Leseprobe »Eine andere Geschichte der Popkultur«: Etwas Großes wird geschehen
Kaugummis – Etwas Großes wird geschehen
Was keine Initiative und keinerlei moralische Entrüstung in einer fast 150-jährigen Geschichte des professionellen Baseballs erreicht haben, wurde 2020 durch die Covid- 19-Pandemie vollbracht: Kautabak zu kauen und auszuspucken ist auf den Baseballfeldern der US-amerikanischen Major Baseball League (MBL) aus gesundheitlichen Gründen verboten worden. Das Kaugummikauen ist weiterhin erlaubt. Die Stars der MBL können sich also auch künftig einen »Big League Chew« in den Mund stecken und die knapp drei Stunden, die ein Baseballspiel durchschnittlich dauert, kauend verbringen. Kaugummi und Baseball scheinen unzertrennlich, sie kleben förmlich aneinander und erlauben einen Blick auf die enge Verzahnung von Sport-, Konsum- und Vergnügungskultur am Ende des 19. Jahrhunderts
Aber wie kommt es, dass uns Kauen solch ein Vergnügen bereitet, noch dazu eines, das nicht der Aufnahme von Nahrung dient? Schließlich wird der Mundraum beim Kaugummi kauen mehr als nötig eingespeichelt, sodass der überflüssige Teil relativ bald wieder abgegeben werden muss. Ein scheinbar sinnloses Unterfangen von Speichelproduktion und -reduktion. Was macht Spaß daran und warum haben sich Kaugummis und die Praxis des Kauens und Spuckens gerade mithilfe von Baseball popularisiert? Eine Antwort, die hier nur kurz erwähnt werden soll, findet sich in den populärmedizinischen Debatten jener Zeit. Horace Fletcher etwa, Geschäftsmann und selbst ernannter Erfinder einer Kau-Theorie, hatte durchschlagenden Erfolg mit seiner Behauptung, die körpereigene Produktion von Speichel würde Zivilisations- krankheiten wie Übergewicht, Sodbrennen und Nervosität heilen. In seinem damals hochgelobten Buch The A, B to Z of our own Nutrition schrieb er 1903: »Ich lernte bald, dass [meine] Probleme von einem Zuviel an mancherlei Dingen herrührten, unter anderem von zu viel Essen und zu vielen unnötigen Sorgen«. Wie viele vor und nach ihm behauptete Fletcher, den Überfluss der Dinge durch die Erfindung und Durchsetzung neuer Dinge regulieren zu können. Die Kaugummi-Industrie, seit 1899 konzentriert in der »American Chicle Company«, war gerne bereit, hier Abhilfe zu schaffen und den Kaugummi in den populär- medizinischen Diskurs der Jahrhundertwende einzuspeisen.
Etwa, indem sie die finale World Series der MBL von 1919 durch eine Werbekampagne begleiten ließ, die jeden Tag des zehntägigen Wettkampfs in den Zeitungen des Landes eine neue Anzeige schaltete. Deren Tenor war, dass man Kaugummi für die konzentrierte Ruhe in einem nervenaufreibenden Wettkampf brauchte. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich bereits eine öffentliche Meinung herausgebildet: Die immer gleiche Betätigung des Kaugummikauens beruhige die Nerven, was sich besonders an erfolgreichen Baseballspielern zeige, deren Sammelkartenbilder wiederum den Kaugummipackungen beigelegt waren. So wurden Kaugummis in den Sportzeitungen des Landes gleichsam als Medizin angepriesen, etwa 1895 in The Sporting Life, wo die Firma White ihren Yucatan- Kaugummi neben den Baseball-Ergebnissen des Wochenendes bewarb: »Kaugummi mit Pfefferminzgeschmack […] zur Linderung der quälenden Schmerzen bei Verdauungsstörungen und Sodbrennen«.
