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Die fabelhafte Welt der Mathematik: Erst Mord, dann Mathe

Der verurteilte Mörder Christopher Havens hat ein jahrzehntealtes Mathematikproblem gelöst. Mit dem »Prison Mathematics Project« hofft er auch andere Häftlinge für das Fach zu begeistern. Mit Erfolg.
Zwei Waffen vor pinkem Hintergrund, darüber der Schriftzug »QED«, beides in Türkis.
Von Crystal Meth zur Mathematik: Christopher Havens schlug den umgekehrten Weg von Walter White in »Breaking Bad« ein.
Viele Menschen denken, Mathematik sei kompliziert und öde. In dieser Serie möchten wir das widerlegen – und stellen unsere liebsten Gegenbeispiele vor: von schlechtem Wetter über magische Verdopplungen hin zu Steuertricks. Die Artikel können Sie hier lesen oder als Buch kaufen.

Eines Nachts wälzte sich Christopher Havens unruhig im Schlaf und schreckte auf. Er hatte zuvor nur an dieses eine Mathematikproblem denken können, das ihm keine Ruhe ließ. Er verbrachte Tage damit, darüber nachzugrübeln; er träumte sogar davon. Manchmal klebte er die Wände um sich herum mit Papieren voll, die über und über mit mathematischen Kritzeleien vollgeschrieben waren. Und irgendwann riss ihn schließlich eine neue Idee aus dem Schlaf. Er hatte im Traum die Lösung zu einem seiner mathematischen Rätsel endlich gefunden.

Es klingt, als sei Christopher Havens ein völlig überzeichneter Mathematiker – eine Filmfigur, von Hollywood-Drehbuchautoren erdacht. Doch Havens ist real; und seine Geschichte ist es auch. Es gibt allerdings einen gravierenden Unterschied zwischen Havens und dem, was man sich unter einem Mathematik-Nerd vorstellt: Christopher Havens sitzt seit 2010 wegen Mordes im Gefängnis.

»Ich hatte eine ziemlich dunkle Vergangenheit«, fasst es Havens in einem Interview mit dem Mathematiker Tian An Wong zusammen. Weil seine Mutter als Krankenschwester für die US-Armee arbeitete, zog die Familie während seiner Kindheit quer durch die USA. Havens hatte Mühe, Anschluss zu finden, und stürzte ab. Er brach die Highschool im zweiten Jahr ab, begann Drogen zu nehmen, erst Gras und Alkohol, dann Pillen und LSD, und landete schließlich bei Crystal Meth. In den 2000er Jahren, da war er gerade einmal um die 20 Jahre alt, ging die Abwärtsspirale weiter: Er lebte zeitweise auf der Straße, fasste sich wieder, wurde rückfällig. Irgendwann fing er an, die Drogen, nach denen er süchtig war, selbst zu verkaufen.

»Ich hoffe einfach, dass sie sehen können, dass die Person, die ihnen diesen Schmerz verursacht hat, nicht in einem Gefängnis sitzt und versucht, ein besserer Krimineller zu werden«Christopher Havens, Häftling

Ende März 2010 fuhr er mit zwei anderen Meth-Dealern hinaus in den Capitol State Forest, einen Wald in der Nähe von Olympia, der Hauptstadt des US-Bundesstaats Washington. Einer seiner beiden »Kollegen«, Randen Robinson, jagte Havens nach eigenen Angaben Angst ein. Ob nun aus Paranoia oder im Drogenrausch: An diesem Frühlingstag schoss Havens Robinson in den Kopf und tötete ihn damit. Kurz darauf wurde Havens von Polizeibeamten aufgegriffen. Er gestand den Mord und wurde zu 25 Jahren Haft verurteilt. Damals war er 30 Jahre alt.

Inzwischen ist er nicht nur Erstautor einer mathematischen Arbeit, die 2020 in einem renommierten Fachjournal erschienen ist, sondern auch Mitgründer des »Prison Mathematics Project« (PMP), eines Mentorenprogramms, bei dem sich Gefangene mit Mathematikerinnen und Mathematikern austauschen können. In Interviews betont Havens die Reue für seine Tat. Die Familie des Mordopfers darf er nicht direkt kontaktieren. »Ich hoffe einfach, dass sie sehen können, dass die Person, die ihnen diesen Schmerz bereitet hat, nicht in einem Gefängnis sitzt und versucht, ein besserer Krimineller zu werden«, äußerte Havens in einem Interview mit Brady Haran von »Numberphile«.

