Warkus’ Welt: Der größte Philosoph des Mittelalters
»Das Mittelalter hat alles erfunden, was uns noch heute zu schaffen macht«, erklärte der Philosoph und Schriftsteller Umberto Eco in einem Vortrag 1983. Wie kam er dazu? Könnten wir mit einer Zeitmaschine ins Europa des 13. Jahrhunderts reisen, würden wir dort schließlich vieles vermissen, was wir heute gewohnt sind: Strom und Internet, Antibiotika, demokratische Nationalstaaten oder auch nur Kartoffeln und Tomaten. Doch die dauerhaften mittelalterlichen Innovationen, die Eco – nicht ohne Augenzwinkern – aufzählt, sind vor allem institutioneller Art: etwa Banken, Krankenhäuser, Indizienprozesse, (italienische) Kommunalpolitik und insbesondere die Universität.
Deren Organisationsformen, Methoden und Schwerpunkte haben mit den heutigen zwar nur noch wenig gemein. Aber das grundlegende Konzept einer selbstverwalteten Institution für Forschung und Lehre, die Bildungsabschlüsse vergibt – darunter solche, die dazu berechtigen, dass die Absolventen selbst wiederum an anderen Universitäten lehren dürfen – hat sich gehalten. Und obwohl sie in erster Linie Ausbildungsstätten für Kleriker waren, haben mittelalterliche Hochschulen unzählige bis heute bekannte und gelesene Philosophen hervorgebracht. Einer davon überstrahlt sie alle: Thomas von Aquin, dessen Geburtstag sich um Neujahr 2025 zum 800. Mal jährt.
Als jüngster Sohn einer Adelsfamilie aus der Nähe der mittelitalienischen Stadt Aquino wurde Thomas bereits als Kind ins Kloster gegeben. Im Teenageralter, wie damals üblich, begann er das Studium an der Universität Neapel. Gegen den Willen seiner Eltern trat er in den noch jungen Bettelorden der Dominikaner ein. In Paris und Köln studierte er bei dem Universalgelehrten Albertus Magnus (zirka 1200–1280), der im Okzident führend in der Neuerschließung der Schriften des Aristoteles war, die noch nicht lange in lateinischer Übersetzung zur Verfügung standen.
In seinem Vortrag über das Mittelalter stellt Eco fest, dass man das Erbe der Antike zwar verehre und rekonstruiere; aber weiterhin in Stand halten und alltäglich gebrauchen würde man nur das Erbe des Mittelalters. Und solchermaßen sei auch der große Aristoteles in der Hinsicht, in der er heute noch »anwendungsfähig« ist, ein mittelalterliches Produkt: »Wenn man die griechischen Philosophen benutzt, als wären sie Zeitgenossen, benutzt und repariert man sie sich als mittelalterliches Erbe«, führt Eco aus. »Sobald jedoch ein Philologe uns Aristoteles so restauriert, wie er war und nicht wie das Mittelalter ihn uns überliefert hat, ist dieser Aristoteles nicht mehr Lebenslehrer, sondern Examenstext.« Und genau hierfür verantwortlich ist Thomas von Aquin, der das Projekt, Aristoteles mit der christlichen Lehre kompatibel zu machen und in ihren Dienst zu stellen, verkörpert wie kein anderer.
Aristoteles' Tugendlehre im Neuen Testament
Aus seinem mehr als 25 000 Seiten umfassenden Werk möchte ich als kleines Schlaglicht seine Tugendlehre herausgreifen, die vermutlich der populärste und bekannteste Teil von Thomas’ Ethik ist. Sie baut direkt auf der aristotelischen Lehre auf. Die vier Kardinaltugenden Gerechtigkeit, Tapferkeit, Mäßigung und vor allem Klugheit (prudentia), ohne die alle anderen nichts sind, stehen im Zentrum. Thomas bringt sie mit den theologischen Tugenden aus dem Neuen Testament – Glaube, Liebe und Hoffnung – zusammen und stellt klar, dass man stets daran scheitern wird, aus eigener Kraft moralisch vollkommen zu werden, weil die vollkommene geistliche Tugend etwas Göttliches an sich hat und nur unter Mitwirkung übernatürlicher Gnade zu erreichen ist.
Ob in der Metaphysik – und zwar der allgemeinen, die sich mit den grundlegendsten Begriffen wie »Ding« oder »Eigenschaft« beschäftigt, sowie der speziellen, in der es etwa um die Existenz Gottes oder der menschlichen Seele geht –, der Erkenntnistheorie, der Rechts- und politischen Philosophie, wo er etwa der Lehre vom gerechten Krieg für Jahrhunderte ihre definitive Form gab: Thomas’ Werk hat enzyklopädischen Umfang. Es ist überwiegend in Form so genannter Quaestionen verfasst, also von stark strukturierten, an Diskussionen in der Hochschullehre angelehnten Erwiderungen auf Einwände zu bestimmten Lehrfragen, und eignet sich daher eher nicht als behagliche Lektüre. Dennoch entfaltete es eine einzigartige Wirkmacht. Zu seiner Zeit war Thomas hoch umstritten – und eine so prominente Figur, dass er unmittelbar nach seinem Tod schon mehr oder minder als Heiliger gehandelt wurde. Über die Jahrhunderte wuchs sein Einfluss auf die christlich-abendländische Philosophie so weit, dass 1879 die durch ihn begründete Denkschule die offizielle, verpflichtend zu studierende Philosophie der katholischen Kirche wurde und es ein gutes Jahrhundert lang blieb.
Philosophische Systeme, die das menschliche Leben und Streben zur Gänze abdecken, sind heute ebenso außer Mode gekommen wie – jedenfalls in Europa – das Christentum, mit dessen theologischen Bedürfnissen Thomas’ Denken untrennbar verknüpft ist. Dennoch bleibt Thomas eine monumentale Figur. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass das, was wir heute unter Philosophie in der abendländischen Tradition verstehen, nicht so wäre, wie es ist, wenn es Thomas nicht gegeben hätte. Die Handschrift, die er im mittelalterlichen Denken hinterlassen hat, können wir heute noch lesen.
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