Leseprobe »Liebe, die immer noch schöner wird«: Emotionen: Gefühle kontrollieren und Gefühle zeigen
Auch nüchterne Menschen werden von Gefühlen überwältigt, wenn sie sich verlieben. Wer sich nach schönen und intensiven Gefühlen sehnt, findet sie in der Liebe. Doch wenn die Gefühle auf Dauer schön und tief bleiben sollen, müssen Partner auch einen Preis dafür zahlen:
- den Mut, auch einmal negativen Gefühlen des anderen standzuhalten, wenn der andere zum Beispiel zornig, eifersüchtig, verzweifelt oder enttäuscht ist,
- die Disziplin, die eigenen Gefühle so zu kontrollieren, dass sie nicht zu verletzenden Verhaltensweisen hinreißen,
- das Wagnis, auch einmal zu Gefühlen zu stehen, für die wir uns schämen.
Gefühle machen das Glück in der Liebe aus, sie können Paare aber auch vor große Herausforderungen stellen. Wenn Paare im Umgang mit ihren Gefühlen wachsen, dann verhindern sie nicht nur Krisen, sondern lernen im Lauf der Jahre, ihr volles emotionales Potenzial auszuschöpfen. Dann vertiefen sich Gefühle immer weiter, und die Liebe wird selbst dann lebendiger, wenn das äußere Leben von Routinen und guten Gewohnheiten bestimmt ist.
Auch im Bereich der Emotionen bewegen sich Paare zwischen gegensätzlichen Polen, nämlich dem Ausdrücken, aber auch dem Beherrschen von Gefühlen. Einige Situationen erfordern verstärkt, dass ein Partner dem anderen seine Gefühle zeigt:
- Ein Partner ändert sich. Beim Kennenlernen teilen sich Paare in der Regel viel von ihren Gefühlen mit und erfahren auf diese Weise, was den anderen wirklich ausmacht. Verändert sich ein Partner jedoch, verändert sich auch seine Gefühlswelt. Das Paar muss sich neu kennenlernen – sei es nach einer Krise, einem beruflichen Umbruch oder einem Wandel der persönlichen Überzeugungen.
- Ein Partner macht Schweres durch und braucht eine besondere Gefühlszuwendung.
- Ein Partner verletzt die Spielregeln der Liebe. Wer hier nur den Verstand des Partners anspricht, wird vielleicht Einsicht, aber keine Veränderung bewirken. Der Partner muss spüren, was sein Verhalten auslöst: das Gefühl, betrogen, missachtet, herabgesetzt oder ausgenutzt zu werden. Solche Gefühle muss man deutlich genug zeigen, damit sie das Herz des Partners erreichen und dort etwas bewegen können.
Andere Situationen erfordern eine besondere Rücksicht auf die Gefühle des Partners. Hier dürfen sich Gefühle nur kontrolliert Ausdruck verschaffen:
- Vor allem ein Streit erfordert die Kontrolle von Gefühlen. In einer solchen Situation kann sich höchstens einer einen emotionalen Kontrollverlust leisten – mindestens einer muss einen kühlen Kopf bewahren. Andernfalls kommt es zu einer Eskalation, die Mikrotraumata setzt; damit sind überfordernde, bedrohliche Erfahrungen gemeint, die lange nachwirken und in unerwarteten Momenten wieder hochkommen.
- Menschen unterscheiden sich darin, wie gut sie Gefühle ertragen, und auch darin, welche Gefühle sie gut und welche sie weniger gut aushalten. Manche Menschen können Zornausbrüchen gut standhalten, ihnen macht aber Traurigkeit Angst. Bei anderen ist es genau umgekehrt. Es macht vieles einfacher, wenn Partner Gefühle einander nur in dem Maß zumuten, das der andere ertragen kann. Wer von den Gefühlen seines Partners überflutet wird, wird immer dünnhäutiger und fühlt sich der Situation immer weniger gewachsen. Wer dagegen Gefühlen in einem Maß ausgesetzt ist, das er bewältigen kann, lernt mit der Zeit auch mit stärkeren Gefühlen des Partners umzugehen.
