Freistetters Formelwelt: Eine unendliche Erkundungstour
Angenommen, wir stehen in der Wüste, um sie zu erforschen. Dafür haben wir einen Jeep zur Verfügung, der aber natürlich Treibstoff braucht. Um eine Entfernungseinheit zurückzulegen, brauchen wir eine Treibstoffeinheit. Dummerweise passt in den Tank des Jeeps nur genau eine Einheit Sprit. Glücklicherweise haben wir aber beliebig viel Treibstoff in unserer Basis und können damit in der Wüste Depots anlegen. Wie weit können wir uns unter diesen Voraussetzungen von der Basis entfernen, wenn wir sicherstellen wollen, dass wir ausreichend Treibstoff haben, um zurückzukehren?
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Es ist klar, dass wir nicht einfach nur volltanken und losfahren können. Denn dann kommen wir nur genau eine halbe Entfernungseinheit weit, bevor wir umkehren. Wir müssen stattdessen zuerst strategisch günstige Depots anlegen: Das am weitesten von der Basis entfernte Vorratslager sollte eine halbe Einheit Treibstoff enthalten, das nächstnähere ein Drittel einer Treibstoffeinheit, das davor ein Viertel, und so weiter. Wenn wir auf der eigentlichen Erkundungsfahrt bei jedem Depot anhalten und mit der Hälfte des dort gelagerten Sprits unseren Tank auffüllen, können wir ausgehend vom fernsten Lager noch eine halbe Einheit weiter in die Wüste vordringen und trotzdem mit dem Rest der gelagerten Vorräte wieder sicher zurück zur Basis zu kommen. Welche Strecke wir am Ende auf der finalen Fahrt mit dem Jeep zurückgelegt haben, kann man durch diese Formel berechnen:
Die Distanz hängt dabei nur von der Anzahl der angelegten Depots (n−1) ab. Ich überlasse es Ihnen zu zeigen, dass man mit entsprechend gut geplanten Vorbereitungsfahrten ausreichend viele Lager an passenden Punkten entlang der Strecke anlegen kann.
Die harmonische Reihe nimmt kein Ende
Die obige Formel wird wahrscheinlich einigen bekannt vorkommen. Tatsächlich entspricht sie der Definition der »harmonischen Zahlen«: der Partialsummen der harmonischen Reihe, die durch die Aufsummierung der Kehrwerte der natürlichen Zahlen entsteht. Für n = 3 würden wir zum Beispiel eine totale Distanz von 11⁄6 Entfernungseinheiten zurücklegen, bei n = 10 wären es fast 3 Entfernungseinheiten. Und wie weit kann man theoretisch kommen, wenn man unendlich viele Depots anlegt? Das kommt darauf an, ob die harmonische Reihe konvergiert oder divergiert – was also im Grenzfall von n → ∞ passiert.
Wenn n immer größer wird, dann wird 1⁄n immer kleiner. Für immer größere Werte von n kommt zur endgültigen Summe also immer weniger dazu – und im Grenzfall gar nichts mehr. Mathematisch korrekt ausgedrückt bilden die Summanden eine »Nullfolge«, die Summe selbst wird für n → ∞ aber trotzdem unendlich groß. Das kann man leicht zeigen, indem man die Glieder der Folge passend zusammenfasst. Die Summe von ⅓ und ¼ ist auf jeden Fall größer als die Summe von ¼ + ¼ = ½. Genau so ist die Summe von ⅕ + ⅙ + 1⁄7 + ⅛ größer als (⅛ + ⅛ + ⅛ + ⅛) = ½. Und so weiter: Man kann auf diese Art leicht zeigen, dass die Partialsummen der harmonischen Reihe jeden Wert übersteigen können, wenn n nur groß genug gewählt wird.
Diesen Divergenzbeweis führte schon im 14. Jahrhundert Nikolaus von Oresme, ein französischer Bischof und Philosoph – allerdings nicht, weil er an der optimalen Strategie zur Erkundung von Wüsten geforscht hätte. Das oben vorgestellte »Jeep Problem« hat seine Wurzeln zwar in der arabischen Mathematik des Mittelalters, wurde aber auf diese Art erst im 20. Jahrhundert formuliert. In der Gegenwart hatte es auch durchaus praktische Anwendungen, zum Beispiel als es darum ging, Flugzeuge während des Zweiten Weltkriegs aufzutanken.
In der Mathematik spielt die harmonische Reihe bis heute eine grundlegende Rolle; bei der Erforschung von Wüsten sollte man sich in Zukunft jedoch besser auf Sonnenenergie verlassen, anstatt irgendwo Benzin zu verbuddeln.
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