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Der Mathematische Monatskalender: Sophie Germain (1776–1831)

Als "Monsieur Leblanc" leistet sie wesentliche Beiträge zur Zahlentheorie, was selbst Carl Friedrich Gauß großen Respekt abnötigt.
Sophie Germain (1776 – 1831)

Am 27. 11. 1806 klopft ein Offizier der napoleonischen Besatzungstruppen in Braunschweig an die Haustür von Carl Friedrich Gauß und erkundigt sich nach dessen Wohlbefinden – im Auftrag einer Dame aus Paris. Gauß ist irritiert, denn er kennt niemand mit dem Namen Sophie Germain. Er ahnt nicht, dass der Schriftwechsel, den er in der letzten Zeit vermeintlich mit einem gewissen Antoine-Auguste Leblanc geführt hat, tatsächlich mit einer 30-jährigen Französin stattfand.

Marie Sophie Germain ist die mittlere der drei Töchter eines wohlhabenden und einflussreichen Pariser Seidenhändlers. Im Alter von 13 Jahren liest sie in Jean-Étienne Montuclas Histoire des mathématiques die Erzählung, wonach Archimedes ums Leben kam, weil er sich bei seiner Beschäftigung mit einem mathematischen Problem nicht stören lassen wollte (Noli turbare circulos meos).

Dies beeindruckt sie so sehr, dass sie beschließt, Mathematikerin zu werden. In der gut ausgestatteten elterlichen Bibliothek, abgeschirmt vor den Wirren der Revolution, vertieft sie sich in die vorhandenen Mathematik-Bücher. Als die Eltern ihr dies untersagen, weil eine solche Lektüre als nicht standesgemäß und unangemessen für eine Frau gilt, arbeitet sie heimlich weiter, bringt sich selbst Latein bei, um nachts die Original-Schriften von Isaac Newton und Leonhard Euler lesen zu können.

Im Jahre 1794 wird in Paris die École Polytechnique eröffnet. Zu diesem neuen Hochschultyp haben zwar Frauen keinen Zutritt, aber die Lehrtexte sind für alle verfügbar. Zu den Prinzipien der École gehört es, dass die Studenten am Ende eines Semesters ihren Professoren eigene Beiträge vorlegen. Sophie Germain arbeitet das Skript zur Analysis-Vorlesung von Joseph Louis Lagrange durch und legt diesem unter dem Pseudonym Leblanc, dem Namen eines ehemaligen Studenten, ihre Ausarbeitungen vor.

Lagrange ist von der Originalität der Gedanken des Papiers so beeindruckt, dass er den Studenten kennenlernen möchte. So ist Sophie gezwungen, ihre wahre Identität preiszugeben. Da aber Lagrange nichts dagegen hat, mit einer Frau über Mathematik zu sprechen, entwickelt sich aus der ersten persönlichen Begegnung ein regelmäßiger Kontakt. Und weil die Eltern mittlerweile ihren Widerstand gegen Sophies Beschäftigung mit Mathematik aufgegeben haben, kann Lagrange sie sogar in deren Haus besuchen, sie beraten und zu weiteren Untersuchungen ermutigen.

Als Adrien-Marie Legendre 1798 sein Essai sur la théorie des nombres veröffentlicht, nimmt sie auch zu diesem Kontakt auf. Sophie Germains Interesse an der Zahlentheorie wächst noch mehr, als 1801 die Disquisitiones Arithmeticae von Carl Friedrich Gauß erscheinen. Drei Jahre lang arbeitet sie sich durch das Werk und die zahlreichen darin enthaltenen Übungen. Von 1804 an entwickelt sich eine rege Korrespondenz zwischen dem "Monsieur Leblanc" und dem ein Jahr jüngeren Gauß.

Dieser ist von der Originalität von dessen Beweisführungen so angetan, dass er in Briefen an andere Mathematiker den unbekannten Franzosen lobend erwähnt (was ihm sonst immer sehr schwer gefallen ist).

Ende 1806 erfährt Sophie Germain von der Besetzung Braunschweigs durch die napoleonischen Truppen. Und weil die Situation sie an das Schicksal des Archimedes erinnert, nimmt sie in großer Sorge um das Leben des von ihr hochverehrten Genies Verbindung zu dem französischen Stadtkommandanten auf, der zufällig ein Freund ihrer Familie ist. Jetzt muss Sophie Germain alias Monsieur Leblanc auch dem irritierten Gauß gegenüber erklären, wer sie tatsächlich ist. Dessen Bewunderung ist nun fast grenzenlos; er lobt ihr außerordentliches Talent und ihren Mut, sich – allen gesellschaftlichen Vorurteilen gegenüber Frauen zum Trotz – mit den schwierigen Problemen der Zahlentheorie auseinandergesetzt zu haben. Nur wenige Mathematiker jener Zeit haben das Gauß'sche Jahrhundertwerk überhaupt verstanden – Sophie Germain gehört vermutlich dazu. Nach seiner Berufung zum Direktor der neuen Sternwarte in Göttingen im Jahr 1807 lässt Gauß' Interesse an der Zahlentheorie jedoch nach; so endet dann auch die Korrespondenz zwischen den beiden, ohne dass sie sich jemals persönlich begegnet sind.

