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Die fabelhafte Welt der Mathematik: Der Satz des Pythagoras, Wale und Einsteins verschollener Beweis

Die wohl berühmteste Mathematik-Formel kann beim Schutz der bedrohten Meeressäuger helfen. Einen besonders schönen Beweis des Theorems hat Albert Einstein im Alter von zwölf Jahren erbracht.
Ein Buckelwal springt aus dem Wasser.
Walgesänge wirken nicht nur entspannend. Mit ihnen lassen sich die Meeressäuger auch orten, um Kollisionen zu vermeiden.

In den Weltmeeren tummeln sich mehr als 80 verschiedene Walarten – von denen inzwischen jede vierte gefährdet ist. Eine der größten Gefahren für die Meeressäuger sind Zusammenstöße mit Schiffen, die für die Tiere oft tödlich enden. Um Kollisionen zu vermeiden, suchen Schiffe das umgebende Wasser nach größeren Lebewesen ab. Sonar-Messtechniken senden aber Schallwellen aus, was Wale, die über ein empfindliches Gehör verfügen, extrem stören kann und teilweise dazu führt, dass sie stranden. Deshalb hat sich inzwischen eine umgekehrte Taktik etabliert: Man horcht die Umgebung nach Walgesängen ab, um die Tiere zu orten und ihnen auszuweichen. Hierbei kommt der Satz des Pythagoras ins Spiel.

Die klangvollen Walgesänge breiten sich mit einer festen Geschwindigkeit durch das Wasser aus. Bis zu Tiefen von etwa 2000 Metern beträgt die Schallgeschwindigkeit in Meerwasser etwa 1500 Meter pro Sekunde – Geräusche werden also knapp fünfmal so schnell übertragen wie in der Luft. Das liegt daran, dass die Moleküle im Wasser dichter beieinanderliegen und sich die Wellen deshalb schneller ausbreiten können. Wenn sich ein Wal also in 500 Meter Entfernung zu einem Schiff befindet, erreicht sein Gesang nach einer Drittelsekunde die Detektoren. Doch das allein genügt nicht, um die Entfernung des Wals zu bestimmen – schließlich weiß man nicht, wie lange das Signal im Wasser unterwegs war. Wenn man den Ton eines Wals aufnimmt, könnte das Tier also genauso gut 150 Meter oder fünf Kilometer entfernt sein.

Viele Menschen denken, Mathematik sei kompliziert und öde. In dieser Serie möchten wir das widerlegen – und stellen unsere liebsten Gegenbeispiele vor: von schlechtem Wetter über magische Verdopplungen hin zu Steuertricks. Die Artikel können Sie hier lesen oder als Buch kaufen.

Glücklicherweise nehmen die Detektoren aber nicht nur dieses Signal auf. Die Schallwellen des Wals bewegen sich nicht wie ein präzise gerichteter Strahl direkt auf das Schiff zu. Stattdessen breiten sich die Wellen kugelförmig aus, einige werden am Meeresboden reflektiert und dringen verzögert als Echo in die Detektoren des Schiffs ein. Jeder Ton eines Wals erzeugt also mindestens zwei Signale: ein direktes und ein verzögertes. Über den zeitlichen Versatz zwischen den beiden Ereignissen kann man berechnen, wie weit das Tier entfernt ist.

Mit etwas Geometrie kommt man den Walen zu Hilfe

Hierfür braucht man etwas Schulgeometrie sowie Wellenphysik. Bei dem Problem sind die beteiligten Objekte folgendermaßen angeordnet: Ein Schiff empfängt an der Wasseroberfläche ein Signal, das von einem Wal stammt, und kurz darauf detektiert es auch das Echo, das durch die Reflexion am Meeresboden entsteht. Je näher der Wal dem Meeresboden ist, desto kürzer ist der Abstand zwischen den beiden empfangenen Signalen. Gleiches gilt für die Entfernung des Wals vom Schiff: je näher das Tier, desto kleiner der Zeitversatz. Um also den empfohlenen Mindestabstand von etwa 500 Metern einzuhalten, ist es sinnvoll, den größtmöglichen Zeitunterschied zu bestimmen, den ein Tier in dieser Entfernung durch seinen Gesang erzeugen kann. Das entspricht der Situation, in der ein Wal an der Meeresoberfläche schwimmt. Tatsächlich ist das auch die gefährlichste Lage der Meeressäuger, da ein Schiff sie so direkt rammen könnte.

