Warkus' Welt: Mathematik mit umgangssprachlichen Begriffen
A) Alle Teenager sind älter als 12 Jahre.
B) Alle deutschen Bundesministerien haben zwei Dienstsitze.
C) In allen ebenen rechtwinkligen Dreiecken ist die Fläche des Quadrats über der Hypotenuse gleich der Summe der Flächen der Quadrate über den Katheten (kurz: a2+b2 = c2).
Diese drei Sätze haben viel gemeinsam: Sie sind Behauptungen, das heißt, sie drücken einen Sachverhalt aus (anders als zum Beispiel reine Aufforderungen oder Verbote). Sie sind Allsätze, sie behaupten also, dass eine Aussage auf alle Elemente einer Grundgesamtheit zutrifft. Außerdem sind sie wahr.
Es gibt jedoch auch gewichtige Unterschiede zwischen ihnen. Diese fallen am ehesten auf, wenn man darüber nachdenkt, was jeweils geschehen müsste, damit einer der Sätze nicht mehr wahr wäre. Bei B ist das einfach: Es müsste nur ein einziges Ministerium einen seiner Dienstsitze aufgeben. Das ist gut vorstellbar und wird immer wieder gefordert. Früher hatten zudem die meisten Ministerien nur einen Sitz, es wäre also auch nichts Neues. Der zweite Satz ist – philosophisch gesprochen – »kontingent«.
Die Idee, dass es Sätze oder Gedanken gibt, deren Wahrheitsgehalt sich zwingend bereits aus den verwendeten Begriffen ergibt, hat Immanuel Kant populär gemacht
Schwieriger wird es mit A. Die Bezeichnung »Teenager« rührt von der Silbe »-teen«, mit der im Englischen die Zahlen 13 bis 19 enden. Teenager sind entsprechend »Menschen im Alter von 13 bis 19«. Das »älter als 12 Jahre« ergibt sich sozusagen schon rein aus der Formulierung. Der Satz könnte eigentlich nur falsch werden, wenn sich eine neue Bedeutung von »Teenager« durchsetzen und die alte vollständig verdrängen würde; und selbst dann wäre es fraglich, ob ein Satz, der auf Grund einer sprachlichen Bedeutungsverschiebung nicht mehr als wahr verstanden wird, dasselbe ist wie ein grundfalscher Satz.
Keine Welt ohne Pythagoras
Noch einmal anders sieht es mit C aus: Was könnte passieren, damit der Satz des Pythagoras seine Gültigkeit verliert? Wir haben die Tendenz zu vermuten: nichts. Es gibt, mit anderen Worten, keine mögliche Welt, in der die Trigonometrie, wie wir sie kennen, nicht gilt.
Die Idee, dass es Sätze oder Gedanken gibt, deren Wahrheitsgehalt sich zwingend bereits aus den verwendeten Ausdrücken beziehungsweise Begriffen ergibt, hat Immanuel Kant populär gemacht, der von »analytischen Urteilen« spricht. A kann analytisch heißen, weil sich der Teil nach dem »sind« aus einer Analyse des Teils davor ergibt. Das Gegenteil von »analytisch« ist hier »synthetisch« (griechisch für »zusammenstellend«): Synthetische Sätze führen Ausdrücke oder Begriffe zusammen, die sich nicht zwangsläufig aus einander ergeben. B ist zweifellos synthetisch, weil sich aus dem Begriff eines Bundesministeriums und dessen Definition nicht im Geringsten ergibt, dass dieses zwei Sitze haben müsste.
Was ist aber mit C? Es scheint völlig notwendig, dass in einem ebenen rechtwinkligen Dreieck der Satz des Pythagoras gilt, aber Teil der Definition ist das nicht. Ist es Teil unseres Begriffs? Klassischerweise würde man sagen: Nein, der Satz musste erst historisch entdeckt werden; vorher war aber schon klar, was ein ebenes rechtwinkliges Dreieck ist. Also ist C synthetisch (aber im Gegensatz zu B a priori – das ist allerdings ein anderes Thema).
Wie üblich in der Philosophie ist der Weg auch hier tendenziell interessanter als das Ziel. Eine Klassifikation von Sätzen in zwei Schubladen ist das eine; das andere ist es, sich zu überlegen: Was ist eigentlich notwendigerweise Teil unserer Begriffe und was nicht? Können sich die Kriterien dafür über die Zeit ändern oder nicht, und wie werden sie begründet? Das sind Fragen, die sich bei aller Allgemeinheit sehr konkret an Beispielen diskutieren lassen, und die wieder einmal zeigen, dass weite Teile der Philosophie, salopp gesagt, ein bisschen »Mathematik mit umgangssprachlichen Begriffen« sind.
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