Nach dem entscheidenden achten Spiel der World Series im Jahr 1919 konnten die Werbeschlagzeilen unter einem Adams-Kaugummi entsprechend selbstsicher behaupten: »Mit besseren ‚Nerven‘ haben die Cincinnati Reds die World Series gewonnen.« Ärgerlich nur, dass die Finalrunde als größter Betrug in die Geschichte des professionellen Baseballs einging: Es waren acht gekaufte Spieler der Chicago White Sox, die das Spiel für Cincinnati gewannen.
Eine andere Erklärung für den Erfolg des Kaugummis ist in der historischen Entwicklung hin zu mehr Freizeit als Massenphänomen zu sehen. Soziale und ökonomische Reformen bildeten ab Ende des 19. Jahrhunderts in Industriestaaten die Grundlage dafür, dass freie Zeit vor allem für Arbeiter und kleine Angestellte verfügbar, rechtlich abgesichert und nicht zuletzt staatlich garantiert wurde. Freie Zeit wurde schrittweise zum Besitz des Einzelnen: Man hatte Zeit. Wie verbringt man die jetzt?
Einfach mal rumstehen
Zum Beispiel auf dem Baseballfeld, wo sich die Zeit zu dehnen schien: »Baseball richtet sich nicht nach der Uhr«, wie der amerikanische Politikwissenschaftler Michael Mandelbaum nüchtern feststellte. Es ist kein Zufall, dass ein Politologe über den Volkssport Baseball nachdenkt, den national pastime, der noch vor Football und Basketball in der Reihe der Sportarten steht, die auf spezifische Weise die US-Kultur zu repräsentieren scheinen. »Baseball verdrängte als Zuschauersport jede potentielle Konkurrenz«, schreiben Andrei Markovits und Steven Hellermann in ihrer vergleichenden Würdigung der Big Three. »Mittelschicht und Arbeiterschaft nahmen das Baseballspiel an und machten es zu Amerikas Nationalspiel und zu einem Zeitvertreib für die ganze Nation.«
Eben deshalb wird Baseball zum Volkssport, weil man sich auf und neben dem Platz die Zeit vertreiben musste. Man hatte schlichtweg zu viel davon, in der verhältnismäßig wenig passierte. Während ein Fußballspiel 90 Minuten dauert, wie Sepp Herberger bemerkte, wird Baseball in innings gemessen. Neun innings (mit jeweils zwei half-innings ) galten ab 1860 als Zeitmaß für ein Baseballspiel. Im Rahmen jedes innings sind die konkurrierenden Mannschaften einmal in der Offensive (mit dem batter, dem Schläger, und seinen runners, den Läufern auf den drei bases ) und einmal in der Defensive (mit dem pitcher, dem Werfer, seinem catcher, dem Fänger hinter dem Schläger, und seinen fielders, den Feldspielern). Erst wenn drei Spieler der Offensive out sind (auf vielfältige Weise, die hier nicht rekapituliert werden kann, weil das noch mehr Zeit kosten würde, als es auf dem Spielfeld braucht), wechselt das half-inning. Das Spiel entscheidet gewissermaßen selbst über sein Ende – nicht ein von außen gesetzter Zeitrahmen.
Da ein Baseballspiel zumindest im Regelfall nicht unentschieden enden darf, kann es nach neun innings zu unzähligen extra innings kommen. Ganze 26 innings etwa spielten die Brooklyn Robins gegen die Boston Braves 1920. Die Partie wurde wie so viele andere vor der Einführung des Flutlichts wegen Dunkelheit abgebrochen. 25 innings dauerte der längste Wettkampf der MBL- Geschichte: Über acht Stunden, verteilt auf zwei Tage, standen sich die Milwaukee Brewers und die Chicago White Sox im Jahr 1984 gegenüber. Aber auch reguläre nine-inning games können lange dauern, so wie die knapp fünf Stunden, in denen 2006 die Spieler der Boston Red Sox und der New York Yankees auf dem Feld standen. Praktischerweise gibt es für Spieler wie für Zuschauer seit etwa 1880 die Tradition des seventh-inning stretch, eine zehnminütige Pause vom vielen Rumstehen und Rumsitzen. Schließlich ist da noch das längste inning in der Geschichte des Baseballs: Es dauerte eine Stunde und acht Minuten und wurde 2004 zwischen den Detroit Tigers und den Texas Rangers ausgetragen. Dabei kam es zu nicht weniger als 110 Würfen, zwischen denen sich alle auf und neben dem Platz die Zeit vertreiben mussten.
