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Die fabelhafte Welt der Mathematik: Geometrie offenbart ein unerwartetes Quantenphänomen

Manchmal scheinen Quantenteilchen eine Art Gedächtnis zu besitzen. Dieser seltsame Effekt ist als geometrische Phase bekannt. Sie taucht auch in Einsteins Relativitätstheorie auf.
Abstrakter geschichteter und gefalteter Papierhintergrund
Manchen Strukturen prägt sich die genaue Art und Weise auf, auf die sie gefaltet wurden. Das passiert auch auf Quantenebene.
Viele Menschen denken, Mathematik sei kompliziert und öde. In dieser Serie möchten wir das widerlegen – und stellen unsere liebsten Gegenbeispiele vor: von schlechtem Wetter über magische Verdopplungen hin zu Steuertricks. Die Artikel können Sie hier lesen oder als Buch kaufen.

In der Schule fand ich Mathematik nicht besonders spannend. Um ehrlich zu sein, habe ich das Fach – neben Physik – anfangs nur studiert, weil es mir recht einfach vorkam. Aber ich lag falsch. Schon in der allerersten Mathematikvorlesung stellte ich fest, dass alles, was ich über das Fach zu wissen glaubte, falsch war. Mir erschien es plötzlich alles andere als leicht. Und etwas später fand ich zudem heraus, dass Mathematik durchaus richtig spannend sein kann – vor allem, wenn man über das reine Rechnen hinausgeht.

Menschen bewerten Dinge als besonders interessant, wenn sie überraschend sind. In der Physik tauchen solche Inhalte spätestens in der Oberstufe auf, wenn ein kleiner Blick auf die Quantenwelt offenbart wird. Auf der Mikroebene muss man sich plötzlich von allem Vertrauten verabschieden. Und auch auf großen Skalen weicht die Physik von der Intuition ab. In der allgemeinen und der speziellen Relativitätstheorie zeigen sich ebenfalls lauter Wunder: Zeit und Raum können gestreckt oder gestaucht werden, was unter anderem dazu führt, dass Uhren in großer Höhe schneller ticken.

Die Schulmathematik kann da nicht mithalten. Man lernt die Grundrechenarten kennen, das Integrieren und Ableiten, den grundlegenden Umgang mit Wahrscheinlichkeiten und Vektoren. Wer Glück hat, bekommt bei ambitionierten Lehrern vielleicht noch einen simplen Beweis zu sehen. Und das war es dann auch. Kein Wunder also, dass Schülerinnen und Schüler keine richtige Leidenschaft für das Fach entwickeln.

Dabei trifft man auch in der Mathematik auf allerlei Unerwartetes, etwa auf das Banach-Tarski-Paradoxon, das besagt, dass man eine Kugel quasi magisch verdoppeln kann, oder die Tatsache, dass es unendlich viele verschiedene Unendlichkeiten gibt. Solche Inhalte in der Schule zu vermitteln, fällt wahrscheinlich schwer. Aber einen kleinen Ausblick darauf zu geben, wäre sicherlich sehr cool. Was mich während des Studiums aber richtig umgehauen hat, ist die Tatsache, wie tief Mathematik mit den seltsamsten physikalischen Phänomenen verwoben ist. So ist es gar nicht unbedingt die Quantenphysik selbst, aus der die unglaublichen Effekte entspringen; nein, die Systeme folgen immer den strengen Regeln der Mathematik.

»Zu bestimmen, wo die Mathematik aufhört und die Wissenschaft beginnt, ist so schwierig und sinnlos wie die Kartierung des Randes des Morgennebels«David Atkins, Chemiker

Das erkannte schon der Chemiker David Atkins: »Zu bestimmen, wo die Mathematik aufhört und die Wissenschaft beginnt, ist so schwierig und sinnlos wie die Kartierung des Randes des Morgennebels.« Und auch der Physiker Sir Michael Berry erklärt, dass er sich oft zwischen Mathematik und Physik hin- und herbewege und es keinen Sinn mache, dazwischen zu unterscheiden. »Unser Ziel ist es, zu verstehen«, sagt er. Und genau das ist Berry gelungen. 1984 offenbarte er eine tief greifende geometrische Seite der Quantenmechanik, die niemand erahnt hatte. Diese Geometrie, erkannte Berry, verleiht Quantenteilchen eine Art Gedächtnis.

Eigentlich sollte nichts passieren

Damals untersuchte Berry ein denkbar einfaches System: den Quantenzustand eines Teilchens, etwa eines Neutrons, in einem veränderlichen Magnetfeld. Neutronen besitzen eine Quanteneigenschaft namens Spin, der wie ein winziger Magnet wirkt, den die Teilchen mit sich tragen. Dieser kann entweder mit dem Nordpol nach oben oder nach unten ausgerichtet sein – Physiker sprechen von Spin-up oder Spin-down. Der Spin eines Teilchens wird durch äußere Magnetfelder beeinflusst. Berry untersuchte mit mathematischen Mitteln, was mit dem Neutron passieren würde, wenn sich die Richtung des Magnetfelds langsam ändert. Gemäß eines Theorems, das Albert Einstein und Paul Ehrenfest 1911 aufstellten, sollten sich die Quanteneigenschaften des Teilchens dadurch nicht ändern: Seine Energie, Impuls, Masse und Spin bleiben gleich.