- In jeder Beziehung können Gefühle entstehen, die sich gegen den Partner richten. Man schämt sich für den anderen, entwickelt eine Abneigung gegenüber seinen Eigenarten, empfindet Neid auf Vorzüge oder Verachtung für die Schwächen des Partners. Wenn überhaupt, dürfen sich solche Gefühle nur sehr taktvoll zeigen.
Ein gutes Gleichgewicht der Gefühle findet sich also zwischen dem Gefühlsausdruck auf der einen Seite und der Gefühlskontrolle auf der anderen, wobei je nach Situation mal die eine, mal die andere Seite wichtiger sein kann. Paarforscher haben untersucht, was passiert, wenn Paare aus dem emotionalen Gleichgewicht geraten: In einem schleichenden Prozess kehrt sich der Kreislauf positiver Beeinflussung um und wird zu einem Kreislauf negativer Beeinflussung, der nicht mehr auf Liebe, sondern auf Zwang beruht.
3.1 Der Zwangsprozess
Liebe bringt einen positiven Kreislauf in Gang. Positive Gefühle drücken sich in Zuneigung, Wertschätzung und Unterstützung aus. Sie wecken beim Partner wiederum positive Gefühle und positive Verhaltensweisen. So beginnt fast jede Paarbeziehung. Später verringert sich manchmal der Einsatz für den Partner, weil einer von beiden anderswo sehr gefordert ist oder weil erste Verletzungen und Enttäuschungen vorkommen. Dann kann etwas entstehen, was Paarforscher einen Zwangsprozess nennen (Schindler et al. 2006). In einem Zwangsprozess üben Paare aufeinander Druck aus, um den anderen zu dem zu bringen, was er nicht mehr freiwillig tut. Die häufigsten Mittel, mit denen Zwang ausgeübt wird, sind in Box 3.1 zusammengestellt.
Box 3.1 Zwangsmittel zur Beeinflussung des Partners
- kritisieren, Vorwürfe
- Schuldgefühle machen
- abwerten, schlecht machen
- bedrängen, nicht locker lassen
- Bedingungen stellen
- gezielt verletzen, wunde Punkte treffen
- schweigen, Liebesentzug, bestrafen
- einschüchtern, drohen
Partner kennen einander gut genug, um zu wissen, welche Zwangsmittel beim anderen wirken. Kurzfristig sind Zwangsmittel durchaus erfolgreich: Wer Zwang ausübt, erlebt, wie der andere seinen Wünschen wieder entgegenkommt. Wer auf Zwang hin nachgibt, beendet damit die unangenehme Situation und erlebt seinen Partner wieder positiver. Das Ausüben von Zwang und das Nachgeben werden auf diese Weise verstärkt und können sich zu einem Beziehungsmuster verfestigen – ein Zwangsprozess kommt in Gang. Natürlich hat dies negative Folgen für eine Paarbeziehung. Gefühle wie Zorn, Enttäuschung, aber auch Angst werden immer stärker. Außerdem nutzen sich Zwangsmittel ab. Menschen gewöhnen sich an Kritik, Vorwürfe und Strafen. Darum müssen die Zwangsmittel gesteigert werden, damit sie noch eine Wirkung haben. Es kommt möglicherweise zu einer Eskalation.
Wie kann ein Paar einen Zwangsprozess durchbrechen? Die Paarforscher und Psychologieprofessoren Ludwig Schindler, Kurt Hahlweg und Dirk Revenstorf schreiben dazu: »Um diesen Prozeß umzukehren, ist der ‚heldenhafte‘ Akt mindestens eines Partners erforderlich, dem anderen anhaltend wieder Vertrauensvorschuß einzuräumen. Dies würde […] bedeuten, daß er die Rate von positiven Verhaltensweisen erhöht, obwohl dafür kurzfristig nur negative und keine positiven Konsequenzen zu erwarten wären« (Schindler et al. 2006, S. 54). Obwohl es gar nicht zu den augenblicklichen Gefühlen passt, legt ein Partner die Zwangsmittel aus der Hand und zeigt stattdessen wieder seine Bedürfnisse, im Vertrauen, dass der andere freiwillig darauf eingeht. Gleichzeitig bemüht er sich, von sich aus auf die Bedürfnisse und Gefühle des anderen zu achten, um dessen Zwangsmittel überflüssig zu machen. Weil dabei starke negative Gefühle zu überwinden sind, ist dies jedoch fast übermenschlich schwierig. Die zitierten Paarforscher sprechen, wie erwähnt, von einem heldenhaften Akt, und tatsächlich erleben wir Menschen als Helden, die starke Gefühle überwinden können – die verzeihen, wo alles nach Rache schreit, vertrauen, wo Bedrohung in der Luft liegt, Liebe zeigen, wo keine Erwiderung zu erwarten ist.
