Die fabelhafte Welt der Mathematik: Von sportlichen Weltrekorden zur mysteriösesten Zahl der Welt
Auch wenn mich Sport-Events nicht besonders interessieren, war es dieses Jahr unmöglich, die Olympischen Spiele in Paris zu ignorieren. Das Pubquiz, das ich gerne besuche, widmete der Veranstaltung einen kompletten Abend (mein Sportmuffel-Team schnitt erwartungsgemäß nicht besonders gut ab), meine Mutter berichtete mir begeistert von der Eröffnungszeremonie – und ich ließ mich in der Redaktion dazu hinreißen, über die Kontroversen eines olympischen Schwimmbeckens zu berichten. Selten habe ich mich in so kurzer Zeit so stark mit einer Sportveranstaltung beschäftigt.
Eine Sache hat mich dabei besonders verwundert. Wie kann es sein, dass immer wieder neue Rekorde aufgestellt werden? Irgendwann müsste doch eine körperliche Grenze erreicht sein, sollte man meinen. Tatsächlich aber wunderten sich die Zuschauer, als in den ersten Tagen in Paris beim olympischen Schwimmen noch kein Rekord gebrochen wurde. Von Biologie habe ich wenig bis keine Ahnung, deswegen habe ich mir das Ganze aus – zugegebenermaßen vereinfacht – mathematischer Sicht angeschaut. Und dabei bin ich schnell bei einer mysteriösen Zahl gelandet, die immer wieder in verschiedenen Zusammenhängen auftaucht und über die erstaunlich wenig bekannt ist.
Schaut man sich die Weltrekorde im Schwimmen bei 50-Meter-Freistil der Männer an, zeichnet sich ein beeindruckender Trend ab: 1976 erreichte Jonty Skinner mit 23,86 Sekunden eine Bestzeit, zehn Jahre später erreichte Matt Bondi das Ziel in 22,33 Sekunden, 1990 schaffte es Tom Jager in nur 21,81 Sekunden, und 2009 stellte César Cielo den bis heute gültigen Weltrekord mit 20,91 Sekunden auf. Das heißt, im ersten Jahrzehnt verbesserten sich die Schwimmer um 1,53 Sekunden, im zweiten um 0,51 Sekunden und im dritten um 0,90 Sekunden. Auch in anderen Disziplinen wie beim Sprint oder beim Radfahren gibt es immer wieder neue Rekorde. Die Zeitunterschiede sind winzig, und meist werden sie mit jedem neuen Rekord kleiner.
Ich will hier keine wilden Extrapolationen vornehmen und Schätzungen abgeben, wann der nächste Rekord fällt oder wie er aussehen könnte. Aber das Ganze erinnert doch verdächtig an Grenzwerte aus der Analysis. Die Sportlerinnen und Sportler werden Jahr für Jahr (beziehungsweise Jahrzehnt für Jahrzehnt) ein klitzekleines bisschen besser. Die natürliche Frage, die sich aus mathematischer Sicht dabei ergibt: Erreichen die Folgen, welche aus den Rekordzeiten bestehen, irgendwann einen festen Grenzwert?
Ausflug in eine harmonische Sportwelt
Um das zu untersuchen, kann man eine vereinfachte Sportwelt betrachten, bei der Schwimmer jährlich besser werden. Angenommen, zunächst läge der Rekord bei 50 Meter Freistil bei 25 Sekunden (damit lässt sich einfach rechnen). Ein Jahr später ist der beste Schwimmer bereits eine Sekunde schneller. Im Jahr darauf liegt der Rekord bei 23,5 Sekunden (nahe am 1976 verzeichneten Rekord); danach ist der Rekordhalter eine drittel Sekunde schneller, anschließend eine viertel Sekunde und so weiter. Welche Bestzeit wird die Menschheit irgendwann beim Schwimmen erreichen, wenn der Trend sich immer durchsetzt?
Diese Frage stellte sich auch der Gelehrte Nicolas Oresme im 14. Jahrhundert. Zugegeben, er dachte wahrscheinlich nicht direkt über Schwimmrekorde nach. Als mathematisch interessierte Person beschäftigte sich Oresme mit einer unendlich langen Summe, der so genannten harmonischen Reihe. Diese ergibt sich, wenn man den Kehrwert aller natürlichen Zahlen addiert, also:
\[ 1 + \frac{1}{2} + \frac{1}{3} + \frac{1}{4} + \frac{1}{5} + \frac{1}{6} + ...\]
Die einzelnen Summanden entsprechen der Zeitdauer, um welche sich die fiktiven Rekordzeiten im oben genannten Beispiel verbessern. Nach zehn Jahren hätte der amtierende Rekordhalter demnach eine Bestzeit von 22,08 Sekunden. Nach weiteren zehn Jahren hat sich die Rekordzeit um weitere 0,67 Sekunden reduziert: Nun schwimmt der schnellste Schwimmer die 50 Meter in 21,41 Sekunden. So kann man nun weiterrechnen. Nach 50 Jahren würde der beste Schwimmer mit einer Zeit von 20,5 Sekunden eine neue Bestmarke aufstellen. Und nach weiteren 50 Jahren Training würde die Zeit um gerade einmal weitere 0,69 Sekunden sinken. Die große Frage lautet: Gibt es eine Zeit, welche die Schwimmer niemals unterschreiten können?