Um also aus einer Zeitdifferenz Δt zweier Signale eines Wals eine Distanz zu berechnen, muss man zunächst wissen, wie tief das Meer am Standort des Schiffs ist. Das kann die Crew mit einem Echolot ermitteln, indem es ein Signal in die Tiefe schickt und wartet, bis es wieder reflektiert wird. Die Wartezeit entspricht der doppelten Distanz zum Boden, geteilt durch die Schallgeschwindigkeit. Kennt man die Tiefe h, lässt sich anschließend mit Hilfe von Δt berechnen, wie weit der Wal mindestens entfernt ist.

Der Teil der Schallwellen des Wals, der am Meeresboden reflektiert wird, erreicht das Schiff über einen Umweg. Hierbei greift das snelliussche Brechungsgesetz: Der Winkel, den die einfallenden Wellen mit dem Boden einschließen, ist genauso groß wie der Ausgangswinkel, mit dem die Wellen reflektiert werden. Verfolgt man also die zwei verschiedenen Wege der Schallwellen, die das Schiff erreichen, ergibt sich ein gleichschenkliges Dreieck. Um die Distanz zwischen Wal und Schiff zu berechnen, hilft es, dieses Dreieck in der Mitte zu teilen: Dort, wo die Schallwellen auf den Meeresboden treffen, ist eine senkrechte Linie zu ziehen. Nun muss man nur noch die Längen der rechtwinkligen Dreiecke berechnen.

Ortung eines Wals | Indem man die Zeitdifferenz zwischen dem Eintreffen des Walgesangs und des Echos misst, kann man die Distanz zu einem Wal bestimmen.

Das ist der Punkt, an dem Pythagoras ins Spiel kommt – zumindest der Satz, der nach dem griechischen Gelehrten Pythagoras von Samos benannt ist, der um das Jahr 500 vor unserer Zeitrechnung lebte. Unter Wissenschaftshistorikern wird debattiert, ob Pythagoras wirklich als Entdecker des Satzes gelten darf. Denn schon auf babylonischen Tontafeln, die mehr als 1000 Jahre vor Pythagoras' Lebzeiten entstanden, sind »pythagoreische Tripel« zu finden. Als solche bezeichnet man Mengen dreier ganzer Zahlen a, b, c, die den Seitenlängen eines rechtwinkligen Dreiecks entsprechen – und damit die berühmte Formel a2 + b2 = c2 erfüllen.

Leider sind pythagoreische Tripel nicht allzu häufig vertreten, wenn man den Satz des Pythagoras in der Praxis anwendet – meist ist man daher auf Taschenrechner angewiesen, um die entstehenden Wurzelausdrücke zu berechnen. Ist ein solcher zur Hand, steht nichts mehr im Weg, um die Wal-Aufgabe zu lösen. Die gemessene Zeitdifferenz Δt zwischen dem direkt verzeichneten Signal und dem Echo entspricht dem Längenunterschied Δs der beiden Strecken, die die Schallwellen zurücklegen, dividiert durch die Schallgeschwindigkeit c im Wasser, also: Δt = Δs/c. Die einzige Unbekannte in der Gleichung ist der Streckenunterschied Δs, der sich durch den Satz des Pythagoras berechnen lässt. Denn die halbe Strecke zum Wal und die Tiefe des Meers h schließen einen rechten Winkel ein, so dass man den Weg s, den die Schallwelle bis zum Meeresboden durchläuft, einfach bestimmen kann: s2 = h2 + (d/2)2.

Setzt man das Ergebnis in die ursprüngliche Formel mit der Zeitdifferenz ein, erhält man: Δt·c = 2·√(h2 + (d/2)2)−d. Diese Gleichung muss man nach d auflösen, um die Entfernung zwischen Wal und Schiff in Abhängigkeit der gemessenen Zeitdifferenz zu berechnen. Nach einigen Umstellungen erhält man schließlich die Gleichung: d = 2h2/(Δt·c) − Δt·c/2.

