50 Jahre Lucy: Lucys Welt
An die Entdeckung des berühmten Fossils »Lucy« 1974 in Hadar in der äthiopischen Region Afar erinnert sich Zeresenay Alemseged nicht mehr. Er war damals erst fünf Jahre alt und lebte in der 600 Kilometer entfernten Stadt Aksum. Später las er zwar den Namen an Cafés und Taxis, wusste aber nur wenig über das Fossil – bis er schließlich Geologe wurde und am Nationalmuseum von Äthiopien in Addis Abeba arbeitete. Ab da veränderte Lucy sein Leben.
Im Jahr 2000 fand Alemseged in Dikika, zehn Kilometer von Hadar entfernt, »Lucys Kind« – das Teilskelett eines Kleinkindes derselben Spezies. 2015 erhielt der inzwischen weltbekannte Wissenschaftler die ehrenvolle Aufgabe, Lucy dem damaligen US-Präsidenten Barack Obama vor einem Staatsbankett im äthiopischen Nationalpalast zu präsentieren. Alemseged erlaubte Obama, die kostbaren Gebeine zu berühren, und erklärte ihm, das Fossil sei der Nachweis dafür, dass sich die Wiege der Menschheit in Äthiopien befinde und jeder Einzelne auf unserem Planeten seine Wurzeln in Afrika habe, »einschließlich Donald Trump«, wie er scherzhaft hinzufügte. 50 Jahre nach ihrer Entdeckung stellt Alemseged, der heute als Paläoanthropologe in den USA an der University of Chicago tätig ist, nachdrücklich fest: »Lucy ist eine Ikone.«
Seit man sie zur ältesten bekannten Vorfahrin unserer Gattung Homo und aller anderen nach ihr lebenden Homininen erklärte, herrscht die 3,18 Millionen alte Dame als Matriarchin über die Menschenfamilie. Doch wie viele alternde Monarchen sieht sich auch Lucy heutzutage mit einer neuen Welt konfrontiert, in der zahlreiche Mitglieder ihrer umfangreichen Sippe mit ihr um Aufmerksamkeit und Status rivalisieren.
Fünf Jahrzehnte Forschung haben Lucy quasi wieder zum Leben erweckt und gezeigt, dass sie trotz ihres geringen Hirnvolumens und ihres affenartigen Oberkörpers aufrecht ging, aber dennoch zum Fressen, Schlafen und zum Schutz vor Raubtieren auf Bäume klettern konnte. Neben dem Kind von Dikika brachten mehr als 400 neuere Fossilien männlicher und weiblicher Individuen ans Licht, wie Lucys Spezies Australopithecus afarensis sich in einem Zeitraum von einer Million Jahren (vermutlich von vor 3,85 bis vor 2,95 Millionen Jahren) auf unserem Planeten etablierte, sozialisierte und im Zuge der Evolution weiterentwickelte.
»Lucy ist eine Ikone«Zeresenay Alemseged, University of Chicago
Die Sicht der Fachleute auf Lucys Welt und ihren Platz darin hat sich allerdings verändert. Lucy gilt nicht mehr als das früheste bekannte Mitglied der Menschenfamilie. Vertreter ihrer Art unternahmen nicht – wie ihre Entdecker ursprünglich vermuteten – ihre ersten aufrechten Schritte im offenen Grasland der Savanne, sondern durchstreiften zunächst grasbewachsene Laubwaldbestände. Lucy und ihre Artgenossen trotzten einem Klimawandel und passten sich im Lauf der Jahrtausende an unterschiedliche Habitate an. Doch die wohl wichtigste Erkenntnis lautet: Sie war nicht allein. »Im selben Zeitraum lebten zahlreiche (Homininen-)Arten«, erklärt Yohannes Haile-Selassie, Direktor des Institute of Human Origins (IHO) an der Arizona State University.
Mutter oder Tante?
Vor drei bis vier Millionen Jahren habe der menschliche Stammbaum mehr einem Busch mit zahlreichen nebeneinander wachsenden Zweigen geglichen, meinen Haile-Selassie und etliche seiner Kollegen. Sie betrachten Lucy daher heute eher als eine Ururgroßtante des Menschen statt als direkte Vorfahrin. Alemseged und andere verweisen hingegen darauf, dass bislang noch kein Fossil gefunden worden sei, das einen besseren Kandidaten für die Urmutter aller Menschen abgäbe.
