Lexikon der Geowissenschaften: Erdbeben
Erdbeben, werden durch plötzliche Freisetzung von Deformationsenergie, die sich in begrenzten Bereichen der Lithosphäre angestaut hat, verursacht. Dieser Vorgang erzeugt kurzzeitige Erschütterungen, die sich als seismische Impulse oder Wellen vom Erdbebenherd ausbreiten und von Seismographen aufgezeichnet werden. Ist das Erdbeben stark genug und liegt das Hypozentrum des Bebens in der Nähe bewohnter Gegenden, können die Erschütterungen direkt vom Menschen gespürt werden sowie Schäden oder Zerstörungen an Bauwerken bewirken (seismisches Risiko). Die Stärke eines Erdbebens wird durch die Magnitude angegeben. Sie kann aus den Amplituden von seismischen Wellen bestimmt werden. Dagegen beschreibt die makroseismische Intensität die Auswirkungen eines Erdbebens im unmittelbaren Herdgebiet auf Mensch, Bauwerke und Natur. Erdbeben treten nur in Tiefen bis etwa 700 km auf. Bei Herdtiefen von 0-70 km spricht man von Flachbeben, bei 70-300 km von mitteltiefen Beben und ab 300 km von Tiefherdbeben. Erdbeben sind nicht gleichmäßig verteilt. Ihre geographische Verteilung zeigt Häufungen in Erdbebengebieten. Die meisten Erdbeben (etwa 95%) treten an den Rändern von tektonischen Platten auf (Tektonik Abb.); man bezeichnet diese auch als Interplatten-Erdbeben. Etwa 70% aller Erdbeben konzentrieren sich auf den zirkumpazifischen Gürtel; hier beobachtet man auch die meisten mitteltiefen und Tiefherdbeben. Etwa 25% der Erdbeben liegen in dem Bereich, der sich von den Alpen über den Mittelmeerraum und Vorderasien bis zum Himalaya erstreckt. Die übrigen Beben verteilen sich vorwiegend auf Mittelozeanische Rücken und kontinentale Riftzonen. Die Erdbebengebiete stellen sich zumeist als linear ausgeprägte Gürtel dar. Lediglich im östlichen Mittelmeerraum und in Zentralasien ist die räumliche Verteilung der Erdbeben diffuser. Flache Erdbeben treten seltener auch im Innern von Lithosphärenplatten auf. Diese Erdbeben (Intraplatten-Beben) haben sehr lange Wiederholungsperioden (möglicherweise tausende von Jahren), und sie sind besonders heimtückisch, wenn sie in irrtümlicherweise als erdbebenfrei geltenden Zonen auftreten. Ein dramatisches Beispiel ist das Killari-Beben vom 29.9.1993 in Zentralindien, in einem bis dahin als aseismische Region angesehenen Gebiet, das viele Menschenleben forderte.
Die meisten Flachbeben sind tektonischen Ursprungs. Wie aus tausenden von Untersuchungen bestätigt wurde, haben sie die für einen Scherbruch typische Abstrahlcharakteristik. Sie werden entweder durch Brüche im ungebrochenen Gestein (selten) oder an bereits existierenden Verwerfungen verursacht. Abhängig vom Spannungsfeld, beschrieben durch die Hauptspannungen σ1, σ2 und σ3 (σ1 ist die größte und σ3 die kleinste Kompressionsspannung), unterscheidet man drei grundlegende Verwerfungstypen (sinistral, synthetische Abschiebung, antithetische Abschiebung) oder Herdmechanismen ( Tab. ). Neben diesen reinen Verschiebungsformen gibt es auch noch gemischte Formen, z.B. schräge Auf- oder Abschiebungen (oblique slip), bei denen sich eine Horizontalverschiebung mit einer Auf- oder Abschiebung überlagert. Die Herdflächenlösung eines Erdbebens enthält Informationen über den Herdmechanismus und das lokale Spannungsfeld in der Umgebung des Erdbebenherdes. Mit der Verwendung von standardisierten und gut geeichten Seismographensystemen im World Wide Standardized Seismograph Network (seismographische Netze) Ende der fünfziger und zu Beginn der sechziger Jahre war es endlich möglich, neben verbesserten Lokalisierungen von Erdbeben auch zuverlässige Herdflächenlösungen von weltweit registrierten Erdbeben der Magnitude M ≥ 6 zu erhalten. Diese Untersuchungen trugen wesentlich zur Hypothese der Plattentektonik bei. Viele Flachbeben im Bereich der zirkumpazifischen Konvergenzzonen werden durch Aufschiebungen der Oberplatte über die abtauchende ozeanische Unterplatte