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Lexikon der Biologie: Menschenaffen

Dieser Artikel ist veraltet. Der Begriff »Rasse« wird in der Fachterminologie nicht mehr verwendet.

ESSAY

Andreas Paul

Menschenaffen

„Waldmenschen in Tierfellen“ – so nannte der karthagische Admiral Hanno Gorillas, denen er im 5. Jahrhundert v.Chr. in den Wäldern Westafrikas begegnet war. Auch Orang-Utans wurden von den Ureinwohnern Borneos als Menschen betrachtetet – die nur deshalb nicht sprechen, um nicht arbeiten zu müssen. Die ersten christlichen Forschungsreisenden waren von der unübersehbaren Ähnlichkeit zwischen Menschenaffen und Menschen eher verunsichert und erschreckt: Menschenaffen galten ihnen als Ungeheuer, „halb Mensch, halb Bestie“, die man selbstverständlich für „im höchsten Grade gefährlich“ hielt. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wandelte sich das Bild – freilich nicht, ohne neue Legenden zu schüren: Aus einstmaligen „Ungeheuern“ wurden „sanfte Riesen des Urwaldes“, und in der belletristischen Literatur feierte der „gute Affe“ seine Wiedergeburt als neo-romantische Variante des „edlen Wilden“. Vor diesem Hintergrund erhielt auch die Anfang der 1990er Jahre von einer Reihe von Philosophen und Naturwissenschaftlern erhobene und seitdem heftig diskutierte Forderung, den Großen Menschenaffen als den nächsten lebenden Verwandten des Menschen die Menschenrechte zuzugestehen („Great Apes Declaration“), große Popularität. Insbesondere die Tatsache, daß vor allem Schimpansen von der biomedizinischen Forschung (Biomedizin) als Versuchstiere etwa in der AIDS-Forschung (AIDS) „benutzt“ werden (zur Zeit leben allein in US-Labors etwa 1600 Schimpansen), halten die Verfechter der „Great Apes Declaration“ für ethisch nicht vertretbar. Unumstritten ist dagegen die Forderung, die letzten verbliebenen Menschenaffenpopulationen in freier Wildbahn vor dem Aussterben zu bewahren. Sämtliche Menschenaffenarten werden von der IUCN (International Union for the Conservation of Nature) vor allem wegen der fortschreitenden Zerstörung ihres Lebensraums, teilweise aber auch wegen unkontrollierter Jagd als „endangered“ (gefährdet) oder „critically endangered“ (hochgradig gefährdet) eingestuft. Greifen internationale Schutzmaßnahmen (Naturschutz) nicht, werden sie innerhalb weniger Jahrzehnte ausgestorben sein.

