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Der Mathematische Monatskalender: Joseph Liouville (1809–1882)

Neben seiner Forschertätigkeit ist Liouville ein großer Organisator. Er gründet das "Journal de Mathématiques Pures et Appliquées" und gibt 58 Bände derselben heraus, mit zahlreichen Kommentaren versehen.
Joseph Liouville (1809–1882)

In der Funktionentheorie, also der Differenzial- und Integralrechnung für Funktionen, die in der Menge \(\mathbb{C}\) der komplexen Zahlen definiert sind, steht an zentraler Stelle der folgende Satz:

Satz von Liouville

Wenn eine überall differenzierbare Funktion \(f\) beschränkt ist, das heißt, wenn es eine positive Zahl \(c\) gibt, so dass für alle \(z \in \mathbb{C}\) gilt: \( |f(z)| < c\), dann ist die Funktion \(f\) konstant.

Dieser bemerkenswerte Satz gilt nicht für reellwertige Funktionen, wie man am Beispiel der Sinus- oder der Kosinusfunktion sieht, die überall auf der Menge der reellen Zahlendifferenzierbar sind und die Eigenschaft \(|f ( x )| \leq 1\) erfüllen. Der nach Liouville benannte Satz wurde 1844 von Augustin Cauchy bewiesen.

Joseph Liouville wächst in seinen ersten Lebensjahren bei einem Onkel auf, da sein Vater als Offizier der napoleonischen Armee an den Feldzügen durch Europa teilnimmt. Nach der glücklichen Heimkehr des Vaters kann die Familie wieder zusammenkommen. Joseph Liouville besucht die Schule in Toul (nahe Nancy) – mit Erfolg, denn er darf seine Schulausbildung am angesehenen Collège St. Louis in Paris fortsetzen.

1825 wird er zum Studium an der École Polytechnique zugelassen, hört Vorlesungen zur Analysis und zur Mechanik bei André-Marie Ampère und François Arago und legt 1827 sein Examen ab. Danach setzt er sein Studium an der École des Ponts et Chaussées fort, stellt aber bei der praktischen Arbeit im Gelände fest, dass ihm dies gesundheitliche Probleme bereitet. Da er in der Zwischenzeit eine Reihe von wissenschaftlichen Beiträgen verfasst hat, kann er darauf hoffen, eine feste Anstellung an einer Hochschule zu finden. Um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, übernimmt er Unterricht an verschiedenen Schulen – gleichzeitig bis zu 40 Stunden pro Woche, was manchmal zu Lasten der Qualität geht; auch redet er oft über die Köpfe seiner Schüler hinweg.

Dass Liouville – wegen des geringen Ansehens französischer Fachzeitschriften – seine Beiträge im Ausland, vor allem in Crelles Journal, veröffentlichen muss, ärgert ihn, sodass er 1836 den Entschluss fasst, selbst eine Fachzeitschrift herauszugeben. Sein Journal de Mathématiques Pures et Appliquées betreut er bis 1874. In Zusammenarbeit mit seinem Freund Peter Gustav Lejeune Dirichlet prägt er die Zeitschrift durch seine Kommentare und Ergänzungen, so dass diese bereits nach kurzer Zeit des Erscheinens allgemein als Journal de Liouville bezeichnet wird.

Nach einer vergeblichen Bewerbung um eine frei gewordene Professur an der École Polytechnique wird Liouville 1837 als Dozent am Collège de France zugelassen; als 1838 wieder eine Stelle an der École Polytechnique frei wird, ist seine Bewerbung diesmal erfolgreich. Nun kann er es sich erlauben, den Ablauf eines Jahres selbst zu gestalten: Den Sommer verbringt er in Toul, bearbeitet die nächste Ausgabe seines Journals und beschäftigt sich mit selbstgewählten Forschungsthemen; von November bis Juli lehrt er in Paris. 1843 versucht er, zusätzlich eine dauerhafte Professorenstelle am Collège de France zu erlangen. Im Bewerbungsverfahren unterliegt er einem verhassten Konkurrenten, dem selbstbewussten Grafen Guglielmo Libri Carucci dalla Sommaja, der durch Veröffentlichungen zur Geschichte der Mathematik in Italien auf sich aufmerksam gemacht hatte. Liouville fühlt sich gedemütigt und gibt seine Dozententätigkeit am Collège auf.

Von 1842 an beschäftigt sich Liouville mit den bis dahin immer noch nicht veröffentlichten Schriften von Évariste Galois. Er erkennt die Bedeutung der Galois'schen Theorien und kündigt 1843 in der Versammlung der Académie de France, deren Mitglied er seit 1839 ist, eine baldige kommentierte Veröffentlichung in seinem Journal an. Dies geschieht dann doch erst drei Jahre später und – trotz gegenteiliger Ankündigung – ohne Kommentare und Ergänzungen. (Man weiß von seinen Schülern Bertrand und Hermite, dass Liouville diese in seinen Vorlesungen vorgetragen hat.)