Breaking Bad rückwärts: Von Crystal Meth zu Mathe

Seine Leidenschaft für Mathematik entdeckte Havens kurze Zeit nach seiner Ankunft im Monroe Correctional Complex, dem größten Gefängnis in Washington, das mehr als 3100 Häftlinge fassen kann. »Willst du ein Clownfish werden oder ein Hai?«, hatte Havens' Vater ihn in Bezug auf seine Rolle im Gefängnis gefragt. Havens entschied sich für Letzteres: Kaum dort angekommen, legte er sich mit anderen Insassen an und landete in Einzelhaft.

Er befand sich nun in einer kahlen, weißen Zelle, in der 24 Stunden lang das Licht brannte. Um dort nicht durchzudrehen, löste Havens Sudoku-Rätsel. Doch irgendwann erregte einer der Vollzugsbeamten seine Aufmerksamkeit, der regelmäßig Umschläge unter die Zellentüren anderer Insassen in Einzelhaft schob. Als Havens nachfragte, was darin steckte, erhielt er zwar keine Antwort, bekam aber bald auch einen dieser Umschläge. Darin fand er Mathematikaufgaben.

Monroe Correctional Complex | Es ist das größte Gefängnis im US-Bundesstaat Washington.

Ähnlich wie die Sudoku-Rätsel schafften es die mathematischen Probleme, Havens von der Einsamkeit und Isolation abzulenken. Er konnte kaum schlafen und begann, Tag und Nacht an den Aufgaben zu arbeiten. Da er die Highschool frühzeitig abgebrochen hatte, musste er sich vieles selbst beibringen. Doch es gelang ihm, immer weiter voranzukommen. Er nahm an, dass die Umschläge als Zeitvertreib dienten, um die Häftlinge während der Einzelhaft zu beschäftigen. Doch später stellte sich heraus, dass sie eine Bildungsmaßnahme und Teil eines Kurses waren.

»Ich hatte keine Ahnung, was ich zuerst kaufen sollte, also kaufte ich Bücher, die weit über meinem Wissensstand waren, und welche, die weit unterhalb meines Wissensstands lagen. Es war schwer, etwas zu finden, was genau passte«Christopher Havens, Häftling

Auch nach der Einzelhaft widmete sich Havens den Mathematikproblemen und versah seine Antworten oft mit weiterführenden Fragen. Und irgendwann erhielt er eine schriftliche Antwort – der Lehrer erklärte, Havens habe nun ein Niveau erreicht, das seine eigenen Fähigkeiten übersteige. Er könne ihm nicht mehr helfen. Das veranlasste Havens, sich weiter mit den Themen zu beschäftigen.

Er begann Mathematikbücher zu bestellen. »Ich hatte keine Ahnung, was ich zuerst kaufen sollte, also kaufte ich Bücher, die weit über meinem Wissensstand waren, und welche, die weit darunterlagen. Es war schwer, etwas zu finden, was genau passte«, sagte er. Viele der Bücher erfüllten nicht die nötigen Gefängnisauflagen (es sind nur bestimmte Verlage zugelassen, nur Taschenbücher und so weiter), weshalb Havens seine Mutter bat, ihm die Werke zu besorgen, etwa »​​The Confluent Hypergeometric Function« von Herbert Buchholz. »Ich musste dann fragen: ›Kannst du das bitte buchstabieren?‹ Denn ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst«, erzählte Havens’ Mutter, Terry Forte, der Journalistin A. C. Shilton.

Havens wollte mehr über die aktuelle Forschung erfahren und schrieb deshalb an einen Redakteur von »Annals of Mathematics«, der wohl renommiertesten Zeitschrift des Fachs:

»Sehr geehrte Damen und Herren,
Ich würde gerne mehr Informationen über ein Abonnement der ›Annals of Mathematics‹ für den persönlichen Gebrauch erhalten. Derzeit verbüße ich eine 25-jährige Haftstrafe im Washington Department of Correction, und ich habe beschlossen, diese Zeit zur persönlichen Weiterentwicklung zu nutzen. Ich studiere derzeit Analysis und Zahlentheorie, da Zahlen zu meiner Mission geworden sind. Könnten Sie mir bitte Informationen zu Ihrem mathematischen Journal zusenden?

Christopher Havens, #349034

PS: Ich bringe mir alles selbst bei und bleibe oft lange an Problemen hängen. Gibt es jemanden, mit dem ich mich austauschen könnte, wenn ich frankierte Rückumschläge beilege? Hier gibt es keine Lehrer, die mir helfen können, daher gebe ich oft Hunderte von Dollar für Bücher aus, die möglicherweise nicht die Hilfe enthalten, die ich brauche. Vielen Dank.«

Der Empfänger dieses Schreibens, Matthew Cargo, erzählte seiner Frau Marta Cerutti davon, deren Eltern Mathematiker sind. Sie versuchte, ihren Vater zu einer Zusammenarbeit zu überreden. »Mein Vater dachte, dass Havens wahrscheinlich einer von den vielen Verrückten sei, die eine Leidenschaft für Zahlen entwickeln und eine fehlerhafte Theorie aufstellen«, schreibt Marta Cerutti in einem Artikel für »The Conversation«. Aber sie konnte ihn überzeugen, ihm eine Chance zu geben.