Evolution und Systematik

Die klassische zoologische Systematik unterscheidet 2 Menschenaffen-Familien ( vgl. Tab. 1 ): die „Kleinen“ Menschenaffen oder Gibbons (Hylobatidae) und die „Großen“ Menschenaffen (Pongidae). Beide werden zusammen mit der Familie Menschenartige (Hominidae) in der Ordnung Primaten (Herrentiere) zur Überfamilie Hominoidea vereinigt. Diese Klassifikation stützt sich im wesentlichen auf Merkmale, die mit den unterschiedlichen Fortbewegungsweisen (Fortbewegung) der 3 Gruppen zusammenhängen: Gibbons sind spezialisierte „Schwinghangler“ (Brachiatoren; Brachiatorenhypothese), die Großen Menschenaffen ( vgl. Abb. 1 ) bewegen sich auf Bäumen dagegen mit der Methode des Stützhangelns, auf dem Boden vierfüßig (quadruped; Quadrupedie) im sog. Knöchelgang fort, während der Mensch die einzige Art ist, die sich habituell im aufrechten Gang fortbewegt (Bipedie). In Anpassung an diese unterschiedlichen Fortbewegungsweisen hat es zahlreiche, mehr oder weniger auffällige Umkonstruktionen des Skeletts gegeben (Biomechanik). Darüber hinaus unterscheiden sich (rezente) Menschen von sämtlichen Menschenaffen durch ein erheblich größeres Gehirn (Encephalisationsquotient, Gyrifikation, Hirnvolumen, Hominisation), die Fähigkeit zu einer artikulierten Wortsprache (Sprache), ein praktisch nicht mehr vorhandenes Fell (Haarkleid) und eine – im weiblichen Geschlecht – lange postreproduktive Lebensspanne. Daß Menschenaffen und Menschen klar voneinander abgegrenzte Gruppen darstellen, scheint durch diese Befunde also gestützt zu werden. Genetischen Untersuchungen zufolge stellt die traditionelle Unterscheidung zwischen Menschenaffen und Menschen jedoch eine Verzerrung der tatsächlichen Verwandtschaftsverhältnisse dar. Zunächst einmal bestätigten diese Untersuchungen vieles, was man erwartet hatte: Kleine und Große Menschenaffen sind Schwestertaxa (Schwestergruppe), deren Entwicklungswege sich vor etwa 20 Millionen Jahren getrennt haben; die afrikanischen Menschenaffen sind näher miteinander verwandt als mit ihrem asiatischen Vetter, dem Orang-Utan, und Schimpansen und Bonobos sind tatsächlich außerordentlich nahe Verwandte. Die eigentliche Überraschung war jedoch, daß der nächste Verwandte von Schimpanse und Bonobo nicht (wie man lange geglaubt hatte) der Gorilla ist, sondern der Mensch! Die mit der Methode der DNA-Hybridisierung festgestellte genetische Distanz zwischen Schimpansen und Gorillas beträgt 2,3%, die zwischen Schimpansen und Menschen aber nur 1,6% ( vgl. Abb. 2 . und vgl. Tab. 2 ).
Aus genealogischer, d.h. phylogenetischer Sicht ist eine Trennung zwischen Großen Menschenaffen und Menschen also nicht zu rechtfertigen. Über die Konsequenzen für die Klassifikation der Hominoidea ist man sich zur Zeit noch nicht einig. Manche Autoren behalten die klassische Einteilung nach wie vor bei, andere plädieren dafür, die Familie der Pongiden ganz oder teilweise aufzugeben und entweder alle Großen Menschenaffen oder zumindest die afrikanischen Menschenaffen in die Familie der Hominiden mit aufzunehmen. Der radikalste Lösungsvorschlag lautet, Bonobos, Schimpansen und Menschen in einer gemeinsamen Gattung zu vereinigen.
Entwicklungsgeschichtlich läßt sich die Evolution der Hominoidea bis ins Oligozän (34 bis 23 Millionen Jahre vor heute) zurückverfolgen. Basisgruppe sowohl der Menschenaffen als auch der Hundsaffen oder „Geschwänzten Altweltaffen“ (Überfamilie Cercopithecoidea) waren vermutlich die Propliopithecidae (bekanntester Vertreter: Aegyptopithecus). Die ersten sicheren Menschenaffen stammen aus dem Miozän (23 bis 5 Millionen Jahre vor heute) Afrikas und Eurasiens mit den bis zu 50 kg schweren Arten der Gattung Proconsul (Ostafrika, frühes Miozän) und den bis zu 35 kg schweren Arten der Gattung Dryopithecus (Europa, mittleres bis spätes Miozän). Der größte Menschenaffe aller Zeiten war der möglicherweise bis zu 300 kg schwere Gigantopithecus blacki aus dem Pleistozän Südostasiens, dessen mächtige Zähne der deutsche Paläontologe G.H.R. von Koenigswald Ende der 1930er Jahre in chinesischen Apotheken entdeckt hatte. Ein naher Verwandter von Gigantopithecus war Sivapithecus (Nordindien und Pakistan), der vor 12 bis 8 Millionen Jahren lebte und als Vorfahre des heutigen Orang-Utans gilt. Fossilfunde eines als Ramapithecus bezeichneten Menschenaffen, den man für einen frühen Vorfahren des Menschen hielt, werden heute ebenfalls zur Gattung Sivapithecus gezählt. Über die direkten Vorfahren der afrikanischen Menschenaffen ist bislang wenig bekannt. Als mögliche Kandidaten gelten 2 große Menschenaffenarten aus dem späten Miozän namens Samburupithecus (Nordkenia) und Ouranopithecus (Griechenland), deren Zähne und Gesichtsschädel denen heutiger afrikanischer Menschenaffen ähneln.
Sieht man von einer Art – dem Menschen – ab, sind die Menschenaffen keine evolutionär besonders erfolgreiche Gruppe: Seit dem frühen Miozän ist die Anzahl der Arten stetig gesunken, die der gemeinhin als „primitiver“ angesehenen „Tieraffen“ (Tieraffen) dagegen stetig gestiegen. Welche Ursachen für den Niedergang der Menschenaffen und den Aufstieg der „Tieraffen“ verantwortlich waren, ist bis heute nicht vollständig klar. Ein Unterschied ist allerdings offensichtlich: Die kleineren „Tieraffen“ pflanzen sich sehr viel rascher fort (Fortpflanzung) als die Großen Menschenaffen.

