Freistetters Formelwelt: Von einfachen Grenzwerten zu Schwarzen Löchern
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Mit Grenzwerten bekommt man es in der Mathematik oft dann zu tun, wenn es in die Unendlichkeit geht. Man kann zum Beispiel überlegen, was mit der Folge 1, ½, ⅓, ¼, … passiert, wenn die Zahl unter dem Bruchstrich immer größer wird. Das Ergebnis lässt sich aus mathematischer Sicht schnell berechnen: Man nähert sich immer weiter der Null. Genauer: Die Folge konvergiert und ihr Grenzwert ist gleich 0.
Die Existenz eines Grenzwertes wird mathematisch mit dem Limes (kurz: lim) ausgedrückt:
\[ \lim_{n \to \infty} a_n = a \]Natürlich muss es so einen Grenzwert nicht immer geben. In so einem Fall hat man es mit dem Phänomen der Divergenz zu tun. Das mag zwar ärgerlich sein, wenn man sich im konkreten mathematischen Problem einen Grenzwert erhofft hat, ist aber vorerst nicht weiter schlimm. Es passiert nichts, wenn es keinen Grenzwert gibt. Etwas schwieriger wird die Angelegenheit jedoch, wenn es nicht mehr um reine Mathematik geht, sondern man die Mathematik benutzt, um reale Phänomene zu beschreiben.
Ein Beispiel dafür ist die Krümmung der Raumzeit: Seit Albert Einstein wissen wir, dass die Raumzeit durch Masse und Energie verformbar ist. Ein Stern ist schwerer als ein Planet und krümmt die Raumzeit daher stärker als ein Planet mit geringer Masse. Die Stärke der Krümmung hängt aber nicht nur von der Masse an sich ab, sondern auch von der Massendichte. Mathematisch beschrieben wird das alles durch die allgemeine Relativitätstheorie. Unter bestimmten Voraussetzungen kann es passieren, dass die Krümmung der Raumzeit sogar divergiert. Wenn etwa die gesamte Masse eines Sterns in einem einzigen Punkt konzentriert wäre, wäre die Krümmung der Raumzeit dort unendlich stark. Das nennt man eine Singularität: Die allgemeine Relativitätstheorie funktioniert an dieser Stelle nicht mehr.
Schwarze Löcher sind real
Das kann man als mathematische Kuriosität abtun, die keine Auswirkungen auf die Realität hat, und genau das war auch lange Zeit der Fall. In den 1960er Jahren konnten die britischen Physiker Roger Penrose und Stephen Hawking zeigen, dass es nicht so einfach ist. Die Masse eines Sterns in einem Punkt zu konzentrieren, mag zwar seltsam klingen. Doch genau das ist es, was passiert, wenn ein großer Stern nach dem Ende der Kernfusion in seinem Inneren unter seiner eigenen Gravitationskraft kollabiert. Die Entstehung einer Singularität ist kein kurioser Spezialfall, den man ignorieren kann, sie folgt direkt aus der anziehenden Natur der Gravitationskraft. Damit ist die Singularität, vereinfacht gesagt, in die Beschreibung der Gravitation selbst eingebaut.
Die Mathematik der allgemeinen Relativitätstheorie sagt, dass Singularitäten möglich sind. Astronomen können sie aber nicht beobachten. Wir können sehen, was auf dem Weg dahin passiert: Wenn ein sterbender Stern ausreichend kompakt und die Gravitationskraft in seiner Umgebung ausreichend stark geworden ist, bildet sich um ihn herum ein Ereignishorizont. Nichts kann von dort mehr entkommen – nicht einmal Licht. Es ist das entstanden, was wir ein Schwarzes Loch nennen. Die Existenz dieser Objekte ist durch Beobachtungen mittlerweile gut bestätigt. Wir haben allerdings keine Möglichkeit, hinter den Ereignishorizont zu sehen. Wir wissen nicht, ob sich dort wirklich eine Singularität befindet oder ob die Materie einen Zustand einnimmt, den wir derzeit noch nicht beschreiben können.
Die Vernunft sagt uns, dass es im realen Universum Unendlichkeiten dieser Art nicht geben kann; die Dichte der Materie kann nicht unendlich groß werden. Aber wenn es um die Unendlichkeit geht, egal ob mathematisch oder astronomisch, ist die Vernunft leider nicht immer ein guter Wegweiser.
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