Diese Frage lässt sich in mathematische Sprache übersetzen: Konvergiert die harmonische Reihe? Oder wächst die Summe mit jedem Summanden immer weiter ins Unermessliche an? Das wollte Nicolas Oresme herausfinden. Seine Antwort: Nein, die harmonische Reihe konvergiert nicht.
Die harmonische Reihe konvergiert nicht
Nicolas Oresme betrachtete für seinen Beweis die einzelnen Summanden der harmonischen Reihe. Er wollte die Terme durch kleinere Werte ersetzen und zeigen, dass die Summe dieser kleineren Werte unendlich ergibt. Daraus würde folgen, dass die harmonische Reihe – die ja aus größeren Werten besteht – zwangsläufig auch unendlich groß wird.
Dabei ging er folgendermaßen vor: Er schätzte jeden Summanden durch eine Potenz von \(\frac{1}{2}\) ab: Statt 1 setzt er also \(\frac{1}{2}\) ein, den zweiten Summanden \(\frac{1}{2}\) lässt er so stehen, statt \(\frac{1}{3}\) betrachtet er \(\frac{1}{4}\); den vierten Summanden \(\frac{1}{4}\) belässt er; \(\frac{1}{5}\) ersetzt er durch \(\frac{1}{8}\) und so weiter. Dadurch ergibt sich folgender Zusammenhang:
\[ 1 + \frac{1}{2} + \frac{1}{3} + \frac{1}{4} + \frac{1}{5} + \frac{1}{6} + \frac{1}{7} + \frac{1}{8} +...\] \[≥ \frac{1}{2} + \frac{1}{2} + \frac{1}{4} + \frac{1}{4} + \frac{1}{8} + \frac{1}{8} + \frac{1}{8} + \frac{1}{8} +...\]
Addiert man die einzelnen Summanden mit dem gleichen Nenner in der unteren Reihe, ergibt sich Folgendes:
\[1 + \frac{1}{2} + \frac{1}{2} + \frac{1}{2} + \frac{1}{2} + ...\]
Die harmonische Reihe ist demnach größer als eine unendliche Summe von \(\frac{1}{2}\). Da Letzteres aber unendlich groß ist, muss auch die harmonische Reihe divergieren. Sie wächst immer weiter unbegrenzt an.
Das bedeutet aber: Die Schwimmer in der mathematischen Modellwelt könnten beliebig schnell werden – was natürlich aus physikalischer Sicht überhaupt keinen Sinn ergibt. Doch bei der harmonischen Reihe sticht deutlich hervor, dass sie extrem langsam gegen unendlich anwächst. Das lässt sich vor allem erkennen, wenn man sich fragt, wann die Schwimmer im fiktiven Beispiel ihre Rekordzeit um 25 Sekunden senken (und damit die 50-Meter-Bahn instantan durchqueren). Sprich, wie viele Brüche muss man addieren, damit:
\[ 1 + \frac{1}{2} + \frac{1}{3} + \frac{1}{4} + \frac{1}{5} + \frac{1}{6} + \frac{1}{7} + \frac{1}{8} +... = 25?\]
Es ist ziemlich mühsam, immer kleinere Bruchzahlen zu addieren und zu warten, bis man beim gewünschten Ergebnis landet. Das erkannte auch Leonhard Euler im 18. Jahrhundert. Deswegen suchte er nach einer mathematischen Funktion, die das Wachstum der harmonischen Reihe widerspiegelt. Denn dann könnte man einfach die Funktion auswerten, anstatt nach und nach Zahlen zu summieren.
Vorhang auf für die Euler-Mascheroni-Konstante
Euler erkannte, dass die harmonische Reihe genauso schnell wächst wie die Logarithmusfunktion. Möchte man also die harmonische Reihe bis zum k-ten Summanden auswerten, kann man den natürlichen Logarithmus von k als Richtwert nehmen. Demnach würde die Rekordzeit nach grob e25 Jahren, das heißt rund 72 004 899 337 Jahren, um 25 Sekunden gesenkt werden.