verursacht. Beispiele sind die bisher stärksten instrumentell registrierten Erdbeben 1960 in Chile (Magnitude Mw = 9,5) und 1964 in Alaska (Mw = 9,2). Das deutlich schwächere Antofagasta-Beben in Chile (Mw = 7,8) vom 30.7.1995 war ebenfalls ein Aufschiebungsbeben, für das GPS-Messungen eine koseismische Verschiebung von 0,8 Meter in Ost-West Richtung ergaben. Erdbeben im Bereich von Transform-Störungen (z.B. San Andreas, nordanatolische Verwerfung) sind durch Horizontalverschiebungen gekennzeichnet. Klassische Beispiele sind das San Francisco-Beben von 1906 (Mw = 7,9) und das Erzincan-Erdbeben vom 13.3.1992 in der Türkei (Mw = 6,7). Abschiebungsbeben treten in Zerrungsgebieten auf, z.B. entlang mittelozeanischer Rücken und kontinentaler Riftsysteme. Auch im Gebiet des Rheingrabens und der niederrheinischen Bucht werden Abschiebungsbeben beobachtet, z.B. das Roermond Erdbeben vom 13.4.1992 (ML = 5,9) in 18 km Tiefe. Mitteltiefe und Tiefherdbeben treten überwiegend in planar in den Mantel abtauchenden, ozeanischen Lithosphärenplatten auf (Wadati-Benioff-Zone). Ihre Mechanismen weisen darauf hin, daß die abtauchende Platte entweder komprimiert wird (σ1 parallel zur Abtauchrichtung) oder unter Zugspannung steht (σ3 parallel zur Abtauchrichtung). Nahe beieinanderliegende Zonen von Kompressions- und Zugspannungen werden in seismischen Doppelzonen unterhalb von Japan in 50-200 km beobachtet. Eine mögliche Erklärung geht davon aus, daß es durch Biegung der Platte zur Ausbildung einer neutralen Spannungszone kommt, die Gebiete mit Kompressions- und Zugspannungen voneinander trennt.
Die Elastic-Rebound-Theorie beschreibt den zeitlichen und räumlichen Deformationsprozeß im Bereich von Flachbeben. Sie wurde 1910 von dem amerikanischen Geologen Reid aufgrund von geodätischen Beobachtungen vor und nach dem San Francisco-Beben von 1906 aufgestellt und ist auch heute noch in ihren grundlegenden Zügen akzeptiert. Ihre wesentlichen Merkmale sind ( Abb. 1 ): Eine Verwerfung trennt zwei Lithosphärenplatten; im Beispiel der San Andreas Verwerfung sind dies die pazifische und die nordamerikanische Platte. Diese beiden Platten gleiten langsam aneinander vorbei. Entlang von Teilen der Verwerfungsfläche wird stetiges Gleiten durch den hohen Reibungswiderstand vorübergehend blockiert. In größerer Entfernung von der Verwerfung kommt es dann zur Deformation innerhalb der beiden Blöcke, die zu einer Verformung der geodätischen Linien führt und gemessen werden kann. Vor dem San Francisco-Beben betrug die gemessene Verformung 3,2 m über einen Zeitraum von 50 Jahren. Die Deformation schreitet solange fort, bis die Scherspannungen an einem Punkt der Verwerfungsfläche einen kritischen Wert erreichen, der der Scherfestigkeit zwischen den festgehakten Lithosphärenplatten auf der Verwerfungsfläche entspricht. Die beiden Blöcke beginnen aneinander vorbeizuschnellen, wobei der Ausgangspunkt des Bruches das Hypozentrum des Erdbebens darstellt. Der Bruch breitet sich vom Hypozentrum mit einer Geschwindigkeit von 1-3 km/s aus, und er endet erst dort, wo die Scherspannungen die Scherfestigkeit unterschreiten. Bei sehr starken Erdbeben erstreckt sich der Bruch über sehr große Entfernungen. So betrug beim Erdbeben 1964 in Alaska (Mw = 9,2) die Längsausdehnung der Bruchfläche 1000 km und beim San Francisco-Beben von 1906 400 km. Während des Bruchvorgangs ändern sich die Scherspannungen dynamisch; dies ist schematisch in Abb. 2 für einen Punkt auf der Bruchfläche gezeigt. Beim Nahen der Bruchfront steigt die Scherspannung zur Zeit t0 von einem regionalen Wert τ0 auf den Wert τs, der Scherfestigkeit an diesem Punkt. Es kommt zum Bruch, wobei der Punkt um einen bestimmten Betrag verschoben wird. Diese Verschiebung wird als Dislokation des Punktes bezeichnet. Damit geht eine Reduzierung der Scherspannung auf τf einher, die etwa der Gleitreibungsspannung entspricht. Nach Ende des Bruchvorgangs zur Zeit