Der Mathematische Monatskalender: Godfrey Harold Hardy (1877–1947)
Godfrey Harold Hardy kommt als erstes von zwei Kindern von Isaac und Sophia Hardy in Cranleigh (Surrey, Südengland) zur Welt. Seine Eltern sind im Schuldienst tätig; aus finanziellen Gründen hatten jedoch beide nicht an einer Hochschule studieren können. Bis zum Alter von 12 Jahren besucht Godfrey die Schule im Ort mit großem Erfolg. Für Mathematik zeigt er dabei kein besonderes Interesse. Wie er sich später erinnert, reizt es ihn vor allem, besser zu sein als die anderen. Dass er als Klassenbester immer wieder öffentlich Preise entgegennehmen muss, gefällt dem schüchternen Jungen weniger gut.
1889 erhält er ein Stipendium zum Besuch des Winchester College, einer Schule, die als landesweit beste im Fach Mathematik gilt; allerdings fühlt sich Hardy dort im rauen Alltag der Schule nie wohl. Dank seiner großen Begabung und der exzellenten akademischen Ausbildung gewinnt er am Ende der Schulzeit ein Stipendium für das Trinity College in Cambridge. Dort wird ihm ein Hochschullehrer zugeteilt, der einen hervorragenden Ruf hat. Aber Hardy gefällt dessen Art, Mathematik zu vermitteln, überhaupt nicht: Dieser bringt zwar den ihm anvertrauten Studenten alle Techniken und Tricks bei, mit denen man ein gutes Examen ablegen kann, hat aber selbst kein wirkliches Interesse an der Mathematik.
Fast hätte Hardy das Studienfach hin zu Geschichte gewechselt, als ihm ein anderer Betreuer zugeteilt wird. Diesem, Professor Augustus Edward Hough Love, gelingt es in kurzer Zeit, ihn für die Ideen der Analysis zu begeistern: Er empfiehlt ihm die Lektüre des Buches Cours d’Analyse von Camille Jordan, und Hardy versteht zum ersten Mal, was Mathematik wirklich bedeutet (... learnt for the first time ... what mathematics really meant). Die Abschlussprüfung (Mathematical Tripos) schließt er 1898 "nur" als Viertbester seines Jahrgangs ab, was ihn – obwohl er das Prüfungssystem als absurd verachtet – bis zum Lebensende ärgert. Bereits im Jahr 1900 wird Hardy als Fellow of Trinity gewählt, das heißt, er wird als Hochschullehrer angestellt, und schon im Jahr darauf erhält er eine erste Auszeichnung.
Durch zahlreiche Veröffentlichungen zu Themen der Analysis (Konvergenz von Reihen, Integralrechnung und damit zusammenhängende Themen) verschafft sich Hardy in kürzester Zeit einen Ruf als hervorragender Mathematiker. Sein Buch A course of pure mathematics erscheint im Jahr 1908 und verändert die Art und Weise, wie Mathematik seit Isaac Newton an englischen Hochschulen gelehrt wird.
Zwei Ereignisse verändern Hardys weiteres Leben: Im Jahr 1908 wird der acht Jahre jüngere John Endensor Littlewood ebenfalls als Fellow gewählt. Und in den nächsten 35 Jahren arbeiten die beiden sehr eng zusammen und veröffentlichen gemeinsam über 100 Arbeiten, sodass der dänische Mathematiker Harald Bohr (Bruder des Physikers Niels Bohr) einmal – im Scherz – gesagt haben soll, dass er nur drei angesehene englische Mathematiker kenne: Hardy, Littlewood und Hardy-Littlewood.
Das zweite Ereignis hat mit einem Brief zu tun, den ein unbekannter Inder an ihn richtet (übrigens ohne Erfolg auch an zwei andere englische Mathematiker): Sehr geehrter Herr, darf ich mich Ihnen vorstellen als Angestellter der Buchhaltung in der Hafenverwaltung von Madras mit einem Jahreseinkommen von £20. Ich bin jetzt 23 Jahre alt. Ich habe keine abgeschlossene Universitätsausbildung, habe aber den üblichen Unterricht absolviert. Nachdem ich die Schule verlassen habe, habe ich mich in der mir zur Verfügung stehenden Freizeit mit Mathematik beschäftigt. Ich habe nicht den konventionellen geregelten Weg beschritten, ... sondern ich gehe einen eigenen neuen Weg. ... Ich bitte Sie, die beigefügten Papiere durchzusehen. Da ich arm bin, möchte ich gerne meine Sätze veröffentlichen, falls Sie überzeugt sind, dass sie einen Wert haben. ...