Beim Baseball hat man also Zeit. Man wartet. Man wartet aber nicht auf Godot, sondern darauf, dass etwas Exorbitantes, etwas noch nicht Dagewesenes passiert: Denn dass ein gerundeter Schläger von maximal sieben Zentimetern Durchmesser einen kleinen Ball trifft, der aus 18,5 Metern mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 140 km/h auf den Körper des Schlägers geworfen wird, ist hochgradig unwahrscheinlich. »Selbst die besten Schlagmänner treffen den Ball in der offiziellen Schlagzeit zu 70 Prozent nicht sicher.« Dass der Ball dann auch noch so getroffen wird, dass er nicht aus der Luft gefangen werden kann oder abseits des markierten Feldes aufkommt, ist schlichtweg unglaublich. Beim Baseball hofft man also auf den Moment, in dem sich plötzlich alles verändert – so lange, bis das Warten wieder beginnt.
Kaugummi ist der ideale Begleiter für beide Situationen, das Ausharren und die Explosion. Er ist das Ding, das immer da ist und nie stört, das Ding, das zäh und geschmeidig auf seinen Augenblick wartet.
Der historische Moment des Kaugummis kam Mitte des 19. Jahrhunderts, als der New Yorker Erfinder Thomas Adams dem ehemaligen Präsidenten Mexikos, General Santa Anna, große Mengen eines latexartigen Baumsaftes abkaufte, in der Hoffnung, dass er sie für die Produktion von Gummireifen nutzen könnte. Das stellte sich als ein teurer Irrtum heraus, in den Adams mehr als 30 000 eigene US-Dollar für Entwicklung und Produktion investierte. Chicle, wie der pflanzliche Rohstoff in Mexiko genannt wurde, eignete sich aber hervorragend um eine Kaumasse herzustellen, die in Streifen portioniert bald in Apotheken verkauft und als Zugabe zu Süßigkeiten verschenkt wurde. Als die neu gegründete Firma Adams & Sons damit begann, der Chicle-KaumasseZucker zuzusetzen, wurde sie zum führenden Kaugummifabrikanten Nordamerikas.
»Ab den späten 1880er Jahren konnte man Adams-Kaugummi fast überall in den USA kaufen. Das Unternehmen beschäftigte mehr als 300 Arbeiter in der größten Kaugummifabrik der Welt, die sich in der Nähe der Brooklyn Bridge befand. Täglich wurden dort etwa fünf Tonnen Kaugummi produziert.«
Die Erfindung des Kaugummis zeigt, dass Populäre Dinge nicht genuin neu sein müssen. Chicle und ähnliche pflanzliche Rohstoffe wurden in allen Teilen der Welt seit Jahrhunderten gekaut, dienten der Ernährung oder erfüllten medizinische sowie rituelle Funktionen. Doch erst die industrielle Produktion machte ein Überangebot auf einem zunehmend globalisierten Massenmarkt mit seinen Distributionswegen und medialen Aufmerksamkeitsökonomien möglich – nicht zuletzt durch die Verbindung mit anderen Formen der Unterhaltungskultur, zuerst Baseball, später Film und Popmusik. Erst damit wurde aus dem Saft ausgewählter Bäume in Mexiko Kaugummi.