Steckbrief eines Homininen namens Lucy
Alter: 3,18 Millionen Jahre
biologische Spezies:Australopithecus afarensis
Größe und Gewicht: etwa einen Meter groß, 30 Kilogramm schwer
Familie: Hominidae (Menschenaffen) mit der Untergruppe Hominini (sämtlichen Vertretern der Gattungen Homo und Australopithecus); genaue Stellung unklar
Heimatort: Hadar in Äthiopien; aktueller Wohnsitz: Nationalmuseum von Äthiopien in Addis Abeba
Vorlieben: bewaldete Grasländer, dort konnte sie aufrecht gehen und vor Raubtieren auf Bäume flüchten; verspeiste gern Feigen, Beeren und Riedgräser
besondere Kennzeichen: stabile Knochen; gut erhaltenes Skelett mit Kiefer, Rippen, Becken sowie Teilen von Armen und Beinen
Entdeckungsdatum: 24. November 1974
Namenspaten: The Beatles
Auch wenn die Fachleute weiterhin über Lucys Platz im Stammbaum des Menschen diskutieren, sind sie sich darüber einig, dass kein bisher bekannter menschlicher Vorfahr eine mit Lucy vergleichbare Bedeutung erlangt hat. Nach wie vor staunen sie über den detailreichen Einblick in unsere Vergangenheit, den ihr zu 40 Prozent komplettes Skelett enthüllt. Wie die Teile eines unvollständigen Puzzles diente es beim Zusammensetzen der einzelnen Knochen Dutzender weiterer Vertreter ihrer Art als Vorlage. »Mehr als jedes andere Fossil der Welt ist Lucys Skelett betrachtet und untersucht worden«, konstatiert die Paläoanthropologin Kaye Reed vom IHO.
»Im selben Zeitraum lebten zahlreiche Homininenarten«Yohannes Haile-Selassie, Arizona State University
Im Jahr 1974 war noch nicht klar, dass sich ein derart gut erhaltenes Homininenskelett als überaus seltener Fund herausstellen sollte. »Das Schicksal hat uns einen üblen Streich gespielt, indem es uns das beste Fossil schon sehr früh finden ließ«, sagt der Paläoanthropologe Bernard Wood von der George Washington University. »Wie an einem Geburtstag, an dem bereits im ersten Geschenk genau das drin ist, was man sich gewünscht hat … und man dann erwartet, dass in allen anderen etwas ähnlich Tolles steckt.«
Feiern mit den Beatles
Der Erste, der dieses einzigartige Fossiliengeschenk auspacken durfte, war der US-Amerikaner Donald Johanson. Der damals am Cleveland Museum of Natural History tätige junge Paläoanthropologe hatte sich einer Expedition nach Hadar angeschlossen, die vom französischen Geologen Maurice Taieb (1935–2021) organisiert worden war. Am 24. November 1974, mitten in der zweiten Ausgrabungskampagne, gingen Johanson und der Student Tom Gray nach einem enttäuschenden Morgen mit wenigen interessanten Funden zurück zu ihrem Landrover. An einem Hang in einer ausgewaschenen Senke entdeckte Johanson plötzlich ein Stück von Lucys Armknochen. Bald darauf fand er ein Schädelfragment, einen Oberschenkelknochen, einen Teil des Beckens sowie mehrere Wirbel: ein außergewöhnliches Teilskelett.
»Das Schicksal hat uns einen üblen Streich gespielt, indem es uns das beste Fossil schon sehr früh finden ließ«Bernard Wood, George Washington University
Die Mitglieder des Grabungsteams feierten Johansons Entdeckung im Camp, sie tranken Bier, während das Beatles-Album »Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band« mit dem Song »Lucy in the Sky with Diamonds« die ganze Nacht lang aus dem Kassettenrekorder dudelte. Irgendwann begann jemand, das Skelett Lucy zu nennen, und der Name blieb.
»Lucy war deshalb so bedeutsam, weil wir praktisch nichts über das Aussehen eines frühen Menschenvorfahren wussten«, erzählt Johanson, der spätere Gründer des IHO. Er erinnert sich daran, dass ihn sogleich beeindruckt hatte, wie klein und primitiv Lucy im Vergleich mit anderen bekannten Vertretern der Australopithecinen gewesen war, etwa dem im Oktober 1924 – also fast genau 50 Jahre zuvor – in Südafrika gefundenen Australopithecus africanus, dessen Alter man zur Zeit von Lucys Entdeckung auf rund zwei Millionen Jahre schätzte. »Ich war verblüfft, wie sehr sie einem Affen ähnelte«, ergänzt er.