Als dieser Brief Srinivasa Ramanujans mit Formeln aus dessen Notizbuch mit dem Titel Ordnung des Unendlichen eintrifft, zieht er seinen Kollegen Littlewood zu Rate. Später erinnert er sich:
- Einige Formeln erschlugen mich regelrecht; ich hatte zuvor nichts auch nur im Entferntesten Ähnliches zu Gesicht bekommen. Ein einziger Blick darauf genügte, um zu erkennen, dass nur ein Mathematiker allerhöchsten Ranges sie niedergeschrieben haben musste. Sie mussten wahr sein, denn wären sie es nicht gewesen, so hätte kein Mensch die Fantasie besessen, sie zu erfinden.
Hardy kann die Verantwortlichen seiner Universität davon überzeugen, dass Ramanujan zu einem Studienaufenthalt eingeladen werden sollte. Nur wenige Tage vor Ausbruch des 1. Weltkriegs trifft dieser am Trinity College ein.
Mit großer Behutsamkeit vermitteln Hardy und Littlewood dem Gast die Grundlagen "moderner Mathematik", um die genialen Gedankengänge des indischen Mathematikers entsprechend den wissenschaftlichen Standards darstellen zu können. In Zusammenarbeit mit Hardy entstehen mehrere Arbeiten, die in Fachzeitschriften veröffentlicht werden. Als der Krieg zu Ende ist, reist der durch Krankheit sehr geschwächte Ramanujan wieder in seine Heimat zurück, wo er ein halbes Jahr später stirbt.
In einem Interview mit Paul Erdős antwortet Hardy auf die Frage nach seinem eigenen wichtigsten Beitrag zur Mathematik: die Entdeckung Ramanujans!
Hardy, der die Leistungen der Mathematiker an deutschen Universitäten bewundert und auch die Sozialgesetzgebung des Deutschen Reichs als vorbildlich ansieht, hält den Eintritt Englands in den 1. Weltkrieg für falsch. In seinen politischen Ansichten stimmt er zunehmend mit Bertrand Russell überein, der sich – seit 1910 als Dozent für Mathematik und Logik am Trinity College tätig – öffentlich für Kriegsdienstverweigerung einsetzt (und deswegen seine Stelle verliert und sogar zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wird).
Da er sich in Cambridge zunehmend unwohl fühlt, nimmt er einen Ruf nach Oxford an (Savilian Professor of Geometry). Rückblickend bezeichnet er diese Zeit bis zur Rückkehr nach Cambridge im Jahr 1931 als seine glücklichste Zeit. Auch wenn die Zusammenarbeit mit Littlewood jetzt logistisch schwieriger geworden ist, veröffentlichen die beiden zunehmend bedeutendere Beiträge zur Fourier-Analysis, über divergente Reihen, die Riemann'sche Zeta-Funktion, die Verteilung der Primzahlen sowie zur Waring'schen Vermutung.
Claude Gaspard Bachet de Méziriac hatte 1621 (nach der Lektüre der Arithmetica von Diophant) vermutet, dass der folgende Satz gilt: Jede natürliche Zahl lässt sich als Summe von vier Quadratzahlen darstellen. Nachdem es dann 1770 Joseph-Louis Lagrange gelungen war, diesen Vier-Quadrate-Satz zu beweisen, hatte der englische Mathematiker Edward Waring die Vermutung aufgestellt, dass es nicht nur für \(k = 2\), sondern auch für höhere Potenzen (\(k > 2\) ) eine Regel gibt. Der Neun-Kuben-Satz (also für den Exponenten \(k = 3\) ) konnte erst 1912 bewiesen werden: Um eine natürliche Zahl als Summe von Kubikzahlen darzustellen, benötigt man (maximal) \(g(3) = 9\) Summanden.
Hardy und Littlewood entwickelten in den 1920er-Jahren einen Ansatz von Ramanujan weiter, der als Hardy-Littlewood-Methode in die Fachliteratur einging und Grundlage aller nachfolgenden Beweiszugänge war. Für \(k = 4\) erfolgte 1986 der Beweis, dass \(g(4) = 19\), und der chinesische Mathematiker Chen Jingrun, der auch große Fortschritte bei der Untersuchung der Goldbach-Vermutung erzielte, zeigte im Jahr 1964, dass \(g(5) = 37\).
1931 kehrt Hardy nach Cambridge zurück und wird Sadleirian Professor of Pure Mathematics; dies ist die angesehenste Professur für Mathematik in England. Für den Junggesellen Hardy ist eine Rahmenbedingung der Professur besonders wichtig: Er hat hier einen lebenslangen Anspruch auf eine Wohnung in der Universität. Diese ist sehr einfach, so dass David Hilbert nach einem Besuch dem Leiter der Universität in einem Brief sein Unverständnis darüber mitteilt, warum dem besten Mathematiker Englands nicht die beste Wohnung der Universität zugeteilt würde.
