Sex matters: Ein großer Altersunterschied – wie funktioniert das?
»Wir haben uns vor einem halben Jahr im Urlaub kennen gelernt, und obwohl ich anfangs dachte, er sei viel zu alt für mich, überlegen wir jetzt, ob wir zusammenziehen. Aber aus unserem Umfeld kommen viele komische Bemerkungen. Wir sind jetzt an einem Punkt, an dem wir uns fragen: Sind wir naiv, weil wir trotz des Altersunterschieds zusammen sein wollen?« (Julia*, 23, und Sven*, 51)
Ein kurzes Gedankenspiel. Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in einem Restaurant. Am Nachbartisch halten sich Sven und Julia an den Händen. Sie blutjung, er mit Pläte und leicht grauen Schläfen. Was geht Ihnen durch den Kopf? Aha. Und nun ein zweiter Test. Sie sind mit Ihrem Partner oder Ihrer Partnerin unterwegs. Wie fühlt es sich an, wenn die Blicke anderer Menschen ausdrücken: Die beiden – das kann doch nicht gut gehen!? Kein schönes Gefühl, oder?
Julia und Sven kamen zu mir, weil Zweifel und Bedenken von anderen Leuten ihren eigenen Glauben an die gemeinsame Zukunft erschüttert hatten. Dabei hatten sie sich zuvor schon selbst mit den naheliegenden Fragen beschäftigt. Wie funktioniert eine Beziehung, wenn die Frau noch studiert und in einer Wohngemeinschaft lebt, während der Mann schon eine Scheidung hinter sich hat? Und was bedeutet der Altersunterschied für die späteren Lebensjahre?
Julia und Sven hatten über alle Fragen gesprochen und gemeinsam die Entscheidung getroffen: Wir wollen das jetzt, und wir wollen eine gemeinsame Zukunft. Dann kam der Wunsch, zusammenzuziehen, und kaum hatten sie das im Freundeskreis verkündet, ging es los: Du bist zu alt, du bist zu jung, seid ihr wirklich sicher? Julia und Sven kamen sich vor wie in einem Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel: Kurz vor Erreichen der Ziellinie wurden sie wieder zurück an den Start gesetzt. Die gleichen Gedanken wie am Anfang. Nur dass es kein Spiel war, sondern ihr Leben.
Wie Menschen die Beziehungen anderer sehen, hat etwas damit zu tun, was sie als »normal« empfinden. Statistisch gesehen, fällt ein Paar mit großem Altersunterschied aus der Norm. Laut Daten des Statistischen Bundesamts beträgt der Altersunterschied in 44 Prozent der Lebensgemeinschaften zwischen ein und vier Jahre. Nur knapp zehn Prozent der Beziehungen überbrücken elf Jahre und mehr.
Dass Beziehungen mit großem Altersunterschied zum Scheitern verurteilt sind, halte ich jedoch für ein Vorurteil. Meine Erfahrung aus der Praxis: Ob ein Paar glücklich wird, hängt nicht vom Alter ab. Beziehungen gelingen und scheitern in allen möglichen Konstellationen – mit großem oder mit kleinem Altersunterschied. Die Frage ist eher: Wie geht man mit schiefen Blicken und abschätzigen Kommentaren um?
Eine häufige Frage an Menschen mit einem älteren Partner lautet: »Findest du ihn eigentlich attraktiv? Der ist doch so alt!« Puh! Ich finde, es sollte keine Rolle spielen, ob jemand dick oder dünn, alt oder jung, klein oder groß ist. Es geht um den Menschen. Körper faszinieren in ihrer Einzigartigkeit. Was Menschen an ihrem Partner attraktiv finden, entscheiden sie selbst und niemand sonst.
Mit Julia und Sven habe ich darüber gesprochen, was ihnen unterstellt wird und welche Vorurteile dahinterstecken. Ein Beispiel: »Eine Freundin sagt, Sven ist mein Sugardaddy«, erzählt Julia. Keine Frage: Über Geld sollte jedes Paar reden. Wie wollen wir mit Geld umgehen, wer bezahlt was? Bei den beiden war die Sache klar: Sven bezahlte mehr. Er fand das okay. Und Julia auch. So weit, so gut – zwischen den beiden. Aber die Freundin warnte Julia davor, von Sven abhängig zu werden, und das verunsicherte sie. Dabei ist ein Abhängigkeitsverhältnis an sich kein Problem. Unsere Lebenswirklichkeit ist voll davon.