Im Jahr 1787 hatte der aus Wittenberg stammende Ernst Florens Friedrich Chladni, eigentlich ein promovierter Jurist, eine Schrift zur Akustik veröffentlicht, in der er beschrieb, wie auf dünnen Metallplatten, die mit Sand bestreut werden, Muster entstehen, wenn diese (zum Beispiel durch seitliches Streichen mit einem Geigenbogen) in Schwingungen versetzt werden. Durch Vortragsreisen, bei denen er diese faszinierenden, nach ihm benannten Chladni'schen Klangfiguren vorführt, kann er schließlich sogar seinen Lebensunterhalt bestreiten und weiterführende Forschungen betreiben. So kommt Chladni 1808 auch nach Paris und begeistert die Besucher seiner Vorführungen. Die Académie des Sciences schreibt einen Wettbewerb aus, durch den – innerhalb einer Ausschreibungsfrist von zwei Jahren – eine theoretische Begründung des Phänomens gefunden werden soll.

Lagrange hat Bedenken, dass dies überhaupt möglich ist, da ihm die bekannten mathematischen Methoden hierfür nicht geeignet erscheinen. Als die Frist abgelaufen ist, liegt der Jury nur ein Beitrag vor – von Sophie Germain. Dieser wird jedoch der Ausschreibung nicht gerecht, da er weder auf die physikalischen Grundlagen eingeht noch den mathematischen Zusammenhang angemessen darstellt. Immerhin kann Lagrange, einer der Juroren, aus ihrem Beitrag eine Gleichung entwickeln, die gewisse Aspekte des Phänomens erfasst. Auch an der zweiten und dritten Ausschreibung beteiligt sich nur Sophie Germain, und sie erhält – trotz weiter bestehender Mängel – als Preis ein Kilogramm Gold. Die geäußerte Kritik an ihrem Beitrag, die Tatsache, dass dieser von der Académie nicht veröffentlicht worden ist, sowie die demonstrative Nicht-Beachtung ihrer Arbeit, unter anderem durch das Jury-Mitglied Siméon Poisson, veranlassen sie, nicht zur Preisverleihungsfeier zu erscheinen. Erst mit einer Verzögerung von sieben Jahren wird ihr, der Preisträgerin, als erster Frau das Recht eingeräumt, an den Sitzungen der Académie teilzunehmen; tatsächlich haben aber nur Lagrange und Legendre regelmäßigen Kontakt zu ihr. Als 1821 Poisson Ergebnisse ihres Wettbewerbsbeitrags in einer eigenen Publikation verwendet, macht sie dies durch Veröffentlichung der eigenen Arbeit deutlich (Recherches sur la théorie des surfaces élastiques).

Seit Fermats Tod im Jahr 1663 hatten sich zahlreiche Mathematiker mit der Behauptung auseinandergesetzt, dass die Gleichung \( \ x^n + y^n = z^n\ \) für \( \ n > 2\ \) keine ganzzahligen Lösungen besitzt. Auch Sophie Germain beschäftigt sich immer wieder mit diesem Problem. Bereits in den frühen Briefen an Gauß gibt sie einige Ansätze an; dieser geht aber in keinem seiner Antwortschreiben darauf ein (wie er sich überhaupt bedeckt hält, wenn er danach gefragt wird, welche Gedanken er sich zu diesem Problem gemacht habe). – Als im Jahr 1815 die Académie des Sciences einen Preis zur Lösung des Problems ausschreibt, widmet sich auch Sophie Germain wieder der Suche nach einem Beweis. 1819 wendet sie sich in einem Brief an Gauß, um dessen Meinung zu einer Strategie zu erkunden, mit der sie das Problem anzugehen gedenkt – ohne eine Reaktion des princeps mathematicorum.

Während sich die bisher vorliegenden Beweise auf konkrete Exponenten beziehen (Fermat für \(n = 4\), Euler für \(n = 3\)), hat sie eine bestimmte Menge von Primzahlen \(p\) im Blick, nämlich solche, für die \( \ 2p+1\ \) ebenfalls eine Primzahl ist (diese werden heute ihr zu Ehren als Sophie-Germain-Primzahlen bezeichnet). Aufgrund ihrer Vorarbeiten gelingt es dann Legendre im Jahr 1825, die Fermat'sche Vermutung für die Primzahl \(p = 5\) (\( 2p+1 = 11\) ist ebenfalls Primzahl) zu beweisen. In die erweiterte Ausgabe seiner Théorie des nombres übernimmt er auch einige der Beiträge Sophie Germains als Supplément, und bezeichnet sie als très ingénieuse.

1829 erkrankt sie an Brustkrebs. Trotz der geschwächten Konstitution verfasst sie noch zwei wissenschaftliche Arbeiten. Aufgrund eines Vorschlags von Gauß beschließt die Universität Göttingen, Sophie Germain die Ehrendoktorwürde zu verleihen – zu spät: Sie stirbt, bevor die Entscheidung verkündet wird.

Sophie Germain (1776 – 1831)

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