Nicht nur Thomas Adams ergriff die Gelegenheit, sondern viele weitere mit und nach ihm. William Wrigley wurde im Verlauf des frühen 20. Jahrhunderts mit dem Wrigley’s Spearmint zu einem der zehn reichsten Männer Amerikas – und 1921 zum Hauptaktionär der vielleicht ruhmreichsten Baseball-Mannschaften überhaupt, den Chicago Cubs. Der erste Kaugummi mit Minzgeschmack wurde allerdings nicht von ihm erfunden, sondern kam 1887, sechs Jahre vor dem ersten Wrigley’s, durch William J. White auf den Markt. White experimentierte, wie alle der genannten Gründer, in der eigenen Küche mit Chicle und Sirup, bevor er eine Rezeptur fand, die es erlaubte, die zähflüssige Masse mit Geschmacksstoffen anzureichern. Sein Yucatan-Kaugummi, der erste mit Pfefferminzgeschmack, wurde ab 1887 in rosa Packpapier und mit einem gelben Siegelband verkauft.
Damit hatte er den Kaugummi zwar nicht erfunden, aber etwas Entscheidendes hinzugefügt: Dauer und Unverwechselbarkeit. Er hatte entdeckt, dass Pfefferminze, gemischt mit Maissirup und verstoßen mit dem Chicle- Rohstoff, einen gleichzeitig süßen und erfrischenden Geschmack erzeugte, der sich beim Kauen länger hielt als purer Zucker. Das war entscheidend, denn Kaugummis füllen genau jene Augenblicke gelangweilter Konzentration, wie sie etwa auf und neben dem Baseballballfeld vorkommen. Das Material besteht aus einer geschmackvollen Kaumasse, die den Körper über einen möglichst langen Zeitraum hinweg gleichzeitig aktiviert und sediert. So schreibt Michael Redclift in seiner Kultur- geschichte The Fortunes of Taste: Kaugummi »bietet ein- deutig einen hohen Grad an unmittelbarer Befriedigung, eher als ein indirektes, antizipierendes Vergnügen. Das Kauen von Kaugummi stimuliert die Körperfunktionen auf eine sehr angenehme Weise […], obwohl der Lust- gewinn so unmittelbar ist«.
William White hatte nicht nur die stoffliche Basis dieser ganz spezifischen Körpererfahrung des Kauens optimiert, sondern eine Entwicklung vorweggenommen, die beispielsweise durch die Serie Mad Men Eingang in das populäre Wissen gefunden hat. Deren Motto lautet in etwa: Wenn alle dasselbe machen, bist Du frei zu behaupten, was dein Produkt von anderen unterscheidet – auch dann, wenn es sich gar nicht unterscheidet. Wenn alle Tabaksorten im Produktionsverlauf zur Zigarette geröstet werden, dann unterscheiden sich Lucky Strike genau dadurch: »It’s toasted«. Wenn alle Kaugummis süß und zäh sind, dann unterscheidet sich der Yucatan genau dadurch: »a flavor that is lasting and pleasant to the taste«. Dieser Satz war auf jedem Einwickelpapier von Yucatan zu lesen. Um der Behauptung Nachdruck zu verleihen, brauchte es nur noch ein ästhetisches Pop-Up, einen kleinen Hingucker, wie etwa ein gelbes Siegelband um ein rosa Packpapier – und schon wurde das immer gleiche zum begehrenswert Besonderen.
Thomas Adams war der erste, der in den 1880er Jahren Kaugummiautomaten auf den Bahnsteigen in New York aufstellen ließ. William Wrigley hingegen muss ein Verkaufsgenie gewesen sein: Er ließ in den 1920er Jahren massenhaft in Zügen und Autos, auf billboards und in Radioprogrammen für sich werben. Doch letztlich war es William White, der erkannte, dass man durch Kaugummi das Alltägliche mit dem Aufsehenerregenden verbinden konnte. Während man mit dem einen beschäftigt ist – arbeiten oder warten (oder auf Arbeit warten) – kann man leicht auch etwas anderes machen: Kaugummis verbinden Arbeit und Vergnügen, nicht anders als ein schnell gespieltes Angry-Birds-Videospiel auf der Dienstreise im ICE (siehe »Pokémon GO«).
