontakt mit Gottfried Wilhelm Leibniz, Johann Bernoulli und Guillaume de L'Hôpital stand, weckte schließlich Fagnanos Interesse für Mathematik.
In der Tradition der Familie übernahm Fagnano als Gonfaloniere (wörtlich: Bannerträger) verantwortliche Aufgaben in der Verwaltung und in der Gerichtsbarkeit seiner Heimatstadt, so dass nur wenig Zeit für mathematische Studien blieb.
Gleichwohl gelang es ihm, sich autodidaktisch auf den aktuellen Stand der mathematischen Forschungen zu bringen. So leitete er 1719 für die Bogenlänge eines Viertelkreises die Formel \(2\log\left((1-\sqrt{-1})^{\frac{1}{2}\sqrt{-1}} \cdot (1+\sqrt{-1})^{-\frac{1}{2}\sqrt{-1}} \right) \) her – eine Variante der eulerschen Formel \(e^{-\frac{\pi}{2}} = i^i .\)
Den Adelstitel eines Grafen erhielt er vom französischen König Ludwig XV., den eines Marquis von Papst Benedikt XIV. – zusammen mit Ruđer Josip Bošković hatte er den Papst wegen der Risse in der Kuppel des Petersdoms beraten.
Bekannt wurde Fagnano auch wegen seiner Untersuchungen an Dreiecken; beispielsweise bewies er, dass für den Schwerpunkt X eines Dreiecks ABC die folgende Gleichung gilt: |XA|2 + |XB|2 + |XC|2 = ⅓·( |AB|2 + |BC|2 + |CA|2).
Weiter beschäftigte er sich mit einem Optimierungsproblem: Gegeben ist ein spitzwinkliges Dreieck ABC und ein Punkt U auf einer der Dreiecksseiten. Wie kann man ein Dreieck UVW konstruieren, dessen Eckpunkte auf den Dreiecksseiten von ABC liegen und dessen Umfang minimal ist?
Antwort: Man findet die Punkte V und W, indem man die Strecke UA an den Seiten AB und AC spiegelt und die Spiegelbilder von U miteinander verbindet.
Übrigens: 1754 widmete ein junger, unbekannter Turiner Student seine erste wissenschaftliche Veröffentlichung dem von ihm verehrten Mathematiker Fagnano – sein Name: Giuseppe Luigi Lagrangia, später bekannt als Joseph Louis Lagrange.
In Fagnanos Ehe mit der ebenfalls aus Sinigaglia stammenden Francesca Sassofrato wurden sechs Söhne und sechs Töchter geboren, wovon nur wenige überlebten. Als Einziger zeigte sein Sohn Giovanni, Kanoniker der Kathedrale von Sinigaglia, Interesse an mathematischen Fragen. Unter anderem veröffentlichte er Rekursionsformeln für \(\int x^n \sin x dx\) und für \(\int x^n \cos x dx\).
Außerdem bewies er, dass der Umfang eines einbeschriebenen Dreiecks in einem spitzwinkligen Dreieck genau dann minimal wird, wenn die Punkte U, V, W die Höhenfußpunkte des Ausgangsdreiecks sind.
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