Umberto Cerutti schickte dem Häftling zunächst als Test eine Aufgabe – und erhielt eine 120 Zentimeter lange Antwort. Auf dem langen Papierzettel stand eine komplizierte, handgeschriebene Formel. Als Cerutti sie seinem Computer übergab, stellte er fest, dass Havens tatsächlich das richtige Ergebnis berechnet hatte. So begann eine ungewöhnliche Zusammenarbeit.

Ein typisches Gefängnis-Thema

Cerutti und Havens entschieden sich, gemeinsam an Kettenbrüchen zu forschen; ein Thema, mit dem sich die bekannten Mathematiker Srinivasa Ramanujan und André Weil beschäftigt hatten – als sie ebenfalls im Gefängnis saßen.

Kettenbrüche lassen sich wie eine Matrjoschka-Puppe aus Bruchzahlen vorstellen. Es sind Brüche, die unendlich oft ineinandergeschachtelt werden. Und natürlich entsprechen sie am Ende einem konkreten Ergebnis; einer Zahl, zum Beispiel Pi:

\[ \pi = 3 + \frac{1}{7 +\frac{1}{15+ \frac{1}{1+ \frac{1}{292 + \frac{1}{1+...}}}}} \]

Kurze Anleitung zur Kettenbruchdarstellung von Pi

Um Pi als Kettenbruch darzustellen, kann man folgendermaßen beginnen: π = 3,14159… = 3 + 0,14159… Dann bildet man den Kehrwert des Kehrwerts der Nachkommazahlen: \( 3+ \frac{1}{\frac{1}{0,14159…}} = 3+ \frac{1}{7,06251…} \). Nun spaltet man den ganzzahligen Anteil des letzten Terms ab und verfährt so weiter: \( 3+ \frac{1}{7 + 0,06251…} = 3+ \frac{1}{7 + \frac{1}{\frac{1}{0,06251…}}} = 3+ \frac{1}{7 + \frac{1}{15,99744…}} \). Nach und nach baut sich so ein unendlich langer ineinandergeschachtelter Bruch auf.

Auf den ersten Blick wirkt es, als würde man damit einfach nur eine komplizierte Methode entwickeln, um Zahlen auszudrücken. Doch tatsächlich sind Kettenbrüche extrem nützlich, wenn es darum geht, irrationale Zahlen anzunähern. Denn je mehr der ineinandergeschachtelten Brüche man ausrechnet, desto näher kommt man dem tatsächlichen Zahlenwert einer irrationalen Zahl.

»Ich glaube, es hat ein Jahr gedauert, bis ich erkannt habe, dass es keine Lösung dazu gibt«Christopher Havens, Häftling

»All diese schönen Kettenbrüche, deren Teilnenner diese wirklich ordentlichen Muster bilden, haben diese wirklich eleganten endlichen Formen, in denen man sie durch e oder π oder was auch immer ausdrücken kann«, sagte Havens. Er entschloss sich daher, die Kettenbrüche von Ceruttis Problem ebenfalls durch bereits bekannte Konstanten auszudrücken. »Ich glaube, es hat ein Jahr gedauert, bis ich erkannt habe, dass es keine Lösung dazu gibt.« Was Cerutti und seine Kollegen stattdessen interessierte, war, wie sich die Kettenbrüche ändern, wenn man sie transformiert.

Im Prinzip wollten sie also herausfinden, wie symmetrisch bestimmte Kettenbrüche sind – und damit etwas Neues über irrationale Zahlen selbst erfahren. »Sie haben erstmals Regelmäßigkeiten in der Näherung einer großen Klasse von Zahlen gefunden«, schreibt Marta Cerutti. »Das kann neue Forschungsgebiete in der Zahlentheorie eröffnen.«

Modulraum | Modulräume spiegeln die hyperbolische Geometrie wider: Die einzelnen farbigen Zellen enthalten dieselben Punkte.

