Lexikon der Biologie: Gliazellen
Gliazellen [von *glia- ], Gliocyten, Gliozyten, übergreifende Bezeichnung für eine heterogene Gruppe von nichtneuronalen Zelltypen des Nervensystems der Tiere und des Menschen, die u.a. Stütz-, Isolations-, Puffer- sowie neurotrophische und immunreaktive Funktionen des Nervensystems übernehmen. Zudem spielen die Zellen eine Rolle während der Embryonalentwicklung.
Obwohl R. Virchow schon 1846 erkannte, daß das Nervensystem aus 2 grundsätzlich verschiedenen Zelltypen, Nervenzellen und Gliazellen, besteht, weiß man auch heute über Gliazellen im Vergleich zu Nervenzellen relativ wenig. Dies ist überraschend, da es im Nervensystem der Wirbeltiere schätzungsweise 10–50mal mehr Gliazellen als Nervenzellen gibt und sie zudem mehr als die Hälfte des Nervensystem-Volumens ausmachen. Sie unterscheiden sich von Nervenzellen in vielerlei Hinsicht: sie besitzen z.B. weder Axon noch Dendriten, können kein Aktionspotential bilden oder weiterleiten und übernehmen keine direkte Funktion in der Erregungsleitung. Über eine Regulation des Ionen- und Neurotransmittergehalts (Neurotransmitter) im extrazellulären Raum bzw. synaptischen Spalt (Synapsen) üben sie allerdings einen indirekten Einfluß auf die Informationsübertragung aus. Während die Klassifizierung von Gliazellen bei Wirbellosen noch Schwierigkeiten bereitet, unterteilt man die Gliazellen der Wirbeltiere in Makrogliazellen (ektodermal; hierzu zählen die Astrocyten und Oligodendrocyten im Zentralnervensystem [ZNS] und Schwann-Zellen im peripheren Nervensystem) und Mikrogliazellen (mesodermal). Die Funktionen der Makrogliazellen sind heterogen. Die Astrocyten, in der grauen Substanz die zahlenmäßig bedeutsamste Gruppe von Gliazellen, besitzen eine sehr unregelmäßige Form mit vielen oftmals recht langen Fortsätzen (sternförmig, Name!) und stellen einen sehr engen, bei vielen Tieren fast die ganze Nervenzelloberfläche abdeckenden Kontakt zu Nervenzellen her. Eine direkte elektrische Verbindung (z.B. via gap-junctions) zwischen den beiden Zelltypen konnte bisher nicht nachgewiesen werden. Die Astrocyten untereinander sind hingegen elektrisch gekoppelt. Es gilt als relativ sicher, daß Gliazellen von Nervenzellen Signale aufnehmen können. So führt z.B. das bei der Neurotransmission zwischen Nervenzellen frei werdende Kalium in den benachbarten Astrocyten zu einer Depolarisation. Außerdem besitzen Astrocyten (wie auch andere Gliazelltypen) Rezeptoren für Neurotransmitter. Astrocyten spielen u.a. eine wichtige Rolle während der Entwicklung des ZNS, stellen die eigentliche Blut-Hirn-Schranke dar, bilden eine Isolationsschicht, die Gehirn und Rückenmark nach außen hin abschließen, besitzen Pufferkapazitäten sowohl für Neurotransmitter als auch für Ionen (Elektrolythaushalt) und übernehmen neurotrophische (neurotrophe Faktoren) sowie neuroprotektive Funktionen. Astrocyten stellen im Ruhezustand und vermehrt bei pathologischen Veränderungen im Nervensystem das astrocytenspezifische Protein GFAP her. Oligodendrocyten besitzen im Gegensatz zu den Astrocyten nur wenige und kurze Fortsätze. Sie finden sich hauptsächlich in der weißen Substanz des ZNS, wo sie die Myelinscheide (Markscheide) um größere Axone bilden. Diese Isolationsschicht ist für die saltatorische Erregungsleitung von fundamentaler Bedeutung. Darüber hinaus stellen Oligodendrocyten Moleküle her, die das axonale Wachstum hemmen und vermutlich für die Inhibition von Reinnervierungsvorgängen im ZNS verantwortlich sind. Im peripheren Nervensysten übernehmen die Schwann-Zellen eine ähnliche Funktion wie die Oligodendrocyten im ZNS. Auch sie isolieren Axone mit einer Myelinschicht. Im Unterschied zu Oligodendrocyten, die mehrere Axone und sogar Axonbündel unabhängig voneinander umwickeln können, kann eine Schwann-Zelle nur 1 Axon isolieren. Darüber hinaus stellen Schwann-Zellen in bezug auf das axonale Wachstum keine hemmenden Moleküle her. Dies ist möglicherweise der Grund dafür, daß es nach Durchtrennen der axonalen Verbindungen im peripheren Nervensystem – z.B. durch Verletzungen – zu einer ausgeprägten Reinnervation kommen kann. Mikrogliazellen wirken als Makrophagen des Gehirns. Sie phagocytieren (Phagocytose) Fremdkörper und abgestorbene Nervenzellen. Außerdem sind sie an der Infekt-Abwehr (Infektion) beteiligt. Sowohl Mikro- als auch Makrogliazellen spielen eine wichtige Rolle bei neuroimmunologischen Prozessen (Neuroimmunologie).
Die Ursache mehrerer schwerer Erkrankungen des Nervensystems sind abnormale Veränderungen von Gliazellen. Die multiple Sklerose oder das Guillain-Barré-Syndrom sind z.B. die Folge von Demyelinisierungsprozessen (Dysmyelinisierung). Die meisten Tumore des ZNS werden durch malignes Wachstum von Gliazellen (Gliom) verursacht. glia growth factor.
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