»Die Phase der Wellenfunktion wurde übersehen«Sir Michael Berry, Physiker

Besonders interessant wird es, wenn man die Richtung des Magnetfelds langsam dreht und dann wieder in die ursprüngliche Richtung zurückbewegt. Eine solche Handlung sollte eigentlich nichts ändern. »Das war jedenfalls lange die vorherrschende Meinung«, schrieb Berry in einem Artikel, der im Februar 1989 bei »Spektrum« erschien. Dabei wurde allerdings »die Phase der Wellenfunktion übersehen«.

Eines der seltsamsten Phänomene der Quantenmechanik ist der Welle-Teilchen-Dualismus: Man kann sich Quantenobjekte nicht als punktförmige Gestalten vorstellen, sondern sie legen auch ein Wellenverhalten an den Tag, ähnlich wie man es von Wasserwellen kennt. Eine Phase beschreibt eine Verschiebung der Welle um einen bestimmten Winkel – zum Beispiel ist die Kosinusfunktion nichts anderes als eine phasenverschobene Sinusfunktion. Wie Berry bei seinen Berechnungen erkannte, bewirkt eine langsame Änderung des Magnetfelds, dass sich die Wellenfunktion des Neutrons um eine bestimmte Phase verdreht.

Das heißt: An der Wellenfunktion des Teilchens lässt sich ablesen, was in der Vergangenheit geschehen ist (hier die Veränderung des Magnetfelds). Tatsächlich erkannte Berry, dass diese Phase nicht nur in dem Spezialfall eines Teilchens in einem Magnetfeld auftritt. Fast alle Situationen, in denen ein Quantensystem langsam verändert und dann wieder in die ursprünglichen Bedingungen zurückgeführt wird, hinterlassen Spuren in der Wellenfunktion.

Wenn Sie sich mit Quantenmechanik auskennen, dann wissen Sie wahrscheinlich: Die Wellenfunktion ist keine direkt beobachtbare Größe. Trotzdem gibt es eine Möglichkeit, die Phasenverschiebung zu messen, wenn man ein zweites Teilchen als Referenz hinzuzieht. Und genau das wurde in Experimenten kurz nach der Erscheinung von Berrys bahnbrechender Arbeit gemacht: Physikerinnen und Physiker ließen zwei Neutronen aufeinandertreffen, wobei nur eines davon zuvor in einem veränderlichen Magnetfeld steckte. Wenn die Neutronen sich danach begegnen, wechselwirken ihre Wellenfunktionen. Diese verhalten sich wie Wasserwellen: Treffen jeweils die Täler und Berge aufeinander, verstärken sie sich; sind sie hingegen gegeneinander verschoben, können sie sich schwächen oder ganz auslöschen. Diese Phänomene sind als Interferenz bekannt.

Ein Interferenzmuster zweier Wellen

Wie die Fachleute im Labor feststellten, lag Berry mit seinen Berechnungen richtig: Die Neutronen waren phasenverschoben. Damit ließ sich nachweisen, dass eines der Teilchen kurzzeitig in einem veränderlichen Magnetfeld gesteckt hatte – auch wenn sich keine seiner messbaren Eigenschaften dadurch direkt verändert hatte.

Das gekrümmte Universum

Aber woher hatte Berry gewusst, dass die Teilchen eine Phasenverschiebung erhalten? Tatsächlich taucht eine solche Phase überall dort auf, wo es Krümmung gibt. Deshalb spielt die Phase eine wichtige Rolle in der allgemeinen Relativitätstheorie – der Theorie, mit der Einstein die Schwerkraft beschrieb.

Die allgemeine Relativitätstheorie ist eigentlich mehr Geometrie als Physik. Demnach krümmt Materie die Raumzeit, und diese Verformung führt dazu, dass sich Massen anziehen – ein Phänomen, das wir als Gravitation wahrnehmen. Ich stelle mir das Ganze gern wie ein Gummituch vor, auf das man schwere Objekte platziert, die das Tuch verformen und sich so gegenseitig beeinflussen. Allerdings hat dieses Bild Schwächen: Die Raumzeit ist in dieser Vorstellung zweidimensional, und ich blicke von meiner dreidimensionalen Welt auf sie herab. Die allgemeine Relativitätstheorie beschreibt hingegen die Krümmung der vierdimensionalen Raumzeit, ohne von einer fünfdimensionalen Perspektive daraufzuschauen.

