Lexikon der Biologie: Besitzverhalten
Besitzverhalten; bei Tier und Mensch gibt es verschiedene, z. T. stammesgeschichtlich gewachsene Formen des Umgangs mit Besitz ( vgl. Tab ). Die in der Tab. angeführten Stufen basieren auf den Arbeiten von H. Kummer und P. Hammerstein. Die stammesgeschichtliche Reihung wurde hypothetisch für die menschliche Ahnenreihe vorgenommen. In anderen Entwicklungslinien sind auch andere Reihungen wahrscheinlich; z. T. gibt es sogar Gliedertiere, bei denen als einziges Besitzverhalten der "Ressourcenbesitz des zuerst Gekommenen" (Stufe 3) beobachtet werden kann. Die Tab. zeigt hypothetisch, welche stammesgeschichtlichen Entwicklungsstufen notwendig waren, bevor die komplexen Besitznormen des Menschen entstehen konnten. Die neuen Stufen repräsentieren jeweils neue Entwicklungsschritte, enthalten aber meistens auch Verhaltenselemente aus den früheren Stufen. Mit der stammesgeschichtlichen Höherentwicklung sind die dem Besitzverhalten zugrundegelegten biologischen Programme zunehmend mit individuell Gelerntem verschränkt (Instinkt-Dressur-Verschränkung). – Beobachtungen zur 1. Stufe der Tab. (Ressource fällt an den Stärkeren) können häufig bei der Fütterung von Fischen und Schwanzlurchen, Beobachtungen zur 2. Stufe (Ressource fällt an den Ranghöheren)] z. B. auf dem Hühnerhof gemacht werden. Erwachsene Affen respektieren mitunter nur dann den Ressourcenbesitz des zuerst Gekommenen (Stufe 3), wenn der Besitzer des Gegenstands ihnen im Rang ähnlich ist. Auch Kleinkinder zeigen bereits diese Regel der Priorität, d. h., wer sich zuerst mit einem bestimmten Gegenstand beschäftigt, erwirbt damit einen vorübergehenden Besitzanspruch. Die Wegnahme dieses "Besitzes" führt beim "Dieb" zu erhöhter Automanipulation, einem Zeichen von Unsicherheit und Streß. – Im Tierreich kommt es normalerweise nicht vor, daß Nahrung freiwillig an erwachsene Individuen abgegeben wird. Eine Ausnahme bilden jedoch Schimpansen und möglicherweise auch die anderen Menschenaffen (Stufe 4). Frans de Waal beobachtete, daß Männchen der Zwergschimpansen (Bonobo) jene Weibchen beim Verteilen der Nahrung bevorzugen, bei denen die periodisch auftretende Brunftschwellung, die für die Männchen besonders attraktiv ist, gerade besonders ausgeprägt ist. J. Goodall berichtet von einer altersschwachen und invaliden Schimpansenfrau, die von ihrer Tochter Futter bekam. Bei Menschenaffen und Menschen sind Geben und Nehmen Bestandteile sozialer Strategien, sie helfen unter anderem, Bindungen zu stiften und zu erhalten. – Besitzverhalten wird ontogenetisch beim Menschen ab ca. 10 bis 12 Monaten bei der freundlichen Kontaktaufnahme eingesetzt. Vorschulkinder verwenden das Geben, Zeigen, Vorführen, Teilen und Zuwerfen von Objekten im Rahmen ihrer sozialen Strategien mit Altersgenossen und Erwachsenen. Auch Konflikte entzünden sich häufig über den Besitz eines begehrten Gegenstands. Das Anbieten eines Besitzgegenstands wird von Kindern jedoch auch zur Beschwichtigung von Aggression eingesetzt. In manchen Kulturen kann Geben und Nehmen auch die Funktion einer Sozialversicherung haben. Nur beim Menschen wird Besitz auch bei Abwesenheit des Besitzers respektiert (Stufe 5). Beim Menschen bezieht sich der Besitzanspruch auf eine große Anzahl von Gegenständen, aber auch auf funktionelle Äquivalente materiellen Besitzes und auf ideelle Werte. Beispiele dafür sind etwa vererbbare Rechte und geistiges Eigentum. Ein Äquivalent des Abgebens von Dingen sind "verbale Geschenke" wie Komplimente und gute Wünsche. Mit diesen Geschenken sind wir vor allem dann besonders großzügig, wenn es gilt, beim Abschied vor einer längeren Trennung die Bindung zu bekräftigen (Begrüßungsverhalten). I. Eibl-Eibesfeldt hat dokumentiert, daß bei vielen menschlichen Kulturen mitunter Verhaltensweisen aller 5 Stufen mit allen in der Tab. erwähnten Bezügen auftreten können. Normen, die mit Besitz in Zusammenhang stehen, werden von manchen Wissenschaftlern noch immer ausschließlich als Ergebnis soziokulturellen Lernens angesehen, obwohl die humanethologische Forschung (Humanethologie) belegt, daß die menschlichen Besitznormen Verschränkungen aus biologischem Erbe und kulturell Erlerntem sind. Es wird vermutlich weder durch Erziehung noch durch politische Beeinflussung gelingen, Kinder so aufwachsen zu lassen, daß sie kein Besitzstreben zeigen.
G.M.
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