Für den bescheiden lebenden Hardy ist dies allerdings nicht von Bedeutung. Sein Tag verläuft am liebsten so: Frühstück mit Lektüre der Times (hier insbesondere die Berichte über die letzten Kricket-Spiele), von 9 bis 13 Uhr Arbeit im Rahmen seiner Verpflichtungen oder aktuellen Forschungen; nach dem Lunch ein Spaziergang zum Kricket-Feld der Universität, um die laufenden Spiele anzuschauen. Der Tag endet mit dem Dinner und einem anschließenden Glas Wein.
Hardy scheut öffentliche Auftritte und lässt sich ungern fotografieren (es gibt nur wenige Schnappschüsse von ihm). Gleichwohl ist er bereit, öffentliche Funktionen zu übernehmen: Für zwei Jahre übernimmt er die Präsidentschaft der Gewerkschaft Association of Scientific Workers, und zweimal lässt er seine Wahl zum Vorsitzenden der London Mathematical Society zu.
Der Agnostiker Hardy weigert sich, an offiziellen Veranstaltungen teilzunehmen, die in der Universitätskapelle stattfinden. Gleichwohl denkt er sich immer wieder Tricks aus, wie er den (eigentlich für ihn) nicht existierenden Gott hereinlegen kann. Beispielsweise verschickt er vor einer stürmischen Schiffsüberfahrt von Dänemark nach England eine Postkarte mit dem Vermerk, es sei ihm gelungen, die Riemann'sche Vermutung zu beweisen – in der Überzeugung, dass er mit Sicherheit überleben wird, denn Gott würde es nie zulassen, dass ein weiteres "last theorem" diesmal Hardys Namen tragen würde. Und um zu verhindern, dass es bei einem wichtigen Kricketspiel regnet, packt er Regensachen, Vortragsunterlagen und andere wichtige Papiere ein, damit Gott ihn von der vorgetäuschten Absicht einer Schreibtisch-Arbeit abhält.
Als Professor of Pure Mathematics hofft Hardy, dass die von ihm erforschten Gebiete niemals eine Anwendung finden. Dass ausgerechnet eines der wichtigsten Gesetze der Populationsgenetik als Hardy-Weinberg-Gleichgewicht auch seinen Namen trägt, versucht er stets kleinzureden. (Der deutsche Arzt und Vererbungsforscher Wilhelm Weinberg veröffentlicht dies unabhängig von ihm ebenfalls im Jahr 1908.)
Hardy-Weinberg-Regel: Sind in einer Ausgangspopulation der Genotyp AA mit Anteil \(p\) und der Genotyp BB mit Anteil \(q = 1 – p\) vorhanden, dann sind bei zufälliger Partnerwahl die Anteile für die Genotypen AA, AB, BB von der ersten Nachkommengeneration an konstant \(p^2 : 2pq : q^2\), und der Anteil der Allele A und B in den folgenden Generationen ist wieder \(p\) bzw. \(q\).
Sein Bekenntnis zur Unschuld und zur Schönheit der reinen Mathematik dokumentiert er im Jahr 1940 in der Schrift A Mathematician’s Apology (Rechtfertigung eines Mathematikers) es ist gleichsam sein Testament. Nach einem Herzinfarkt im Jahr 1939 hat sich sein gesundheitlicher Zustand zusehends verschlechtert. Auch spürt er, dass ihn seine geistige Schaffenskraft verlässt; resigniert stellt er fest: No mathematician should ever allow himself to forget that mathematics, more than any other art or science, is a young man's game. Hardy ist der Überzeugung, dass Mathematik "ewig" ist und "schön" sein muss: Archimedes will be remembered when Aeschylus is forgotten, because languages die and mathematical ideas do not. ... A mathematician, like a painter or a poet, is a maker of patterns. If his patterns are more permanent than theirs, it is because they are made with ideas. ... The mathematician's patterns, like the painter's or the poet's must be beautiful; the ideas, like the colours or the words must fit together in a harmonious way. Beauty is the first test: there is no permanent place in this world for ugly mathematics.
Am Ende der Schrift zieht er eine Bilanz über sein Leben: I have never done anything 'useful'. No discovery of mine has made, or is likely to make, directly or indirectly, for good or ill, the least difference to the amenity of the world.
Der bereits während der aktiven Zeit vielfach international geehrte Mathematiker erhält wenige Wochen vor seinem Tod noch die Copley Medal der Royal Society für sein Lebenswerk, das über 300 wissenschaftliche Beiträge und elf Bücher umfasst.
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