»Wenn Sie arbeiten wollen, schnappen Sie sich diesen Kaugummi und legen Sie los« steht auf einem der vielen Sammelkartenmotive, die dem Yucatan-Kaugummi bei- gelegt waren. Je mehr Arbeit den Tag ausfüllt, desto wichtiger wird ein Ding, mit dem man so tun kann, als ob man sich gar nicht anstrengen müsse, oder das eine gewisse Lässigkeit in den Alltag bringt. Kaugummis stehen deshalb für eine freie Zeit, die hart erarbeitet wurde.
Aus freier Zeit wird Freizeit
Das 19. Jahrhundert war die Epoche der kapitalistischen Lohnarbeit. Ein Arbeitstag – etwa bei der Verlegung der Pacific Railway in den 1860er Jahren dauerte im Normalfall 12 Stunden. Während in den USA im Jahr 1850 ein Industriearbeiter durchschnittlich also 72 Stunden arbeitete (in Deutschland waren es zur selben Zeit 85 Stunden), sank die Wochenarbeitszeit im Jahr 1890 auf 60, um 1910 herum auf 54 Stunden. »Die weitaus größten Gewinne an arbeitsfreier Zeit«, so hält es die grundlegende Studie von Erwin K. Scheuch fest, »erfolgen in westlichen Industriegesellschaften bis zum Ende des Ersten Weltkriegs«. Freie Zeit war deshalb eine der Grundvoraussetzungen für die Emanzipation der Arbeiterinnen und Arbeiter, wie es Karl Marx kurz nach der Gründung der Ersten Internationale 1865 in einem Vortrag zuspitzte: »Ein Mensch, der nicht über freie Zeit verfügt, dessen ganze Lebenszeit – abgesehen von rein physischen Unterbrechungen durch Schlaf, Mahlzeiten usw. – von seiner Arbeit für den Kapitalisten verschlungen wird, ist weniger als ein Lasttier.«
Freie Zeit und Freizeit als Gegenstück zur industriellen Lohnarbeit entstehen historisch gesehen also erst im 19. Jahrhundert. Während »der Tageslauf der vorindustriellen Gesellschaft durch eine Zeitstruktur gekennzeichnet [war], die nicht in die zwei Phasen Arbeit und Nichtarbeit zerfiel«, änderte sich dies infolge der sozialen und ökonomischen Umbrüche durch die industrielle Revolution seit dem späten 18. Jahrhundert. Arbeit wird zum Kapital des Einzelnen und gleichzeitig zum Eigentum anderer. Freie Zeit, die der arbeitenden Bevölkerung im Kapitalismus frei nach dem Sozialreformer Pierre-Joseph Proudhon »gestohlen« wurde, stand nun kontinuierlich im Fokus sozialistischer, später sozialdemokratischer und marktwirtschaftlicher Politikkonzepte sowie gewerkschaftlicher Initiativen.
Freizeit hingegen wurde von dieser Warte aus scharf kritisiert, denn sie schien die ökonomisierte Variante von freier Zeit zu sein und war deshalb problematisch. Eine solche Definition unterschlägt jedoch, dass Freizeit eine andere Qualität als freie Zeit besitzt, gerade weil sie über ihre Warenförmigkeit einen erweiterten Anschluss an Gesellschaft herstellt. Freie Zeit ist etwas »unbestimmt Gelassenes«16 und somit an antike Vorstellungen von Muße und die damit verbundene Bildung schöpferischer Fähigkeiten und den Raum für kritische Reflexion geknüpft. Das »Muße-Monopol« – wie Walter Tokarski es sowohl für die Antike als auch für ein deren Idealen nach- eiferndes Bildungsbürgertum feststellt – hatten allerdings nur »die herrschenden Schichten inne«.
