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Schlichting!: Wenn der Wind die Harfe spielt

Wind- oder Äolsharfen verwandeln bewegte Luft in Töne. Ihr Geheimnis verbirgt sich in der Strömungslehre und in der Form der umströmten Gegenstände.
Windharfe im Alten Schloss Baden-Baden

Heute sieht man sie immer seltener, aber bis vor wenigen Jahrzehnten haben oberirdische Telegrafen- und Stromleitungen zahlreiche Haushalte mit Nachrichten und elektrischer Energie versorgt. Mit den typischen hölzernen Masten verschwindet auch ein eindrucksvolles akustisches Phänomen: Bei kräftigem Wind – oder wenn man sein Ohr an einen der Pfeiler hält – sind heulende, lang gezogene Töne zu hören, die mit der Windstärke auf- und abschwellen. Sie werden von den Drähten hervorgerufen, die darüber hinwegziehende Luft in Schwingung versetzt. Die Masten fungieren dabei als Resonanzkörper.

In ländlichen Gegenden führen manchmal noch solche Leitungen zu den Häusern, doch meist sind sie verstummt. Denn inzwischen bestehen sie statt aus relativ dünnen Drähten aus dicken, isolierten Kabeln, die dafür weniger geeignet sind. Allenfalls Weidezäune aus einzelnen gespannten, zylindrischen Drähten bieten bei starkem Wind eine Chance auf ähnliche Töne.

Hinter zahlreichen alltäglichen Dingen versteckt sich verblüffende Physik. Seit vielen Jahren spürt H. Joachim Schlichting diesen Phänomenen nach und erklärt sie in seiner Kolumne. Schlichting ist Professor für Physik-Didaktik und arbeitete bis zur Emeritierung an der Universität Münster. Alle seine Beiträge finden sich auf dieser Seite.

Mit der Elektrifizierung hat das allerdings gar nichts zu tun; schon lange vorher haben die Menschen derartige vom Wind hervorgerufene Klänge in der Natur wahrgenommen und versucht, sie mit Hilfe besonderer Vorrichtungen gewissermaßen einzufangen. Die Windharfen oder Äolsharfen (nach dem Windgott Aiolos) genannten Geräte waren bereits im Altertum bekannt. Das Wissen hat sich bis in die Neuzeit gehalten, wo der Universalgelehrte Athanasius Kircher (1602–1680) ein Exemplar baute. Erst während der Romantik im 19. Jahrhundert erlebte das Musikinstrument eine neue Blütezeit. Auch heute noch kann man Äolsharfen als Kunstwerke im öffentlichen Raum vorfinden oder sogar für den eigenen Garten kaufen.

Windharfe | In der Burgruine Schloss Hohenbaden steht eine 1999 erbaute Windharfe mit 120 Saiten und einer Höhe von mehr als vier Metern.

Das Funktionsprinzip blieb lange ein Rätsel, obwohl die Beobachter durchaus den Wind ursächlich mit dem Klang in Verbindung brachten. Arbeiten von Vincent Strouhal (1850–1922) führten schließlich zu einer weitgehend korrekten Erklärung. Der tschechische Physiker stellte fest, dass ein von Luft umströmter zylindrischer Draht selbst dann Töne erzeugt, wenn er an der eigentlichen Schwingung gar nicht teilnimmt. Die jeweilige Tonhöhe beziehungsweise Frequenz erweist sich als unabhängig von Material, Länge und Spannung des Drahts. Sie ist lediglich proportional zur Windgeschwindigkeit und steht im umgekehrten Verhältnis zum Drahtdurchmesser. Die gemeinsame dimensionslose Proportionalitätskonstante besitzt für viele zylindrische Objekte einen Wert von ungefähr 0,2. Zum Beispiel würde bei einer frischen Brise mit einer Windgeschwindigkeit von zehn Metern pro Sekunde ein drei Millimeter dicker Draht einen Ton mit einer Frequenz von rund 670 Hertz abgeben.

Eine leise Schwingung schaukelt sich auf

Der Ton entsteht, indem sich die Luft vor dem im Strom stehenden zylindrischen Draht zunächst verdichtet. Anschließend erfolgt der Druckausgleich mit der verdünnten Luft hinter dem Hindernis – infolge der Reibung an dessen Rändern nicht kontinuierlich, sondern ruckweise periodisch. Dabei lösen sich abwechselnd an der einen und anderen Seite des Zylindermantels Wirbel. Sie rotieren entgegengesetzt und erzeugen eine so genannte kármánsche Wirbelstraße, benannt nach nach dem ungarischen Physiker Theodore von Kármán (1881–1963). Die Wirbel stoßen sich, anschaulich gesprochen, vom Draht ab. Die entsprechenden Reaktionskräfte sind zwar im Allgemeinen sehr klein und bewegen ihn kaum. Nähert sich der Takt der Wirbelablösung jedoch einer der Eigenfrequenzen des Drahts, regt ihn das zum Mitschwingen an.