t1 beträgt die Scherspannung τ1. Die Differenz τ0-τ1 ist der statische Spannungsabfall (static stress drop) im Erdbebenherd, dessen Durchschnittswert für viele Flachbeben bei etwa 300 MPa (30 bar) liegt, mit großen Variationen nach oben und unten. Dieser Wert scheint unabhängig von der Stärke des Erdbebens zu sein. Die Stärke eines Erdbebens ergibt sich in erster Linie aus dem mittleren Dislokationsbetrag und aus der Dimension der Herdfläche (seismisches Moment). Der eigentliche Dislokationsvorgang bei großen Erdbeben ist oft sehr komplex, wie aus der Analyse von Beschleunigungsseismogrammen, die in Herdnähe registriert worden sind, und Breitbandregistrierungen (Breitband-Seismometer), die in größerer Entfernung vom Herd registriert werden, hervorgeht. Demnach erfolgt die Bruchausbreitung oft ungleichmäßig mit variablen Bruchgeschwindigkeiten und in mehreren Bruchepisoden. Der Grund ist, daß die rheologischen und physikalischen Eigenschaften entlang der Verwerfungsfläche variieren oder die Struktur der Herdfläche einen einfachen Bruch verhindert. Diese Barrieren können im Laufe des Erdbebens überwunden werden; sie können aber auch so stark sein, daß sie überhaupt nicht oder erst später durch die vom Erdbeben verursachten Spannungsumlagerungen brechen (Nachbeben). Mitteltiefe und Tiefherdbeben haben zwar auch die für einen Scherbruch typische Abstrahlcharakteristik, doch es scheint zweifelhaft, ob Sprödbruchverhalten (Sprödigkeit) bei den Umgebungsdrucken in Tiefen ab etwa 70 km noch möglich ist. Auslösender Faktor bei mitteltiefen Erdbeben sind wahrscheinlich Entwässerungsreaktionen und Phasenumwandlungen (Green und Houston, 1995). Vor allem die Mechanismen von Tiefherdbeben werden kontrovers diskutiert und stellen aktive Forschungsschwerpunkte in der Seismologie und in der Mineralphysik dar. Die mittlere zeitliche Verteilung von Erdbeben ist über den Zeitraum instrumenteller Beobachtungen seit über hundert Jahren konstant geblieben. Die jährliche Häufigkeit von Flachbeben der Magnitude mb oder größer ergibt sich aus
logN = 7,8-1,0 mb.
Danach treten im jährlichen Mittel etwa 60 Erdbeben mit mb ≥ 6 und 6 Erdbeben mit mb ≥ 7 auf. Periodizitäten oder langfristige Änderungen hat man nicht eindeutig nachweisen können. Hiervon ausgenommen sind Vor- und Nachbebenserien, sowie Beobachtungen an einigen Erdbebenschwärmen, bei denen man glaubt, eine Korrelation mit den Gezeiten der festen Erde (Erdgezeiten) festgestellt zu haben. Gezeitenkräfte werden als Ursache von Mondbeben angesehen, spielen aber bei der Auslösung von mittleren bis größeren Erdbeben keine Rolle.
Neben tektonischen Erdbeben gibt es noch weitere Klassen von Erdbeben: vulkanische und vom Menschen verursachte Erdbeben (induzierte Seismizität). Vulkanische Erdbeben treten oft in großer Zahl in aktiven Vulkangebieten auf. Sie können unterschiedliche Ursachen haben. Relativ schwache (M 5) Erdbeben stellen wahrscheinlich Scherbrüche dar, die durch Änderungen des lokalen Spannungsfeldes als Folge von Magmenbewegungen in der Erdkruste verursacht werden. Daneben gibt es Erdbeben, die durch niedrig-frequente Signale (kleiner als 5 Hz) gekennzeichnet sind. Diese "langsamen" Erdbeben sind die Folge von Eruptionen und Entgasungsprozessen. Die Hypozentren dieser Ereignisse sind wegen emergenter P-Welleneinsätze und schwacher oder gänzlich fehlender S-Wellen schwer zu bestimmen. Harmonische Beben (harmonic tremors) sind seismische Ereignisse mit nahezu monochromatischem Signal zwischen 1 und 5 Hz, die Stunden oder sogar Tage andauern können. Ursachen hierfür sind wahrscheinlich Oszillationen von Gasen und Flüssigkeiten in Magmakammern und Magmenfluß durch permeables Gestein. Induzierte Seismizität wird durch vom Menschen verursachte Modifikationen des Spannungsfeldes und der Scherfestigkeit in der Erdkruste erzeugt. Erdbeben können durch Be- und Entlastungen an der Erdoberfläche und unter Tage im