Ein eleganter Beweis von Albert Einstein

Der Satz des Pythagoras kann also aktiv beim Schutz von Walen helfen, wie der Mathematiker Chris Budd von der University of Bath öffentlich erklärt. Um den Satz verwenden zu dürfen, muss man sich allerdings sicher sein, dass er auch wirklich stimmt. Inzwischen sind zirka 400 unterschiedliche Beweise des berühmten Theorems bekannt – unter anderem ein Beweis von Leonardo da Vinci oder von dem ehemaligen US-Präsidenten James A. Garfield. Besonders interessant ist aber die Geschichte hinter einem Beweis, den der berühmte Physiker Albert Einstein als Zwölfjähriger geführt hat.

Lange Zeit war Einsteins Beweis verschollen. Dieser hatte sich nämlich nicht die Mühe gemacht, seine Arbeit aufzubewahren. Der einzige Hinweis darauf war eine Aussage des Physikers in einer 1949 erschienenen Ausgabe der Zeitschrift »Saturday Review«, wonach er den Satz des Pythagoras anhand der Ähnlichkeiten von Dreiecken bewiesen habe. Viele Fachleute gingen davon aus, der damals Zwölfjährige habe eine bekannte Beweisskizze aufgeschnappt und diese bloß wiederholt. Doch 1991 präsentierte der Physiker Manfred Schroeder in seinem Buch »Fractals, Chaos, Power Laws« einen erstaunlich einfachen Beweis, der in der Fachwelt noch nicht etabliert war. Schroeder gab an, den Beweis von seinem Kollegen Shneior Lifson erfahren zu haben, der ihn vom Physiker Ernst Straus aufgegriffen hatte, einem ehemaligen Assistenten Einsteins, der wiederum den Beweis von Einstein selbst hatte. Auch wenn sich somit die Herkunft des Beweises nur über viele Ecken verfolgen lässt, erklärte der Mathematiker Steven Strogatz, die Methode trüge unbestreitbar die Handschrift des berühmten Physikers.

Die Idee besteht darin, ein rechtwinkliges Dreieck mit Seitenlängen a, b und c zu teilen, indem man senkrecht zur Hypotenuse eine Linie zieht. Auf diese Weise erhält man drei Dreiecke mit den Hypotenusenlängen a, b und c, die einander »ähnlich« sind. Das bedeutet, ihre Seitenverhältnisse und eingeschlossenen Winkel sind jeweils gleich. Außerdem addieren sich die Fläche des kleinen und des mittleren Dreiecks zu der Fläche des großen (ursprünglichen) Dreiecks. Mit diesen Feststellungen war Einstein schon fast fertig.

Einsteins Beweis | Als Zwölfjähriger fand Albert Einstein einen Beweis zum Satz des Pythagoras, der sich auf die Ähnlichkeit von Dreiecken stützt.

Weil die drei Dreiecke ähnlich sind, hängen ihre Flächen auf gleiche Weise mit den Hypotenusenquadraten zusammen: Die Fläche des kleinen Dreiecks ist q·a2, die des mittleren Dreiecks q·b2 und die des großen q·c2. Wie groß der Faktor q ist, spielt keine Rolle. Es ist nur klar, dass er kleiner als eins ist, da die Dreiecksfläche stets kleiner ist als die Fläche des Hypotenusenquadrats. Nun kann man ausnutzen, dass sich die beiden kleinen Dreiecksflächen zur großen addieren, also: q·a2 +q·b2 = q·c2. Indem man q auf beiden Seiten der Gleichung kürzt, erhält man den Satz des Pythagoras: a2 + b2 = c2.

Um den Satz des Pythagoras anzuwenden (und damit vielleicht einige Wale zu retten), muss man den Beweis nicht zwingend kennen. Generell kann man sich fragen, ob die Welt wirklich um die 400 verschiedenen Beweise zu einem seit Tausenden von Jahren bekannten Theorem braucht. Wirklich nötig sind sie wahrscheinlich nicht, doch über sie lässt sich eine Menge lernen – und sei es nur die Tatsache, dass Einstein als Zwölfjähriger eine überaus elegante Beweismethode entwickelt hat.

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