Freizeit transformiert dieses Konzept der Selbstbildung durch Muße unter demokratisch strukturierten, konsumistisch orientierten und medial vermittelten Massengesellschaften. Wenn Freizeit kritisiert wird, dann deshalb, weil sie unter ebendiesen Bedingungen entsteht und sich mit den offensichtlichen und massiven Nebenwirkungen für Mensch und Umwelt weiterentwickelt. Allein die Beleuchtung der etwa 80 Heimspiele eines aktuellen MBL-Teams verbraucht über 30 Mio. Kilowattstunden und damit weit mehr Strom, als über tausend Eigenheime im Jahr benötigen. So verheerend diese und noch viele andere Zahlen sind, so wenig sollten die egalitären und emanzipativen Grundzüge unterschlagen werden, denn die quantitative Dimension ist entscheidend: Im fortschreitenden Umbruch der Industrie – zur Dienstleistungsgesellschaft wurde der Achtstundentag eingeführt, die Sonntagsarbeit eingeschränkt oder abgeschafft, der Jahresurlaub wie auch die soziale Absicherung bei Krankheit ausgeweitet und weitere staatliche Maßnahmen zum Schutz der arbeitenden Bevölkerung ergriffen. Das führte dazu, dass die Mehrheit der Bevölkerung, wie Scheuch zusammenfasst, »für die individuelle Gestaltung disponibler Zeit objektiv in einem Maße ökonomisch, gesundheitlich und im Sinne sozialer Sicherheit freigesetzt [ist], das früher nur kleinen Gruppen von gewöhnlich hohem Status in anderen Gesellschaften verfügbar war«. Erst wenn so viel freie Zeit für so viele Menschen vorhanden ist, dass die Frage, wie man sie verbringt, zu einem kontingenten Problem wird, können Freizeitangebote entstehen, die sich der Sache spielerisch nähern: indem sie sicherstellen, dass etwas passiert und offen lassen, was dabei passiert.
Latente Momente
Es ist nur konsequent, dass sich der Kaugummi seit etwa 150 Jahren in den Mündern von so vielen Jugendlichen, Halbstarken und nie ganz Erwachsenen findet, die sich auf Tankstellen, Jahrmärkten oder auf dem ballfield ihre Zeit vertreiben. Sie alle warten auf etwas, das sich schon ankündigt, leise oder mit überwältigender Macht. Etwas Großes wird geschehen, so haben sie gehört. Und weil es seit der Erfindung von Walter Diemer im Jahr 1928 auch noch bubblegum gibt, kann das Spiel der Erwartungen immer weitergetrieben werden, mitten ins Herz der Popkultur hinein. Die Mitglieder der »Pink Ladies« im Filmmusical Grease blasen ihre bubbles mit aufreizender Lässigkeit. In der Disney-Serie Shake it up kauen alle unentwegt Kaugummi und lassen die Kaublasen mit unschuldiger Naivität im eigenen Gesicht zerplatzen. In dem Thriller Wer Gewalt sät (1971) spielt Susan George mit ihrem Kaugummi ebenso wie mit den Gefühlen ihres Filmpartners Dustin Hoffman. In dem Kurzfilm Bubble Gum (2018) von Ella Fields warten zwei 14-jährige Mädchen darauf, sich ihre Liebe zu offenbaren: Sie liegen im Gras und solange der Kaugummi noch schmeckt und Blasen wirft, könnte sich etwas ereignen, das alles verändert.
Doch es passiert nie etwas – immer ist es kurz davor: Weil in einer möglichkeitsoffenen Kultur immer irgend- etwas passiert (das Unerwartbare wird garantiert), aber es nicht sicher ist, was genau und vor allem wann es passiert, wird die Latenz zum vorherrschenden Modus. Diese Momente zwischen noch nicht und nicht mehr sind es wert, ausgekostet zu werden. Ich könnte ihn küssen, sie könnte mich küssen. Oder weiterkauen und abwarten: Etwas, irgendetwas Großes wird geschehen.
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