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Freistetters Formelwelt: Die unscharfe Logik des Alters und der Apokalypse

In der Mathematik muss alles klar definiert sein. Wenn etwas trotzdem vage bleibt, dann sollte man zumindest diese Unklarheit so exakt wie möglich in Formeln fassen.
Alles ist unscharf
Auf manche Fragen gibt es keine klaren Antworten. Doch auch damit kann die Mathematik umgehen.

Im Juli werde ich 46 Jahre alt. Damit habe ich prinzipiell kein Problem, aber ich frage mich, ob damit jetzt der Punkt erreicht ist, ab dem ich tatsächlich »alt« bin? Dafür müsste man definieren, wer zur Gruppe der »alten« Menschen gehört. Wenn ich meinen zehnjährigen Neffen frage, erklärt er mir sofort, dass ich natürlich schon sehr alt bin. Mein 92-jähriger Großvater dagegen neigt dazu, mich immer noch für einen jungen Burschen zu halten.

Dem entspricht aus mathematischer Sicht die Frage, welche Eigenschaften ein Objekt haben muss, um Teil einer bestimmten Menge zu sein – in diesem Fall der »Menge der alten Menschen«. Aus klassischer Sicht kann ein Objekt entweder Teil einer Menge sein oder nicht. Das würde allerdings bedeuten, dass es ein fixes Alter gibt, ab dem ich zu den alten Menschen gehöre. Das scheint irgendwie nicht richtig zu sein. Die »Menge der alten Menschen« ist ein recht vager Begriff, für dessen mathematische Beschreibung man einen anderen Weg suchen sollte. Man kann das Problem durch diese Formel beschreiben:

Ohne weitere Erklärungen sind die Symbole natürlich wenig hilfreich. A beschreibt eine so genannte Fuzzy-Menge, die Teil der Grundmenge U ist und durch ihre »Zugehörigkeitsfunktion« m definiert wird. Wäre A eine klassische Menge, dann könnte die Funktion m(n) nur die beiden Werte 0 oder 1 annehmen – je nach Wert von n wäre ein Objekt also Teil der Menge oder nicht. Vereinfacht gesagt: Solange mein Alter einen bestimmten Wert nicht überschreitet, bin ich noch nicht Teil der Menge der alten Menschen. Bei einer Fuzzy-Menge kann m(n) aber beliebige Werte zwischen 0 und 1 annehmen. Der jeweilige Wert kann als Grad der Zugehörigkeit zur Menge A interpretiert werden.

Die legendärsten mathematischen Kniffe, die übelsten Stolpersteine der Physikgeschichte und allerhand Formeln, denen kaum einer ansieht, welche Bedeutung in ihnen schlummert: Das sind die Bewohner von Freistetters Formelwelt.
Alle Folgen seiner wöchentlichen Kolumne, die immer sonntags erscheint, finden Sie hier.

Ist A die »Menge der alten Menschen«, könnte man zum Beispiel m(n) so wählen, dass m(n < 13) nahezu 0 ist, man also erst als Teenager anfängt, ein bisschen »alt« zu sein. Dann könnte m(n) zuerst langsam und ab n > 40 schnell ansteigen. In diesem Beispiel sind alle Menschen »alt«, jedoch mit unterschiedlichen Graden der Zugehörigkeit. Analog kann man Funktionen für die »Menge der jungen Menschen« definieren oder für die »Menge der sehr alten Menschen«. Ich mit meinen 46 Jahren hätte dann wahrscheinlich einen eher geringen Grad der Zugehörigkeit zur Menge der jungen Menschen, aber auch einen (hoffentlich!) ebenso geringen Zugehörigkeitsgrad zur Menge der sehr alten Menschen.

Die Mathematik der Fuzzy-Mengen (und die darauf aufbauende Fuzzylogik) ist durchaus relevant; zum Beispiel in der Regelungstechnik oder bei Anwendungen im Bereich der künstlichen Intelligenz. Immer dann, wenn eine Unschärfe präzise erfasst werden muss, kann die Fuzzylogik hilfreich sein.

Wird ein Asteroid auf die Erde krachen?

Ich selbst habe sie in meiner Doktorarbeit verwendet, um die Langzeitdynamik erdnaher Asteroiden zu beschreiben. Durch die vielen nahen Begegnungen dieser kleinen Himmelskörper mit den Planeten des inneren Sonnensystems ist ihre Bewegung tendenziell chaotisch. Langfristige Aussagen über einzelne Objekte zu treffen, ist dadurch unmöglich. Eine Alternative besteht darin, die Asteroiden in Klassen einzuteilen und nur statistische Aussagen über diese Gruppen zu treffen. Die chaotische Bewegung sorgt jedoch dafür, dass jeder Asteroid früher oder später die Gruppe verlässt, zu der er anfangs gehörte.

Mein Lösungsansatz bestand darin, verschiedene Fuzzy-Mengen zu definieren und den Zugehörigkeitsgrad von Asteroiden zu diesen Mengen zu berechnen. Eine Analyse der unterschiedlichen Zugehörigkeitsgrade in den verschiedenen Klassen hat es dann ermöglicht, trotz chaotischer Bewegung die Langzeitdynamik der Asteroiden zu verstehen. Es mag überraschend erscheinen, dass man mit »unscharfer« Logik erforscht, ob Himmelskörper in Zukunft mit der Erde zusammenstoßen – aber mit der richtigen Mathematik ist das kein Problem.

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