Was hier wissenschaftlich beschrieben ist, bedeutet nichts weniger als die Fähigkeit, Böses durch Gutes zu überwinden. Wie groß an dieser Stelle das Wachstumspotenzial für Paarbeziehungen ist, ahnen Sie vielleicht: Denn in vielen Paarbeziehungen gibt es Kreisläufe, in denen sich negative Verhaltensweisen aufschaukeln. Manche Beziehungen scheitern sogar daran. In anderen Beziehungen gibt es Tabuthemen. Sobald ein Paar auf sie zu sprechen kommt, gerät es in einen negativen Kreislauf. Die meisten Paare ziehen sich dann aus dem belasteten Bereich ihrer Beziehung zurück und lassen diesen brachliegen. Das können zum Beispiel bestimmte Aspekte der Sexualität, der Umgang mit der Herkunftsfamilie, bestimmte Bereiche in der Kindererziehung oder störende Angewohnheiten eines Partners sein. Wo es Paaren gelingt, sich dem Tabuthema zu stellen und zugleich aus dem Teufelskreis auszubrechen, gewinnen sie wieder ihre vollen Entfaltungsmöglichkeiten zurück.
Der Weg in den Zwangsprozess und aus ihm heraus lässt sich an einer konkreten Situation veranschaulichen: Kathrin ist ein emotionaler, impulsiver Typ, Rolf zurückhaltend und reflektiert. Kathrin hat Rolf immer als aufmerksamen, fürsorglichen Mann erlebt, bis er sich in einer Phase beruflicher Belastung zurückgezogen hat. Seither hat sich Katrin in der Beziehung allein und vernachlässigt gefühlt. Sie hat Rolf Vorwürfe gemacht, gemeinsame Zeiten eingefordert und ihn sogar aus Tätigkeiten herausgerissen, um zu reden. Rolf hat daraufhin einen emotionalen Sicherheitsabstand zu Kathrin eingerichtet und ist ihr nur noch nahegekommen, wenn sie sich betont liebevoll verhalten hat. Eine Paartherapie hilft Kathrin und Rolf, den Zwangsprozess verständlich zu machen und Möglichkeiten zu entwickeln, einander die Gefühle zu zeigen, um die es eigentlich geht. Rolf spricht über die Schuldgefühle, die er aufgrund seines erhöhten beruflichen Engagements hatte, und dass er sich als schlechter Partner empfunden hat. Er kann Kathrin auch sein Bedürfnis nach Anerkennung offenbaren. Umgekehrt lernt Kathrin zu zeigen, wie schnell sie sich verlassen und für Rolf unwichtig fühlt. Nun ist es für beide leichter, Konflikte so auszutragen, dass sich der andere dabei wohler fühlt, und Kompromisse zu finden, die den Gefühlen beider gerecht werden. Auf diese Weise lassen sich auch die Zwangsmittel abbauen – Vorwürfe, Forderungen und Liebesentzug kommen immer seltener vor.