Als erster Hominine hatte Lucy die Zeitschranke von drei Millionen Jahren durchbrochen und das Alter der Menschenfamilie weiter in die Vergangenheit und deutlich näher an jene Zeit verlegt, in der Genetiker die Trennung der Vorfahren von Schimpansen und Menschen ansiedeln. Lucy »betrat ein Feld, auf dem intensiv über den Zeitpunkt der Abspaltung von Schimpanse und Mensch diskutiert wurde«, erläutert Tim White, Paläoanthropologe an der University of California in Berkeley und Koautor der bahnbrechenden Veröffentlichung aus dem Jahr 1978, in der er zusammen mit Johanson und dem französischen Paläoanthropologen Yves Coppens (1934–2022) die Erstbeschreibung von Australopithecus afarensis vorgenommen hat.
»Ich war verblüfft, wie sehr Lucy einem Affen ähnelte«Donald Johanson, Arizona State University
In den ersten zwei Jahrzehnten nach Lucys Entdeckung galt ihre Art als das älteste bekannte menschliche Familienmitglied. Damals sei A. afarensis für den Zeitraum von vor vier bis vor drei Millionen Jahren die einzige Option gewesen, meint die Paläoanthropologin Carol Ward von der University of Missouri. Viele Wissenschaftler zogen daher den Schluss, alle späteren Homininen, darunter Homo, A. africanus sowie die kräftiger gebauten Mitglieder der menschlichen Familie wie Paranthropus aethiopicus, P. robustus und P. boisei, wären aus Lucys Art hervorgegangen.
»Damals war das einfach, denn alles, was vor drei Millionen Jahren existierte, galt als A. afarensis – die Urmutter aller Menschen«, erklärt der Paläontologe Fred Spoor vom Natural History Museum in London. »So lautete unser Evangelium.«
Zurück zu den Schimpansen
Seither sind jedoch andere, zum Teil weitaus ältere Arten aus Lucys Schatten getreten. Lucy erschien so affenähnlich, dass »wir unweigerlich davon ausgingen, beim nächsten Schritt zurück bei den Schimpansen zu landen«, erzählt White, der in Laetoli (Tansania) Fossilien von Lucys Spezies gefunden und deren Fußspuren analysiert hatte. »Wie kurios das heute doch wirkt.«
Mitte der 1990er Jahre begannen White, der damalige Doktorand Haile-Selassie und andere im Gebiet Mittlerer Awash in Äthiopien eine intensive Suche nach den Vorfahren Lucys. Sie entdeckten ein bemerkenswert vollständiges, aber zerbrochenes Teilskelett, das sie Ardipithecus ramidus tauften und auf ein Alter von 4,4 Millionen Jahren datierten. Ganz in der Nähe fand Haile-Selassie später Unterkiefer, Zähne sowie einzelne Hand-, Fuß- und Armknochen von Ardipithecus kadabba, der vor 5,8 Millionen Jahren gelebt hatte. Jene primitiven Homininen ähnelten allerdings eher aufrecht gehenden Affen als Menschen. »Man würde sie nicht unbedingt zum Essen einladen«, scherzt White. Verglichen mit Ardipithecus »wirken Lucy und Co. geradezu menschlich«.
Neuere Fossilienfunde schoben die Entwicklungslinie des Menschen zeitlich sogar noch weiter zurück: ein sechs Millionen Jahre alter Oberschenkelknochen eines augenscheinlich aufrecht gehenden Individuums aus Kenia – der so genannte Millenium-Mann Orrorin tugenensis – sowie der beeindruckende, sechs bis sieben Millionen Jahre alte Schädel von Sahelanthropus tchadensis aus dem Tschad.