Verhalten, Sozialstrukturen und Fortpflanzungssysteme

Alle Großen Menschenaffen sind sozial, allerdings leben nicht alle gesellig: Orang-Utans sind die einzigen simischen Primaten, die nicht in Gruppen leben, sondern (abgesehen von Müttern und ihren noch nicht entwöhnten Kindern) ein weitgehend einzelgängerisches Dasein (Einzelgänger) führen. Vermutlich trägt diese Tatsache ebenso wie die äußerst geringe Fortpflanzungsrate (Weibchen bringen durchschnittlich nur alle 8 Jahre 1 Kind zur Welt; Fortpflanzungsstrategien) dazu bei, daß viele Paarungen bei Orang-Utans erzwungene Paarungen (erzwungene Kopulation, Vergewaltigung) sind. Gorillas, Schimpansen und Bonobos leben dagegen in Gruppen mit 1 (die meisten Gorillagruppen) oder mehreren Männchen, Weibchen und deren Jungen. Im Unterschied zu den meisten Hundsaffen verlassen entweder beide Geschlechter (Gorillas) oder nur die Weibchen (Bonobos, Schimpansen) bei Erreichen der Geschlechtsreife ihre Geburtsgruppe (Inzuchtvermeidung). Während Gorillagruppen relativ kohäsive Einheiten sind, leben Schimpansen und Bonobos in sog. „Fission-Fusion-Gesellschaften“: Mitglieder einer größeren Gruppe („community“) treffen sich gelegentlich („fusion“) und wandern in kleineren Gruppen („parties“) umher, bis sie sich schließlich wieder trennen („fission“). Beziehungen zwischen verschiedenen „communities“ sind bei Schimpansen außerordentlich gespannt, bei Bonobos dagegen nach bisherigen Beobachtungen durch „friedliche Coexistenz“ gekennzeichnet. Gezielte Tötungen von gruppenfremden Artgenossen (Gruppenaggression, Gruppenfeind) und/oder Jungtieren (Infantizid) sind bei Schimpansen und Gorillas wiederholt beobachtet worden, bei Bonobos hingegen (noch?) nicht. Bonobos sind darüber hinaus für ihre vergleichsweise „ausschweifende“ Sexualität bekannt – wenngleich von „freier Liebe“ keine Rede sein kann: Ranghohe Männchen sind sexuell sehr viel erfolgreicher als rangniedere Männchen und zeugen auch deutlich mehr Kinder. Homoerotische Kontakte (Homosexualität) zwischen Bonoboweibchen führen allerdings dazu, daß diese – anders als weibliche Schimpansen – enge Beziehungen untereinander ausbilden und auf diese Weise die auf dyadischer Ebene noch vorherrschende männliche Dominanz unterlaufen. Die unterschiedlichen Fortpflanzungssysteme der Menschenaffen (Promiskuität bei Schimpansen und Bonobos, Ein-Männchen-Polygynie [Polygamie] bei Orang-Utans und Gorillas) wirken sich auch auf deren Genitalmorphologie (Geschlechtsorgane) aus: Bonobo- und Schimpansenmännchen besitzen sehr große Hoden, die Weibchen ausgeprägte Sexualschwellungen (Genitalpräsentation), während Orang-Utan- und Gorilla-Männchen kleine Hoden und die Weibchen keine Sexualschwellungen haben.