Dafür sahen sich Havens, Umberto Cerutti und Nadir Murru an, was passiert, wenn man gewisse Kettenbrüche f auf folgende Weise verändert: Af + BCf + D, wobei A, B, C und D ganze Zahlen sind. Wenn man Objekte aus der hyperbolischen Geometrie (einer Geometrie, die nicht den Gesetzen von Euklid gehorcht) auf diese Weise transformiert, bleiben sie unverändert. Die hyperbolische Geometrie beschreibt allerdings eine extrem seltsame Welt. Der Raum ähnelt dabei überall einem Pringles-Chip: Vorn und hinten geht es bergauf, rechts und links bergab – und zwar an jedem Punkt! In unserer Welt ist so etwas nicht realisierbar; in der Fantasie von Mathematikern aber schon. Und wie Havens, Cerutti und Murru herausfanden, folgen einige Zahlen dieser mysteriösen Symmetrie. Diese Zahlen haben Regelmäßigkeiten, die sich von der uns bekannten Welt völlig unterscheiden.

Solche Ergebnisse aus dem Gefängnis heraus zu erzielen, wäre ohne äußere Hilfe unmöglich gewesen. Und selbst mit dem Engagement von Cerutti und Murru musste Havens viele Hürden überwinden. Die beiden Mathematiker schickten ihm mehrere Bücher und Manuskripte ins Gefängnis, doch einige wurden abgewiesen. Zudem hat Havens weder Zugang zum Internet noch zu einem Computer, mit dem er Berechnungen durchführen könnte. Daher beschloss er, zusammen mit der Gefängnisleitung das »Prison Mathematics Project« (PMP) zu gründen. Er durfte daraufhin seinen Mitinsassen Mathematik beibringen und eine Fachbibliothek aufbauen, in der sich die Häftlinge zweimal wöchentlich austauschen konnten.

Ein Mentorenprogramm für Häftlinge

Kurz nach der Veröffentlichung des Fachartikels beschrieb Marta Cerutti in »The Conversation« die Geschichte von Havens und den Schwierigkeiten, die Gefängnisinsassen beim Erarbeiten von wissenschaftlichen Inhalten begegnen. Ihr Artikel ging viral. »Er wurde auf hunderten Websites neu veröffentlicht«, schreibt Cerutti in einem nachfolgenden Text bei »The Conversation«. Dutzende von Personen wollten helfen, darunter zahlreiche Mathematiker.

Einer davon war Walker Blackwell, der das PMP zu einem länderübergreifenden Programm machen wollte, an dem alle US-Häftlinge teilhaben könnten. »Er klang wie ein studierter Herr«, sagte Havens, »doch dann stand am Ende seiner E-Mail, dass er Highschool-Schüler ist.« Havens wollte ihm für seine Mühe danken und absagen. »Aber als ich darüber nachdachte, wurde mir klar, dass er wahrscheinlich die gleichen Grenzen erfährt wie ich im Gefängnis. Menschen nehmen ihn wegen seines Alters nicht ernst, genauso wie ich wegen meiner Haft nicht ernst genommen werde.« Havens sagte also, er wäre mit einer Zusammenarbeit einverstanden, falls Blackwells Eltern einwilligten.

Inzwischen ist das Projekt eine Erfolgsgeschichte: Mentoren können interessierten Häftlingen ein »Mathe-Paket« zusammenstellen und sich mit ihnen über die Inhalte austauschen. Seit 2017 finden am Tag der Mathematik, dem Pi-Tag am 14. März, in einigen US-Gefängnissen mathematische Vorträge und Wettbewerbe statt. Inzwischen haben mehr als 170 Insassen an dem Projekt teilgenommen. Einer von ihnen, Travis Cunningham, hat im November 2023 dank des PMP eine Forschungsarbeit zu mathematischer Physik veröffentlicht und hofft, nach seiner Inhaftierung in Mathematik promovieren zu können.

»Wenn wir uns auf eine mathematische Praxis einlassen und in die Gemeinschaft und die Kultur, die sie umgibt, eintauchen, kann die tiefgreifendste Art der Wiedereingliederung stattfinden«Christopher Havens, Häftling

»Havens' Geschichte ist ein Aufruf an uns alle in den Natur- und Ingenieurwissenschaften, sich der transformierenden Kraft unserer eigenen Disziplinen bewusster zu werden«, schreibt Marta Cerutti. Und tatsächlich gibt es gibt viele Studien, die belegen, dass Bildungsprojekte in Gefängnissen die Rückfallquote nach der Freilassung senken. Havens bekräftigt das in einem Newsletter des PMP aus dem Jahr 2024: »Wenn wir uns auf eine mathematische Praxis einlassen und in die Gemeinschaft und die Kultur, die sie umgibt, eintauchen, kann die tiefgreifendste Art der Wiedereingliederung stattfinden. Ich weiß das, weil ich es erfahre, während ich meine Träume innerhalb eines Gefängnisses lebe.«

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