»Verglichen mit Ardipithecus wirken Lucy und Co. geradezu menschlich«Tim White, University of California, Berkeley
In Anthropologenkreisen wird nach wie vor heftig darüber diskutiert, ob es sich bei all diesen Arten tatsächlich um Homininen handelt und in welcher verwandtschaftlichen Beziehung sie zu Australopithecus und erst recht zu Homo stehen. Insgesamt verlagern die Fossilien jedoch den Ursprung der menschlichen Familie deutlich weiter zurück in eine Zeit vor mindestens sechs Millionen Jahren – ein Befund, der sich auch mit den Ergebnissen genetischer Untersuchungen hinsichtlich des Zeitpunkts der Trennung unserer Entwicklungslinie von derjenigen der Schimpansen und Bonobos deckt.
Lucys Urgroßmutter
Derweil suchten andere Forscher weiterhin nach Fossilien aus der kritischen Periode vor etwa vier Millionen Jahren und stießen dabei auf eine potenzielle Urgroßmutter Lucys: 1994 entdeckten die kenianische Paläoanthropologin Meave Leakey und ihr Team an zwei Grabungsstellen in der Nähe des Turkanasees in Kenia mehr als 80 Fossilien in Form von Zähnen, Kiefern, eines unvollständigen Arms sowie eines Schienbeinknochens. Sie datierten ihre Funde auf ein Alter von 3,9 bis 4,2 Millionen Jahren und nannten die Art Australopithecus anamensis. Anhand von Kiefer- und Zahnmerkmalen postulierten die Fachleute, dass es sich bei der neuen Spezies um den unmittelbaren Vorgänger Lucys und ihrer Artgenossen handelte.
2016 jedoch machte Haile-Selassie in Woranso-Mille, einer nur 30 Kilometer von Hadar entfernten Hügellandschaft, eine Entdeckung, die das Bild komplizierter werden ließ. Mit Unterstützung eines einheimischen Ziegenhirten fand er den ersten vollständigen Schädel von A. anamensis. Der spektakuläre Fund wurde auf ein Alter von 3,8 Millionen Jahren datiert und war somit etwas jünger als das früheste A. afarensis zugerechnete Fossil, ein 3,85 Millionen Jahre alter Kiefer. Die Vorstellung, dass sich Lucys Spezies direkt aus A. anamensis entwickelte hatte und Letzterer danach von der Bildfläche verschwand, war somit vom Tisch. Stattdessen war A. afarensis womöglich aus einem früheren Vertreter von A. anamensis oder gar aus einer anderen nah verwandten Art hervorgegangen, und beide Entwicklungslinien hatten eine Zeit lang nebeneinander existiert.
Unbekannter Homo
Während sie noch nach Lucys Vorfahren suchten, hielten die Fachleute gleichzeitig nach deren Nachkömmlingen Ausschau – in der Hoffnung, eine Spur zu finden, die von ihrer Gattung zu der unseren führt. Den unmittelbaren Vorgänger von Homo zu identifizieren, sei auch deshalb eine solche Herausforderung, »weil wir nur sehr wenig über den frühen Homo wissen«, erklärt Carol Ward. Das älteste bekannte Fossil unserer Gattung ist ein fast 2,8 Millionen Jahre alter Unterkiefer mit abgenutzten Backenzähnen, der am entlegenen, nur 30 Kilometer von Hadar entfernten Grabungsort Ledi-Geraru gefunden wurde (siehe »Lucys Heimat«). »Es ist zwar ein überzeugender Beleg«, räumt Ward ein, es handle sich aber nur um einen einzigen derart alten Fund. Mindestens zwei Vertreter unserer Gattung – Homo habilis und H. erectus – tauchten vor zwei Millionen Jahren anderswo in Ostafrika auf.
Das Alter des Kiefers lässt zumindest darauf schließen, dass Homo vor rund drei Millionen Jahren Einzug hielt, also nicht lange, nachdem Lucy gelebt hatte. Da zu jener Zeit jedoch offensichtlich verschiedene Vertreter der Homininen in Ostafrika beheimatet waren (siehe »Familienbande»), gibt es weitere Kandidaten, die als Vorfahren von Homo in Frage kommen.
Einer von ihnen tauchte durch den Fund eines eigentümlichen, zerbrochenen Schädels auf, den Meave Leakeys Team 1999 in Lomekwi westlich des Turkanasees entdeckte. In mühevoller Kleinarbeit rekonstruierten Leakey und ihre Kollegen den Schädel, indem sie die Bruchstücke wie ein 3-D-Puzzle wieder zusammensetzten. Die Wissenschaftler kamen zu dem Schluss, dass es sich um eine neue Art namens Kenyanthropus platyops handelte, die ein flacheres Gesicht und kleinere Backenzähne als Lucys Spezies aufwies – Merkmale, die auf ein mögliches Übergangsstadium zwischen Lucy und Homo hindeuteten.