Gehirn, Intelligenz, Kultur

Menschenaffen besitzen nicht die größten Gehirne im Tierreich (Gehirn [Tab.]): In ihrer absoluten Gehirngröße (Schimpanse: ca. 390 cm³, Gorilla: ca. 460 cm³, Orang-Utan: ca. 420 cm³) werden sie von Zahnwalen und Elefanten übertroffen, in ihrer relativen Gehirngröße (bezogen auf das Körpergewicht unter Berücksichtigung allometrischer Zusammenhänge; Allometrie) nicht nur von Zahnwalen und Delphinen, sondern auch von Kapuzineraffen. Auch in der Größe ihres Neocortex – des für die Evolution der Intelligenz vermutlich wichtigsten Gehirnteils – übertreffen durchaus nicht alle Menschenaffen ihre scheinbar „primitiveren“ Verwandten: Der Neocortex eines Gorillas ist (bezogen auf die Gesamtgehirngröße) nicht größer als der eines Pavians.
Vor dem Hintergrund dieser Befunde ist es nicht überraschend, daß darüber gestritten wird, ob Menschenaffen intelligenter als „Tieraffen“ sind. Allerdings ist bereits seit fast hundert Jahren durch Versuche W. Köhlers bekannt, daß Schimpansen in der Lage sind, Probleme durch Einsicht zu lösen – wofür es von „Tierprimaten“ kaum Belege gibt. Auch scheinen die Großen Menschenaffen die einzigen nichtmenschlichen Primaten zu sein, die sich selbst im Spiegel erkennen (Bewußtsein, Spiegelbild) und in der Lage sind, künstliche Symbolsprachen zu erlernen. In ihrer natürlichen Umgebung beweisen die Großen Menschenaffen vor allem auf 3 Gebieten Intelligenz: bei der Beschaffung von Nahrung (Nahrungserwerb), bei der Herstellung von Werkzeugen (Werkzeuggebrauch) und bei der Manipulation von Artgenossen. Umstritten ist derzeit noch, wie gut sie in der Lage sind, komplexere Handlungsabfolgen eines Vorbilds zu imitieren oder sich kognitiv (kognitive Ethologie, soziale Kognition) und emotional in andere Artgenossen hineinzuversetzen (Empathie, Mitempfinden, Mitleid, Perspektivenübernahme; „theory of mind“). Insbesondere scheint es ihnen schwer zu fallen, zu erkennen, daß im Kopf eines anderen etwas anderes vorgehen kann als in ihrem eigenen Kopf. Ebenso umstritten ist die Frage, ob Menschenaffen kulturfähig sind (Kultur, kulturelle Evolution). Sicher ist, daß Menschenaffen in ihrem Verhalten innovativ sind (Erfinden, Innovation) und Verhaltensinnovationen tradiert werden (Tradition). Bei Schimpansen, die in dieser Hinsicht am gründlichsten untersucht sind, hat man bisher 39 solcher lokal tradierter Verhaltensmuster registriert, die man beim Menschen zweifellos als Ausdruck von Kultur anerkennen würde (Traditionsbildung; Futtertradition, Lernen). Australopithecinen (Abb.), Begriffsbildung, Besitzverhalten, Blutgruppen, Denken, Erkundungsverhalten, Ethologie, Ethologie (Geschichte der), Fetalisation, Fossey (D.), Frontallappen, Geschenkritual, geschlechtstypische Verhaltensweisen, Goodall (J.), Greifhand, Großzehe, Haarstrich, Hand, Handeln im Anschauungsraum, Humor, individualisierter Verband, Introspektion, Kenyapithecus, Körperbewußtsein, Kind, Kontaktverhalten, Lächeln, Lebensspuren (Abb.), Mimik, Paläanthropologie, Peer, Pongidenhypothese, Tier-Mensch-Vergleich, Tragling, Zeitverständnis; Affen II , Afrika V , Asien VIAsien VIII , Menschenrassen II .
Lit.: Byrne, R.: The Thinking Ape. Evolutionary Origins of Intelligence. Oxford 1995. Cavalieri, P., Singer, P. (Hrsg.): Menschenrechte für die Großen Menschenaffen. München 1994. Hamburg, D.A., McCown, E.R. (Hrsg.): The Great Apes. Menlo Park 1979. Köhler, W.: Intelligenzprüfungen an Menschenaffen. Berlin 1972. McGrew, W.C., Marchant, L.F., Nishida, T. (Hrsg.): Great Ape Societies. Cambridge 1996. Preuschoft, H., Chivers, D.J., Brockelman, W.Y., Creel, N. (Hrsg.): The Lesser Apes. Evolutionary and Behavioral Biology. Edinburgh 1984. Sommer, V., Amman, K.: Die Großen Menschenaffen. München 1998. Tomasello, M., Call, J.: Primate Cognition. New York 1997. Wrangham, R., Peterson, D.: Bruder Affe. Menschenaffen und die Ursprünge menschlicher Gewalt. München 2001. Yerkes, R.M., Yerkes, A.W.: The Great Apes. New York 1929.



Menschenaffen

Abb. 1: Köpfe der Großen Menschenaffen: a Gorilla (Gorilla gorilla),b Schimpanse (Pan troglodytes),c Bonobo, „Zwergschimpanse“ (Pan paniscus),d Orang-Utan (Pongo pygmaeus)



Menschenaffen

Abb. 2:
Stammbaum der Hominoidea, basierend auf DNA-Hybridisierungsergebnissen

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