Kármánsche Wirbelstraße | Bei einer kármánschen Wirbelstraße lösen sich abwechselnd entgegengesetzt rotierende Wirbel auf der Rückseite eines umströmten Zylinders ab.

Während die Masse, die Spannung und die Länge des Drahts für die Vorgänge bis hierhin keine Rolle gespielt haben, sind sie für die Eigenfrequenz entscheidend. Ihre Werte legen gemeinsam den Ton fest, wenn der Draht zum Beispiel durch Zupfen ausgelenkt wird. Neben der Grundfrequenz, in der sich die Saite zwischen den Fixierungen an den Enden periodisch auf und ab bewegt, treten zusätzlich Oberschwingungen als ganzzahlige Vielfache auf.

Stimmt nun eine der Eigenfrequenzen des schwingenden Drahts ungefähr mit der Frequenz der Wirbelablösung überein, gerät er in Resonanz. Dabei schaukelt er sich zu einer großen Auslenkung auf, verstärkt den durch die Wirbel hervorgerufenen leisen Ton kräftig und macht ihn gegebenenfalls weithin hörbar.

»Du, einer luftgebornen Muse
Geheimnisvolles Saitenspiel«
Eduard Mörike, 1804–1875

Bemerkenswerterweise muss das Hin und Her der Strömung nur in der Nähe der Eigenfrequenz liegen, um den Draht in Resonanz zu bringen. Normalerweise schwingt ein System genau mit der Frequenz, in der es angeregt wird. Doch im Fall der Äolsharfe rastet der vibrierende Draht gewissermaßen in die Eigenfrequenz ein. Unter Fachleuten ist das Verhalten als Lock-in-Effekt bekannt. Er kann bei zahlreichen Systemen auftreten – nicht bloß bei mechanischen, sondern etwa auch in elektrischen Schwingkreisen.

Ohne Lock-in würde eine Äolsharfe nicht funktionieren. Da nämlich die Windgeschwindigkeit nie völlig konstant ist, wiche sonst die Frequenz der Wirbelablösung immer wieder von der exakten Eigenfrequenz ab. Das Instrument wäre also die meiste Zeit kaum zu hören. Innerhalb des Lock-in-Bereichs ist die Auslenkung des Drahts am größten, wenn er genau mit der Frequenz der Wirbelablösung schwingt, und sie nimmt mit zunehmender Abweichung davon ab. Darum schwankt die Lautstärke der jeweiligen äolischen Töne mit der Windgeschwindigkeit, und es entsteht ein typischer anschwellender und wieder verhallender Klang. Größere Variationen der Windstärke bringen gegebenenfalls andere Saiten zum Klingen.

Das Prinzip der Anregung funktioniert ganz allgemein bei umströmten Zylindern. Das lässt sich mit einem einfachen Experiment leicht nachvollziehen: Man benötigt lediglich einen längeren, schlauchartigen Luftballon, den man an einem Ende anfasst und schnell mit dem Arm hin und her oder auf und ab bewegt. Der Ballon vibriert dadurch deutlich fühl- und sichtbar senkrecht zur Bewegungsrichtung.

Übrigens haben die brummenden Töne, die zuweilen unter Hochspannungsleitungen zu hören sind, mit dem Mechanismus nichts zu tun. Ihr Ursprung sind zwar auch schwingende Drähte, dazu führt allerdings nicht Wind, sondern ein elektrodynamischer Vorgang. Jeder stromdurchflossene Leiter ist von einem Magnetfeld umgeben. Die Felder wirken so aufeinander, dass sich gleichartige abstoßen und unterschiedliche anziehen. Durch den Takt des Netzes geraten die parallel verlaufenden Seile in eine charakteristische 50-Hertz-Oszillation, die sich auf die Luft überträgt und an unser Ohr gelangt. Der Ton ist also nicht nur wegen seines unangenehmen Brummens, sondern auch in physikalischer Hinsicht kaum mit dem Wohlklang von Äolsharfen zu vergleichen.

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  • Quellen

Strouhal, V.: Über eine besondere Art der Tonerregung. Annalen der Physik und Chemie 241, 1878

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