Der Zwangsprozess lässt sich sogar dann auflösen, wenn nur ein Partner den negativen Kreislauf verlässt. Die positive Wirkung einseitiger Verhaltensänderungen ließ sich in Partnerschaftsstudien nachweisen: Nicht gleich, aber nach einer Weile wird auch der Partner von der positiven Veränderung erfasst und zeigt ebenfalls angenehmere Verhaltensweisen (Schindler et al. 2006). Der Ausweg aus einem Zwangsprozess ist im Grunde einfach und logisch. Auch Paare in schier ausweglosen Situationen können ihn erkennen, wenn sie den Zwangsprozess in ihrer Beziehung durchschauen. Emotional gehört dieser Weg jedoch möglicherweise zu den schwierigsten Herausforderungen, vor denen ein Paar je gestanden hat. Etliche Paare geben hier auf und wählen die Trennung. Der Glaube an die Mittel der Liebe ist verloren gegangen. Die Druckmittel haben versagt. Doch auch in einer neuen Beziehung können Menschen in einen Zwangsprozess geraten, die Betroffenen trennen sich dann schneller und konsequenter. Bei der zweiten Ehe liegt die Scheidungsrate bereits 10 % über der der ersten (Schindler et al. 2006). Wer dagegen einen Zwangsprozess überwindet, baut ein starkes Selbstbewusstsein im Umgang mit den eigenen Gefühlen auf und einen starken Glauben an die Tragfähigkeit einer Liebesbeziehung.
Box 3.2 Potenzial Gefühle kontrollieren
Wie kann ich Zwangsprozesse unterbrechen?
Wenn meine Partnerin/mein Partner einmal zu emotionalen Zwangsmitteln greift,
- überprüfe ich, ob meine freiwillige Gefühlszuwendung nachgelassen hat.
- frage ich nach den Bedürfnissen und Gefühlen, denen meine Partnerin/mein Partner durch Zwangsmittel zu ihrem Recht verhelfen will.
- gehe ich auf die Gefühle und Bedürfnisse ein, aber zu einem Zeitpunkt und in einer Art und Weise, die auch mir gerecht werden.
Wenn ich selbst zu emotionalen Zwangsmitteln greife,
- lege ich diese aus der Hand.
- drücke ich meine Gefühle und Bedürfnisse offen aus und vertraue darauf, dass meine Partnerin/mein Partner wieder freiwillig auf mich eingeht.
- motiviere ich meine Partnerin/meinen Partner, indem ich für jedes Entgegenkommen Wertschätzung zeige.
Probleme | Lösung |
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Wenn meine Partnerin Zwangsmittel einsetzt, sehe ich rot. Ich kann dann nicht mehr vernünftig reagieren | Setzen Sie Strategien der Gefühlsregulierung ein (s. nächster Abschnitt) |
Mein Partner hat schon immer Zwangsmittel eingesetzt; ich glaube, er kann seine Bedürfnisse und Gefühle gar nicht offen zeigen | Laden Sie Ihren Partner ein, seine Gefühle und Bedürfnisse offener zu zeigen. Setzen Sie Widerspruchsstrategien und einfühlsame Konfrontation ein (Kap. 2), um zu vermitteln, welche Nachteile Zwangsmittel für beide Seiten haben |
Leider endet die Leseprobe an dieser Stelle. Das Buch bietet den Rest des Kapitels und mehr über Liebe, die immer noch schöner wird.
Literatur
Ekman Paul (2010) Gefühle lesen. Wie Sie Emotionen erkennen und richtig interpretieren. Spektrum, Heidelberg
Grawe K (2000) Psychologische Therapie. Hogrefe, Göttingen
Lammers CH (2011) Emotionsbezogene Psychotherapie. Grundlagen, Strategien und Techniken. Schattauer, Stuttgart
Linehan MM (1996) Dialektisch-Behaviorale Therapie der Borderline-Persönlichkeitsstörung. CIP Medien, München
Lösel F, Bender D (2003) Theorien und Modelle der Paarbeziehung. In: Grau I, Bierhoff H-W (Hrsg) Sozialpsychologie der Partnerschaft. Springer, Berlin, S 43–75
Lutz W, Weinmann-Lutz B (2006) Behandlungsstrategien und Techniken der Paartherapie. In: Lutz W (Hrsg) Lehrbuch der Paartherapie. Ernst Reinhardt, München, pp 57–79
Schindler L, Hahlweg K, Revenstorf D (2006) Partnerschaftsprobleme: Diagnose und Therapie. Therapiemanual. Springer Medizin, Heidelberg
Winterhoff M (2010) Warum unsere Kinder Tyrannen werden oder: die Abschaffung der Kindheit. Goldmann, München
Young JE, Klosko JS, Weishaar ME (2008) Schematherapie. Ein praxisorientiertes Handbuch. Junfermann, Paderborn
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