Auf die Rollenverteilung achten
In jeder Beziehung gibt es Unterschiede. Der eine kümmert sich um die Finanzen. Der andere ist gut darin, Kontakte zu pflegen. Der eine ist spontan, der andere sorgt für Ordnung. Und dann ist da noch die Frau, die zu Hause die Kinder betreut, während der Mann arbeitet. Menschen sind verschieden und übernehmen entsprechende Rollen. Dabei hilft die Grundregel: Je größer die Unterschiede, desto wichtiger ist es, immer wieder auf die Rollenverteilung zu schauen. Und darauf, wie zufrieden die Partner damit sind. Auch Abhängigkeiten sind in Ordnung, wenn sie eine bewusste Entscheidung sind und beide damit gut leben können. Sie können sogar zur Beziehung dazugehören. Zum Beispiel, weil Menschen gerne füreinander da sind, wie bei Sven und Julia: Es bereitete ihm Freude, mit seinem Geld auch ihr das Leben angenehmer zu gestalten.
- Die Kolumne »Sex matters«
Was ist guter Sex? Was hält mich davon ab? Und wie schaffe ich es, meine Vorstellungen umzusetzen? Diesen und weiteren Fragen widmet sich der Sexual- und Paartherapeut Carsten Müller in dieser Kolumne (hier in Bild und Ton). Seit 2013 berät er in seiner Duisburger Praxis zu Fragen rund um Sexualität und Partnerschaft. Auch Sie möchten ein Thema für die Kolumne vorschlagen? Dann schreiben Sie eine E-Mail an: Liebe@spektrum.de
- Wer kann weiterhelfen?
Die Kolumne soll dazu anregen, über eigene Bedürfnisse und Grenzen nachzudenken. Sie ersetzt weder eine ärztliche Beratung noch das persönliche Gespräch mit einem Therapeuten. Wenn man allein nicht weiterweiß, kann es helfen, mit jemandem zu sprechen, der sich auskennt. Im deutschsprachigen Raum gibt es zahlreiche Therapie- und Beratungsangebote – hier eine Auswahl:
Eine Übersicht über Beratungsstellen geben die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und die Organisation pro familia. Mit Sextra bieten Teams von pro familia Beratung per Onlineformular und Mail. Therapeutenlisten – geordnet nach Name oder Postleitzahl – führen etwa die Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung, die Deutsche Gesellschaft für Sexualmedizin, Sexualtherapie und Sexualwissenschaft sowie das Institut für Sexualtherapie. Jugendliche finden Hilfe auf sexundso.de.
Wenn Freunde ungefragt Beziehungen kommentieren, macht das aber etwas mit Paaren: Es spricht ihnen ihre Mündigkeit ab. Die Freundin stellte in Frage, dass Julia selbst entscheiden kann, was gut für sie ist. In solchen Situationen empfehle ich, Grenzen zu setzen. Ich habe Julia vorgeschlagen, dass sie ihrer Freundin erklärt, was die Bemerkungen bei ihr ausgelöst haben und dass sie die Meinung von anderen nur hören möchte, wenn sie selbst danach fragt.
Es ist durchaus in Ordnung, wenn Menschen sich dafür interessieren, wie sich Julia und Sven kennen gelernt haben, was sie aneinander mögen und was sie verbindet. Wer danach fragen will: klar! Aber das Paar darf selbst entscheiden, wie viel es teilen möchte. Julia und Sven haben mir berichtet, was der Klebstoff ist, der aus ihnen ein stabiles Ganzes macht – Reisen, Gespräche, Humor. Wenn Sie jetzt überrascht sind, dass das ganz normale Dinge sind, kann ich nur sagen: Das ist richtig. Der Kitt ist bei den meisten Paaren derselbe. Und zwar unabhängig vom Alter.
* Namen geändert
Jetzt sind Sie dran:
Was verbindet Sie mit Ihrem Partner oder Ihrer Partnerin? Finden Sie die Antworten in Form von Filmszenen. Was machen Sie gerne mit Ihrem Partner oder Ihrer Partnerin? Worüber sprechen Sie, worüber lachen Sie? Wann unterstützen Sie einander? Suchen Sie nach den drei Lieblingsmomenten Ihrer Beziehung.
Schreiben Sie uns!
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