Freistetters Formelwelt: Die Regel, der die Welt gehorcht
Die Vorlesung »Theoretische Physik 1« war in meinem Studium diejenige, die mich gleichzeitig am meisten fasziniert und gefordert hat. Die dort verwendete Mathematik war – zumindest für mich – schwer zu verstehen. Die durch diese Mathematik beschriebenen Erkenntnisse allerdings fand ich höchst beeindruckend. Ganz besonders ist mir eine Formel im Gedächtnis geblieben, die auch am Cover eines einschlägigen Lehrbuchs abgebildet war:
Nur vier simple Symbole, und trotzdem steckt darin ein erstaunlich großer Teil der theoretischen Physik. Der Buchstabe S bezeichnet etwas, das »Wirkung« genannt wird und der griechische Buchstabe δ beschreibt die mathematische Operation der »Variation«. Übersetzt bedeutet die Formel so viel wie »Die erste Variation der Wirkung verschwindet«, und sie ist in der Physik unter dem Namen hamiltonsches Prinzip bekannt.
Es geht dabei um das Verhalten dynamischer Systeme, wie etwa die Bewegung eines Teilchens im Lauf der Zeit. Solche Probleme kann man ganz klassisch mit den Gesetzen der newtonschen Mechanik lösen. Das 1834 vom irischen Physiker und Mathematiker William Hamilton formulierte Prinzip ist dazu ebenso in der Lage, geht aber noch weit darüber hinaus.
Schon lange vor Hamilton hatte der französische Gelehrte Pierre de Fermat im 17. Jahrhundert ein ähnliches Gesetz formuliert. Er wollte wissen, wie sich Licht von einem Medium durch ein anderes bewegt. Wir wissen, dass ein Lichtstrahl, der zum Beispiel von der Luft in Wasser eintritt, dabei seine Richtung ändert, also gebrochen wird. Aber welchen Weg legt er dabei zurück? Fermats Lösung: Licht nimmt immer den Weg, bei dem seine Laufzeit minimal wird. Das muss nicht immer auch gleichzeitig der kürzeste Weg sein, wie ein anderes klassisches Beispiel zur Illustrierung des Sachverhaltes zeigt.
Verschwindende Veränderungen zeigen: Hier wird es extrem!
Angenommen jemand möchte eine ertrinkende Person retten. Wie kommt man am schnellsten vom Strand zu ihr ins Meer? Der kürzeste Weg wäre eine gerade Linie. Man kann aber im Allgemeinen schneller an Land laufen als im Wasser schwimmen. Es kann sich daher lohnen, nicht den direkten Weg zu gehen, sondern ein wenig länger am Strand zu laufen, um die Zeit im Wasser zu verkürzen. Bleibt man aber zu lange an Land, dann verliert man den gewonnen Vorsprung wieder, weil die zurückgelegte Strecke zu lang wird. Es gibt genau einen optimalen Punkt, an dem man in Richtung Wasser abbiegen sollte, um die gesamte Zeit zu optimieren.
Genau so bewegt sich Licht von einem Medium ins andere. Und das hamiltonsche Prinzip verallgemeinert das Ganze noch einmal weiter. Vereinfacht gesagt existiert für jede mögliche Bewegung ein ganz bestimmter Wert, den die Wirkung annehmen kann. Mathematisch berechnet sich dieser Wert aus der Lagrange-Funktion, also der Differenz aus kinetischer und potenzieller Energie. Von allen möglichen Bewegungen wird in der Natur nun genau diejenige realisiert bei der die Wirkung stationär ist. Das bedeutet, die Wirkung muss einen Extremalwert einnehmen; oft (aber nicht immer) ist das der kleinstmögliche Wert, weswegen das hamiltonsche Prinzip auch »Prinzip der kleinsten Wirkung« genannt wird.
Genau das wird durch die elegante Formel beschrieben: Die Natur realisiert die Zustände eines dynamischen Systems in dem die Variation der Wirkung verschwindet – was aus mathematischer Sicht nur ein anderer Ausdruck dafür ist, dass sie einen Extremwert angenommen hat. Aus diesem Prinzip kann man die gesamte klassische Mechanik ableiten; es lässt sich aber genauso auf die Quantenmechanik und die Relativitätstheorie anwenden.
Ich war damals enorm beeindruckt davon, dass vier Symbole ausreichen, um ein so fundamentales Verhalten der Natur zu beschreiben. Natürlich braucht man am Ende doch sehr viel mehr Mathematik, wenn man daraus dann alle Details ableiten und verstehen will. Aber die Eleganz des hamiltonschen Prinzips fasziniert mich immer noch.
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