Freistetters Formelwelt: Was ist in der Mathematik schon einfach?
Was ist die einfachste mathematische Formel, die es gibt? Darüber kann man vermutlich ebenso gut streiten wie über die schwerste oder schönste Formel. Aber wahrscheinlich wäre 1 + 1 = 2 ganz vorne dabei. Mit dieser Rechnung kommt man schon in der Grundschule zurecht und kann sie wahrscheinlich auch schon im Kindergarten verstehen.
Es erscheint daher etwas überraschend, dass zwei ernsthafte Mathematiker viele hundert Seiten lang damit beschäftigt waren, den Beweis der Rechnung 1 + 1 = 2 zu führen. Zugegeben, die Arbeit mit dieser Formel war nicht das vorrangige Ziel von Bertrand Russell und Alfred North Whitehead, als sie zwischen 1910 und 1913 ihr monumentales Werk »Principia Mathematica« veröffentlichten. Trotzdem findet man dort diese Formel:
Sie ist mit folgender Bemerkung versehen: »Aus dieser Aussage folgt, wenn die arithmetische Addition definiert wurde, dass 1 + 1 = 2.« Um zu verstehen, was diese kryptische Ansammlung von Symbolen mit der simplen Grundschulrechnung zu tun hat, muss man zuerst wissen, was Russell und Whitehead eigentlich vorhatten. Sie wollten die gesamte Mathematik auf eine felsenfeste Basis stellen: einen klar definierten Satz an grundlegenden Axiomen und logischen Regeln festlegen und daraus alle mathematisch richtigen Aussagen ableiten (oder es zumindest versuchen).
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Russell und Whitehead wollten zeigen, dass sich die gesamte Mathematik auf die Logik zurückführen lässt und dass alles, was die Disziplin zu sagen hat, aus einer sehr kleinen Menge grundlegender Konzepte ableitbar ist. Und wenn die beiden Wissenschaftler »grundlegend« sagen, dann meinen sie das auch. In der Grundschule werden Konzepte wie die Addition oder die natürlichen Zahlen einfach präsentiert – für Russell und Whitehead reichte es aber bei Weitem nicht aus, so etwas einfach voraussetzen. Die Existenz von so etwas wie einer Eins oder der Addition muss erst einmal logisch abgeleitet werden. Genau damit waren sie die ersten 375 Seiten ihres Werks beschäftigt, bevor sich daraus schließlich die obige Formel ergab.
Hunderte Seiten für eine triviale Aussage?
Wegen der veralteten Notation und der generellen informationsdichten Sprache ist die »Principia Mathematica« – und damit auch die obige Formel – heute kaum zu verstehen (statt den mittlerweile üblichen Klammern, die die Reihenfolge der mathematischen Operationen angeben, werden etwa Punkte genutzt). α und β bezeichnen in dieser Gleichung Mengen und die Menge Λ ist die leere Menge. Auch das Symbol »1« entspricht nicht der natürlichen Zahl, sondern bezeichnet die Menge aller Mengen, die exakt ein Element enthalten. Ebenso definiert »2« die Menge aller Mengen, die exakt zwei Elemente enthalten. All diese Symbole und ihre Eigenschaften haben Russell und Whitehead zuvor natürlich logisch einwandfrei definiert und abgeleitet.
Übersetzt in normale Sprache besagt die obige Formel: Enthalten die Mengen α und β je ein Element, sind sie genau dann – und nur dann – disjunkt (besitzen also keine gemeinsamen Elemente), wenn ihre Vereinigung exakt zwei Elemente hat. Eine triviale Erkenntnis, möchte man meinen. Das ist aber ein notwendiger Schritt, um später Zahlen und arithmetische Operationen wie 1 + 1 = 2 logisch einwandfrei einzuführen (wofür Russell und Whitehead allerdings noch ein paar hundert Seiten benötigen).
So seltsam die »Principia Mathematica« auch erscheinen mag: Sie hat die Mathematik nachhaltig beeinflusst – allerdings nicht im Sinn ihrer Schöpfer. Knapp 20 Jahre nach ihrer Veröffentlichung bewies der Mathematiker Kurt Gödel, dass das Vorhaben von Russell und Whitehead von Anfang an zum Scheitern verurteilt war. Seine »Unvollständigkeitssätze« zeigten, dass jedes ausreichend große logische System zwangsweise unvollständig ist, also Aussagen enthält, die sich damit nicht beweisen lassen. Auch wenn die Mathematik unvollständig ist: 1 + 1 = 2 gilt trotzdem.
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