Bergbau, durch Einpressen von Flüssigkeiten in tiefe Bohrlöcher und durch unterirdische Explosionen induziert werden. Beim Einpressen von Flüssigkeiten in ein 3 km tiefes Bohrloch bei Denver (USA) traten in der Nähe des Bohrloches Erdbeben bis zur Magnitude M = 4 auf. Die eingepresste Flüssigkeit setzte die Scherfestigkeit im Gestein herab, was zur Rißbildung im Nachbargestein und damit zu den beobachteten Erdbeben führte. An der kontinentalen Tiefenbohrung hat man durch kontrolliertes Einpressen von Wasser Mikroerdbeben bis zur Magnitude M = 1,2 induzieren können. Die Verminderung der Scherfestigkeit durch erhöhten Porenwasserdruck ist auch bei der stauseeinduzierten Seismizität von großer Bedeutung, obwohl die zusätzlich aufgebrachten Porenwasserdrücke von etwa 1 MPa (10 bar) erheblich niedriger als die beim Abpressen von Flüssigkeiten in Bohrlöchern sind. Dafür kann der Effekt einen wesentlich größeren Bereich erfassen, was zu größeren Erdbeben führen kann. Das gilt ebenfalls für die durch die zusätzliche Wasserauflast verursachte Modifikation des Spannungsfeldes in der Erdkruste, die ebenfalls als Auslöser stauseeinduzierter Seismizität in Frage kommt. Beobachtungen von stauseeinduzierten Erdbeben gibt es u.a. von folgenden Orten: Lake Mead (USA), Koyna (Indien), Nurek (frühere Sowjetunion), Hsinfengkiang (China) und Kremasta (Griechenland). Bei dem bis jetzt stärksten stauseeinduzierten Erdbeben (ML = 6,5) am 10.12.1967 am Koyna Stausee südöstlich von Bombay fanden nahezu 200 Menschen den Tod; außerdem verursachte das Beben erhebliche Schäden. In Bergbaugebieten können sich Scherbrüche, ausgelöst als Folge von Spannungsumlagerungen in der Nähe von Hohlräumen ebenfalls als Erdbeben bemerkbar machen. Der Zusammenbruch von Hohlräumen unter Tage hat in den Kaliabbaugebieten von Mitteldeutschland zu weithin spürbaren Einsturzbeben geführt, u.a. bei Sünna am 23.6.1975, bei Völkershausen am 13.3.1989 und bei Halle am 11.9.1996. Erdbeben als Folge von unterirdischen Nuklearexplosionen sind im amerikanischen Testgelände in Nevada beobachtet worden. Hierbei handelt es sich ebenfalls um Scherbrüche, die durch die von der Detonation verursachten tektonischen Spannungsumlagerungen im unmittelbaren Sprenggebiet zum Zeitpunkt der Zündung oder kurz danach ausgelöst worden sind. Dies erschwert unter Umständen die Diskriminierung von nuklearen Sprengungen gegenüber Erdbeben.
Literatur: [1] BULLEN, K.E. & BOLT, B.A. (1985): An introduction to the theory of seismology. – Cambridge. [2] JOST, M.L., BÜSSELBERG, T., JOST, Ö. & HARJES, H.-P. (1998): Source parameters of injection-induced microearthquakes at 9 km depth at the KTB deep drilling site. – Germany. Bull. Sesim. Soc. Am. 88. [3] LAY, T., WALLACE, T.C. (1995): Modern global seismology. – San Diego. [4] NEUMANN, W., JACOBS, F. & Tittel, B. (1989): Erdbeben. – Leipzig. [5] WALLACE, T.C., HELMBERGER, D.V. & Engen, G.R.(1983): Evidence of tectonic release from underground nuclear explosions in long-period P waves. – Bull. Seism. Soc. Am. 73.
Erdbeben 1: Elastic-Rebound-Theorie nach Reid (1910); a-d zeigen vier Momentbilder von geodätischen Linien (L, R = linke bzw. rechte Lithosphärenplatte). Erdbeben 1:
Erdbeben 2: schematischer Verlauf der Scherspannung an einem Punkt der Bruchfläche im Erdbebenherd. Beim Nahen der Bruchfront steigt die Scherspannung zur Zeit t0 von einem regionalen Wert τ0 auf den Wert τs der Scherfestigkeit an diesem Punkt. Mit dem Bruch geht eine Reduzierung der Scherspannung auf τf einher, die etwa der Gleitreibungsspannung entspricht. Nach Ende des Bruchvorgangs zur Zeit t1 beträgt die Scherspannung τ1. Nach Ende des Bruchvorgangs zur Zeit t1 beträgt die Scherspannung τ1. Die Differenz τ0-τ1 ist der statische Spannungsabfall Δσ. Erdbeben 2:
Erdbeben (Tab.): Verwerfungstypen und dazugehörige Verschiebungs- und Spannungstypen. Erdbeben (Tab.):
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