Während der Revolution des Jahres 1848 lässt er sich auf Bitten Aragos in die verfassungsgebende Versammlung wählen und beteiligt sich in der Fraktion der gemäßigten Republikaner an den Beratungen. Als seine erneute Kandidatur bei der Wahl im folgenden Jahr scheitert, zieht er sich verbittert aus den politischen Gremien zurück.

Insgesamt durchlebt Liouville eine äußerst depressive Phase, die abrupt endet, als er 1851 zum Nachfolger Libris als Professor am Collège de France ernannt wird. Libri war 1848 nach England geflohen, allerdings nicht aus politischen Gründen, sondern weil er des Diebstahls von Büchern (insgesamt etwa 30 000 Bände, darunter sehr wertvolle Exemplare) überführt worden war; die Bücher hatte Libri allerdings bei seiner Flucht mitgenommen. (Wegen seiner vermeintlichen Qualifikation war er von der Regierung beauftragt worden, die während der französischen Revolution beim Adel beschlagnahmten Bücher endlich einmal zu inventarisieren ...)

Dass er sich in der Bewerbung sogar gegen Augustin Cauchy durchsetzen kann, hebt Liouvilles Stimmung noch mehr.

Die folgenden Jahre kann man als Liouvilles produktivste Phase bezeichnen. Er veröffentlicht zahlreiche Forschungsergebnisse, die jedoch unter einem Mangel leiden: Bedingt durch die Übernahme einer zu hohen Vorlesungsverpflichtung schafft er es nicht, diese zu optimieren, und auch nicht, die Beweise der von ihm entdeckten mathematischen Sätze so auszuformulieren, dass sie immer seinen eigenen hohen Ansprüchen gerecht werden. Als 1857 Jacques Charles François Sturm stirbt, mit dem er ebenfalls erfolgreich zusammengearbeitet hatte (Sturm-Liouville'sche Differenzialgleichungen), übernimmt er auch noch dessen Mechanik-Vorlesungen an der Pariser Sorbonne. Mit dem Tod seines Freundes Dirichlet, mit dem er eine umfangreiche Korrespondenz gepflegt hatte, endet 1859 eine besonders intensive Schaffensphase.

Die Tätigkeit als Herausgeber einer Zeitschrift (insgesamt 58 Bände) ist für ihn stets mit der sorgfältigen Durchsicht der Beiträge verbunden, und es regt ihn zu wertvollen Ergänzungen an. Die Förderung junger Autoren (wie beispielsweise Joseph Bertrand und Charles Hermite) bei deren ersten Publikationen ist ihm ein besonderes Anliegen. Auch wenn er selbst nicht dazu kommt, ein Buch zu verfassen, gibt er unter anderem ein Werk von Gaspard Monge heraus: Application de l'analyse à la géométrie (Anwendung der Analysis in der Geometrie, 1850), mit eigenen Beiträgen zur Differenzialgeometrie von Kurven und Flächen im Raum.

Niels Henrik Abel und Galois hatten gezeigt, dass es kein allgemeines Lösungsverfahren für Gleichungen höheren als 4. Grades geben kann; Liouville kann 1840 beweisen, dass die Euler'sche Zahl e nicht Lösung einer algebraischen Gleichung 2. oder 4. Grades sein kann. 1844 gelingt es ihm, die Existenz transzendenter Zahlen nachzuweisen (also von Zahlen, die nicht Lösung einer algebraischen Gleichung sind), und zwar, indem er ganze Klassen von solchen Zahlen konstruiert und mithilfe von Kettenbrüchen darstellt. Auch weist er nach, dass die nach ihm benannte Liouville-Zahl \(L\) transzendent ist:

\(L=10^{-1}+10^{-2}+10^{-6}+10^{-24}+... \) \(= \sum_{k=1}^{\infty} 10^{-k!} = 0,110001000000000000000001...\)

Liouville verfasst insgesamt ca. 400 Beiträge, die Hälfte davon zur Zahlentheorie und ein Viertel zur Analysis und ihren Anwendungen in der Physik. Zahlreiche Begriffe erinnern noch heute an seine herausragenden Leistungen (Liouville'sche Fläche, Liouville'sche Formeln für die geodätische Krümmung, Liouville'sche Normalform von Differenzialgleichungen) und belegen seine Vielseitigkeit. Bereits in den 1830er Jahren hatte er untersucht, welche Funktionen als elementar bezeichnet werden können (Liouville'sche Funktionen), und dabei nachgewiesen, dass die Funktionen \(f(x)=\frac{\sin(x)}{x}\) und \( f(x)=e^{-x^2}\) nicht dazu gehören, weil sie nicht elementar integrierbar sind (das heißt, man kann keine explizite Stammfunktion für diese Funktionen angeben).

Bis zu seinem Tod nimmt er regelmäßig an den Sitzungen der Pariser Akademie teil, übernimmt 1870 deren Vorsitz; auch engagiert er sich im Bureau des Longitudes, dessen Mitglied er seit 1840 ist (als Nachfolger von Siméon Denis Poisson). Vielfach geehrt (unter anderem durch die Royal Society, die Akademien von Göttingen und Schweden), stirbt Liouville im Alter von 73 Jahren in Paris.

Joseph Liouville (1809–1882)

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