Damit stellt sich die Frage, wie man auf die Krümmung von etwas schließen kann, wenn man das Objekt nicht von außen betrachten kann. Dabei hilft die Phase, die Berry beobachtet hat.

Angenommen, ich wollte auf komplizierte Art nachweisen, dass die Erde eine Kugel ist. Dafür kann ich von meinem Standort irgendwo in Deutschland schnurstracks geradeaus Richtung Norden laufen – über Berge, Täler, Flüsse, Seen und Meere hinweg; nichts darf mich vom geraden Weg abbringen. Wenn ich am Nordpol angelangt bin, schlage ich einen Weg nach rechts ein; aber ohne mich zu drehen! Das heißt, ich schreite seitlich voran wie eine Krabbe. Ich laufe so lange, bis ich am selben Breitengrad lande, von dem aus ich gestartet bin. Dort folge ich dann – wieder ohne Drehung – dem Breitengrad nach links, bis ich wieder am Startpunkt ankomme. Obwohl ich am ursprünglichen Ort lande, schaue ich nun nicht mehr nach Norden wie zu Beginn, sondern nach Osten. Dieser Rundlauf hat mich selbst als Person also nicht verändert (bis auf die Strapazen vielleicht), aber ich bin um einen bestimmten Winkel gedreht.

Paralleltransport | Wenn man einen Vektor (Pfeil) auf einer Kugeloberfläche entlang einer geschlossenen Kurve transportiert, kann sich durch ihre Krümmung eine Winkeldifferenz α ergeben, um den der Vektor nach dem Durchlauf verdreht ist.

In diesem Gedankenexperiment passiert mir also das Gleiche, wie der Wellenfunktion in Berrys Überlegungen; auch diese erhält eine Phase, einen Winkel, der sie verschiebt. Hätte ich denselben Weg, den ich beschrieben habe, auf einer flachen Ebene beschritten, wäre ich ganz ohne Drehung wieder am Ausgangsort aufgetaucht. Deshalb wird die Phase auch in der allgemeinen Relativitätstheorie genutzt, um die Krümmung des Universums zu beschreiben.

Der Winkel, den ich durch meinen Marsch aufgesammelt habe, hängt allein von der Geometrie der Erde ab. Sein Wert ist proportional zur Fläche, die mein Weg einschließt. Da sonst nichts die Phase beeinflusst – weder meine Geschwindigkeit noch ob ich mal eine Pause einlege – wird sie als »geometrische Phase« bezeichnet.

»Die geometrische Phase ist eine Art Quantengedächtnis: Sie enthält Informationen über die vergangenen Umgebungen des Systems«Sir Michael Berry, Physiker

Für Mathematikerinnen und Mathematiker war das zu der Zeit, als Berry seine Arbeit veröffentlichte, nichts Neues. Sie kannten das Konzept schon seit vielen Jahrzehnten. Allerdings hatte bis dahin noch niemand gewusst, dass geometrische Phasen auch bei so einfachen Prozessen in der Quantenmechanik auftauchen. Die Phase in der Wellenfunktion offenbart die Geometrie des so genannten Parameterraums. Dabei handelt es sich um einen abstrakten, hochdimensionalen Raum, der alle Parameter vereint, welche die Wellenfunktion beeinflussen können (wie Magnetfeld, Energie, Ort, Geschwindigkeit). Die kurzfristige Änderung der Richtung eines Magnetfelds (oder eines anderen Parameters) beschreibt eine geschlossene Kurve in diesem Raum – so wie mein Rundweg auf der Erdkugel. Da dieser Parameterraum meist gekrümmt ist, hinterlässt das Spuren in der Wellenfunktion.

»Man kann demnach die geometrische Phase als bestmögliche Antwort des Systems auf die Frage ansehen, welchen Weg es im Parameterraum genommen habe«, schrieb Berry im »Spektrum«-Artikel. »In diesem Sinn stellt sie eine Art quantenmechanisches Gedächtnis dar.«

Damit hatte Berry eine tief greifende Verbindung zwischen Quantensystemen und Geometrie offengelegt, die sich als äußerst wertvoll entpuppte. Mit Hilfe der inzwischen nach ihm benannten Berry-Phase lassen sich beispielsweise Phänomene wie der Quanten-Hall-Effekt erklären, der bei bestimmten Festkörpern auftritt und bis zu Berrys Entdeckung viele Fragen aufwarf.

All das ist extrem spannend. Für mich ist jedoch am beeindruckendsten, dass Berry das neue Forschungsfeld der geometrischen Quantenphysik begründete, indem er auf bestehende mathematische Konzepte zurückgriff. Er musste nichts Neues zur Physik oder Mathematik hinzufügen – es war im Prinzip alles schon da. Die Mathematik ermöglichte es in diesem Fall, etwas völlig Unerwartetes in der Physik zu offenbaren. Daher ist das für mich eines der besten Beispiele dafür, wie spannend Mathematik sein kann.

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