Der auf Basis eines einzigen zerdrückten Schädels beschriebene Kenyanthropus stieß allerdings auf unterschiedliche Resonanz. Tim White bezeichnete ihn als Unfallopfer und deutete an, es handle sich höchstwahrscheinlich um den zertrümmerten Schädel eines A. afarensis. Mit Hilfe von dreidimensionalen morphometrischen Methoden verglich Leakey jedoch den Oberkiefer von Kenyanthropus mit denen einiger anderer Homininen und konnte auf Grund ihrer Ergebnisse zahlreiche Wissenschaftler davon überzeugen, Kenyanthropus als eigene Art anzuerkennen. Am selben Fundort identifizierten Forscher zudem mehrere isolierte Zähne einer noch unbekannten Spezies.
Unterdessen war Yohannes Haile-Selassie an der Grabungsstätte Woranso-Mille auf Überreste zweier weiterer Homininen gestoßen, die im Bereich des menschlichen Stammbaums unmittelbar vor dem Erscheinen von Homo für zusätzliche Verwirrung sorgen. Einer von ihnen ist der so genannte Burtele-Fuß, benannt nach der 3,4 Millionen Jahre alten Sedimentschicht, in der er gefunden wurde. Sein Eigentümer lebte zur selben Zeit wie A. afarensis, war aber weitaus primitiver und besaß – ähnlich wie der auf Bäume kletternde Ardipithecus – einen opponierbaren großen Zeh. Das Grabungsteam entdeckte ebenfalls Zähne sowie zwei Ober- und Unterkiefer, die Haile-Selassie einer neuen Art zuschrieb. Er nannte sie A. deyiremeda und bestimmte ihr Alter auf 3,3 bis 3,5 Millionen Jahre. Seine 2015 veröffentlichte Entdeckung rief gemischte Reaktionen hervor. White, Alemseged und andere waren der Ansicht, die Kiefer gehörten zu unterschiedlichen Formen von A. afarensis, den man in einem Radius von fünf Kilometern um die Grabungsstätte gefunden hatte.
Doch inzwischen gelang es Fred Spoor und seinem Postdoc, die Behauptung Haile-Selassies zu stützen. Mit Hilfe von dreidimensionalen morphometrischen Analysen erfassten sie Unterschiede in der Entwicklung der Oberkieferknochen von A. afarensis, A. deyiremeda sowie K. platyops und verdeutlichten dabei die methodologischen Fortschritte auf dem Gebiet seit der Entdeckung Lucys. Die Vergleiche »zeigen signifikante Unterschiede«, erklärte Spoor in einem Vortrag am Collège de France im Juni 2023. »Sie bestätigen den Status von K. platyops und A. deyiremeda als eigenständige Arten, die sich von A. afarensis unterscheiden.«
Niemand behauptet, dass A. deyiremeda ein direkterer Vorfahr der Gattung Homo war als Lucy. Die neuen Fossilienfunde legen allerdings nahe, dass vor 3,5 Millionen Jahren eine regelrechte Diversitätsexplosion stattfand und sich die Bühne, auf der Lucy zuvor allein agiert hatte, mit weiteren Homininen füllte. Möglicherweise sei Lucy Teil einer adaptiven Radiation gewesen, die viel früher eingesetzt habe, als die Fachleute ursprünglich annahmen – vielleicht schon zu der Zeit, als die Homininen begannen, aufrecht zu gehen, und ihre Habitate und Nahrungsspektren erweiterten, vermutet Carol Ward.
Spurensuche in Laetoli
Einige dieser Homininen wanderten womöglich über denselben Boden wie einst Lucys Spezies. 2021 analysierte das Team um die Anthropologin Ellison McNutt von der Ohio University erneut die bereits 1976 entdeckten weltberühmten Spuren von Laetoli. Von manchen der Abdrücke wird angenommen, dass es sich um 3,7 Millionen Jahre alte Fußspuren von A. afarensis handelt. Andere etwa gleich alte Spuren wurden dagegen ursprünglich als Tierfährten interpretiert. McNutt und ihre Kollegen postulieren nun aber, dass diese Abdrücke von einem aufrecht gehenden Wesen stammen – einem Homininen mit anderen Füßen und einem anderen Gang als Lucy und ihre Artgenossen.
