Kunststoffe: Plastic Credits helfen nicht gegen das Plastikmüllproblem
Stellen Sie sich vor, Sie dürften für jede fremde Plastikflasche, die Sie von der Straße aufsammeln und ordnungsgemäß entsorgen, Ihre eigene leere Chipstüte in den Garten werfen. Klingt absurd? Ist es auch. Doch genau das wollen Unternehmen bei den laufenden Verhandlungen für ein internationales Plastikabkommen unter dem Namen »Plastic Credits« durchsetzen. Demnach könnte ein Produktionsbetrieb jede Tonne Kunststoff, die dort hergestellt wird, kompensieren, indem er eine Tonne Plastikmüll recyceln oder aus der Umwelt einsammeln lässt. Die Maßnahme soll dabei helfen, die weltweite Flut an Kunststoffabfall einzudämmen. Das Beispiel lässt rasch erahnen, dass das nicht so einfach funktionieren kann. Und auch Experten befürchten, dass das Instrument wenig nützen wird – und im schlimmsten Fall sogar schadet.
Wie man überhaupt auf die Idee kommt, einen solchen Plastik-Ablasshandel einzuführen, ist schnell erzählt. Delegierte der Vereinten Nationen beraten diese Woche über ein international bindendes Abkommen, um den globalen Kunststoffmüll zu reduzieren. Die konkreten Maßnahmen sind noch offen. Diskutiert wird unter anderem, unterstützt von Wissenschaftlern aus mehr als 50 Ländern, die Produktion neuen Plastiks zu beschränken. Das steht allerdings im Gegensatz zu den Absichten der Hersteller, die für die nächsten Jahre einen stark wachsenden Kunststoffmarkt prognostizieren. Plastic Credits könnten hier aus ihrer Sicht Wunder bewirken: Während die Plastikmenge in der Realität steigt, stagniert sie auf dem Papier.
Das Vorbild für die Plastic Credits sind CO2-Kompensationsmechanismen, bei denen Unternehmen ihre eigenen Kohlenstoffdioxidemissionen mit dem Erwerb von CO2-Zertifikaten rechnerisch ausgleichen können. Solche Zertifikate erhält man etwa, indem man Projekte finanziert, die der Luft das Treibhausgas entziehen oder den Ausstoß vermeiden. Doch bereits die Wirksamkeit der CO2-Zertifikate ist fraglich. Das System leistet, vorsichtig formuliert, nicht den Beitrag zum Klimaschutz, den man sich erhofft hatte. Etwas direkter ausgedrückt: Die meisten CO2-Zertfikate sind weitgehend nutzlos , wie eine aktuelle Studie von Anfang November 2024 ergeben hat. Mit Kunststoffen funktioniert das Gegenrechnen erst recht nicht, denn reales Plastik verschwindet nicht einfach (es sei denn, man verbrennt es und erzeugt dadurch wiederum Treibhausgase und mitunter sogar Giftstoffe). Was bereits da ist, kann man auch nicht »vermeiden«. So kommt für jede Tonne eingesammelten Kunststoffmülls eine frische Tonne Nachschub aus der Fabrik.
Abgesehen davon sind Kunststoffe deutlich komplizierter als CO2: Während Letzteres stets dasselbe Molekül ist, bilden Erstere eine ganze Klasse höchst diverser Materialien. Bereits die »Grundgerüste« der Kunststoffe – die Polymere PE, PP, PET, PVC, Nylon und mehr als 2000 weitere –, haben mitunter deutlich verschiedene Eigenschaften. Kunststoffe enthalten überdies mehr Substanzen als die reinen Polymere: Stand 2024 sind weltweit mehr als 16 000 chemische Stoffe mit Plastik assoziiert, kommen also als Additive in den Materialien vor oder sind während des Herstellungsprozesses unabsichtlich dort hineingelangt. Durch die Kombination dieser vielen Substanzen entsteht eine schier unendliche Vielfalt an Zusammensetzungen. Während das eine Material vielleicht unbedenklich ist, kann ein anderes hochgiftig für Mensch, Tier oder ganze Ökosysteme sein.
Den einen Kunststoff mit dem anderen zu vergleichen oder gar gegenzurechnen ist daher absurd, weil unterschiedliche Materialien völlig unterschiedliche Wirkungen haben können. Um diese Abfallvielfalt zu reduzieren, ist ein anderer Ansatz viel effektiver: Kunststoffe von Beginn an so zu entwickeln, dass sie für Mensch und Umwelt sicher sowie einfach zu recyceln sind.
Ähnlich unübersichtlich wie die Vielzahl an Chemikalien sind die weltweiten Plastikströme. Es gibt kein einheitliches Vorgehen, Plastikmüll zu »zählen«: Wie viel Kunststoffmüll jährlich in Deponien landet und was dagegen den Weg in Landschaft, Flüsse und schließlich Ozeane findet, lässt sich nur schätzen. Einheitliche Vorgaben, gesammelten Müll zu quantifizieren, gibt es nicht. Erst recht nicht lässt sich nachverfolgen, woher eine Tonne zusammengesammelter Müll stammt: aus einer Deponie? Vom Recyclinghof? Oder wurde er tatsächlich aus dem Meer gefischt und kann gutgeschrieben werden? Grundsätzlich ist natürlich nichts dagegen einzuwenden, wenn Firmen sich dafür engagieren, Müll zu beseitigen. Problematisch wird es allerdings, sobald die Sache mit frisch produziertem Kunststoff verrechnet werden soll. Bereits jetzt mangelt es in Sachen Plastikmüll an Transparenz. Es wird also sehr kompliziert, ein nachvollziehbares und verlässliches System für Müllgutschriften zu etablieren.
Plastic Credits könnten dazu führen, dass Müll-Kolonialismus legitimiert wird
Abgesehen davon könnten durch die Einführung solcher Plastik-Gutschriften Ungleichgewichte zementiert werden, die bereits bestehen: Die einen produzieren und konsumieren, die anderen sammeln auf. Laut einer aktuellen Analyse verteilt sich der Großteil des »schlecht gemanagten Plastikmülls« – also des Teils, der in der Umwelt herumliegt – hauptsächlich auf Afrika, Asien und Südamerika. Offizielle Plastic Credits könnten dazu führen, dass Müll-Kolonialismus legitimiert werde, befürchten Wissenschaftler in einem am 11. November 2024 veröffentlichten Preprint.
Und so sind die vorgeschlagenen Plastic Credits vor allem eins: eine gefährliche Idee, die alle Bemühungen, die weltweite Plastikflut einzudämmen, ausbremst. Statt zu überlegen, wie man den Müllberg am besten wegrechnen kann, sollten alle Beteiligten lieber Wege finden, den realen Müllberg zu beseitigen.
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