Als Euler diese Näherung untersuchte, erkannte er ein interessantes Detail. Der Logarithmus und die harmonische Reihe wichen stets um einen konstanten Wert voneinander ab – und diese Differenz schien auf einen ganz bestimmten Wert zuzulaufen.
k | Reihe | Logarithmus | Abweichung |
---|---|---|---|
1 | 1 | ln(1) = 0 | 1 |
2 | 1,5 | ln(2) = 0,693 | 0,806 |
3 | 1,833 | ln(3) = 1,098 | 0,734 |
4 | 2,083 | ln(4) = 1,386 | 0,697 |
5 | 2,283 | ln(5) = 1,609 | 0,673 |
… | … | … | … |
10 | 2,928 | ln(10) = 2,302 | 0,626 |
… | … | … | … |
50 | 4,499 | ln(50) = 3,912 | 0,587 |
… | … | … | … |
100 | 5,187 | ln(100) = 4,605 | 0,582 |
Die Abweichung zwischen dem Logarithmus und der harmonischen Reihe nähert sich offenbar nach und nach einem konkreten Wert. Euler konnte dessen erste 16 Nachkommastellen berechnen; der italienische Gelehrte Lorenzo Mascheroni bestimmte sogar die ersten 32 Ziffern (von denen sich allerdings einige im Nachhinein als falsch herausstellten). Wegen dieser Bemühungen wird die Zahl nun als Euler-Mascheroi-Konstante bezeichnet γ = 0,57721 56649…
Ist γ wirklich eine Konstante?
Um zu beweisen, dass die Euler-Mascheroni-Konstante wirklich eine Konstante ist, betrachteten Fachleute die Definition von γ: Sie beschreibt den Unterschied zwischen dem natürlichen Logarithmus von k und den ersten k Summanden der harmonischen Reihe – und zwar im Grenzfall von unendlich vielen Summanden k:
\[\gamma = \lim_{k \to \infty}\left( \sum_{n=1}^k \frac{1}{n} – \text{ln}(k)\right) \]
Das Innere der Klammer kann man als \(T_n\) bezeichnen: Es handelt sich um eine Zahlenfolge. γ ist eine Konstante, falls die Folge \(T_n\) konvergiert. Um das zu zeigen, kann man in einem ersten Schritt beweisen, dass \(T_n\) monoton fällt, also dass ein Wert \(T_{n+1}\) stets kleiner ist als \(T_n\), und anschließend beweisen, dass \(T_n\) nach unten hin beschränkt ist – also zum Beispiel niemals kleiner als null sein kann.
Wenn eine Folge monoton fällt, gleichzeitig immer größer als null ist, dann muss sie auf einen konstanten Wert zulaufen. Sie konvergiert. Demnach ist die Euler-Mascheroni-Konstante tatsächlich eine Konstante.
Inzwischen sind mehr als 1300 Milliarden Nachkommastellen der Euler-Mascheroni-Konstante bekannt. Und die Zahl taucht in den verschiedensten Zusammenhängen auf: Zum Beispiel erscheint sie in der Zahlentheorie, was nicht allzu sehr überrascht, da die Verteilung der Primzahlen einem Logarithmus entspricht. γ tritt aber auch in der Physik auf, unter anderem in der Quantentheorie, wenn man versucht, die lästigen Unendlichkeiten loszuwerden (bei Quantenprozessen muss man oft über unendlich viele Möglichkeiten summieren). Und selbst in der Theorie der Supraleitung stößt man auf die Euler-Mascheroni-Konstante: Gemeinsam mit der Kreiszahl π und der eulerschen Zahl e hängt sie mit der kritischen Temperatur zusammen, unterhalb derer ein Stoff supraleitend wird.
Das führte Mathematiker zur nächsten Frage. π und e sind bekanntlich irrationale Zahlen. Das heißt, sie lassen sich nicht durch einen Bruch aus zwei ganzen Zahlen schreiben. Ihre Nachkommastellen setzen sich ins Unendliche ohne regelmäßige Wiederholung fort. Ist γ ebenfalls eine irrationale Zahl?
In den bisher berechneten 1300 Milliarden Nachkommastellen von γ schien sich kein Muster zu verbergen, dass auf Periodizität deutet. Und auch ein Ende der Nachkommastellen scheint nicht in Sicht. In den 1990er Jahren konnten Fachleute zeigen, dass, wenn γ rational sein sollte, der Nenner des entsprechenden Bruchs mindestens 10244 663 betragen muss!
Deshalb gehen die meisten Fachleute davon aus, dass γ irrational ist. Trotzdem fehlt bis heute ein eindeutiger Beweis dafür. Das liegt daran, dass solche Irrationalitätsbeweise in der Regel ungemein schwierig sind. Es gibt kein allgemein gültiges Rezept, an das man sich halten kann, um zu zeigen, dass eine Zahl irrational ist. Bei π und e wurden die Fachleute fündig – bei γ bisher nicht. Und vielleicht werden sie es auch nie.
Das wäre schade; vor allem, weil die Euler-Mascheroni-Konstante in so vielen verschiedenen Gleichungen aus unterschiedlichsten Bereichen auftaucht. Sportlichen Wettkämpfen und dem Streben nach neuen Weltrekorden tut das aber glücklicherweise keinen Abbruch.
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