In der Zwischenzeit tauchten bei der Suche nach den Vorfahren von Homo neue Hinweise in Südafrika auf, wo Wissenschaftler weitere frühe Vertreter der Australopithecinen wie etwa den rund zwei Millionen Jahre alten A. sediba entdeckt hatten. Laut einer 2023 veröffentlichten Untersuchung schließen Forscher nicht aus, dass A. sediba einen Vorgänger besaß, aus dem sich auch der frühe Homo entwickelte, was wiederum die Möglichkeit aufwirft, dass sich der Lebensraum unseres Vorfahren von Ostafrika bis nach Südafrika erstreckte.
Momentan gibt allerdings keiner der neuen Homininen einen überzeugenden direkten Vorfahren von Homo ab. Zeresenay Alemseged und einige andere setzen daher nach wie vor auf Lucy: Sie geben zu bedenken, dass kein bisheriger Fossilienfund Lucys Spezies zweifelsfrei von ihrem Spitzenplatz als mutmaßliche Vorgängerin des früheren Homo und der späteren Vertreter von Australopithecus verdrängt.
»Wir machen es uns zu einfach, wenn wir anhand von unvollständigen fossilen Belegen versuchen, die Vor- und Nachfahren derzeit bekannter Arten abzuleiten«Fred Spoor, Natural History Museum, London
Andere wenden hingegen ein, dass sie es schlicht nicht wüssten. »Wir machen es uns zu einfach, wenn wir anhand von unvollständigen fossilen Belegen versuchen, die Vor- und Nachfahren derzeit bekannter Arten abzuleiten«, meint Spoor. Angesichts der Seltenheit, mit der offenbar menschliche Überreste fossilisiert werden, und der wenigen bisher gefundenen Fossilien sei es gut möglich, dass wir niemals einen Blick auf unseren unmittelbaren Vorfahren erhaschen werden, sagt Wood. Zudem sei es ziemlich unwahrscheinlich, dass »alle Homininen, die je gelebt haben, ausgerechnet dieses eine Prozent der Landfläche Afrikas bevölkerten, auf dem wir zufällig Fossilien finden«, fügt er hinzu.
Hat Lucy Werkzeuge gebaut?
Auch wenn ihr Status als Urahnin der Menschheit noch nicht ganz geklärt ist, rückt Lucy gerade in anderer Hinsicht wieder stärker in den Fokus. »Als Lucy gefunden wurde, dachten wir, Homo habilis hätte die ersten Werkzeuge hergestellt«, erklärt die Archäologin Sonia Harmand vom französischen Centre national de la recherche scientifique. In Lomekwi, am Fundort von Kenyanthropus, förderten sie und ihr Team jedoch primitive, 3,3 Millionen Jahren alte Steinwerkzeuge zu Tage, die somit durchaus ein Kenyanthropus oder Australopithecus angefertigt haben könnte. Im Verhältnis zu ihrer Körpergröße habe Lucy zwar nur ein geringfügig voluminöseres Gehirn als ein Affe besessen, aber ihre Hände und die von anderen Vertretern der Australopithecinen wären vermutlich sehr wohl in der Lage gewesen, Knochen mit groben Werkzeugen zu zertrümmern, um an das Mark zu gelangen, bemerkt Harmand.
»Ob Lucy wirklich Werkzeuge herstellte, wissen wir nicht«Sonia Harmand, Centre national de la recherche scientifique
»Ob Lucy wirklich Werkzeuge herstellte, wissen wir allerdings nicht«, unterstreicht die Archäologin, da viele Konkurrenten in Form anderer Homininen zu jener Zeit existiert hätten. Bislang stieß Harmands Grabungsteam bei den Steinwerkzeugen nur auf einen einzelnen, merkwürdig aussehenden Backenzahn; Funde weiterer Fossilien, welche die Identität des Werkzeugherstellers aufklären könnten, dürften aber bald folgen.
Andere Experten kamen ebenfalls zu dem Schluss, dass Lucys Artgenossen möglicherweise Werkzeuge hergestellt hatten. Bereits 2010 berichtete Zeresenay Alemseged zusammen mit Shannon McPherron vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, dass eine Rippe und der Beinknochenschaft eines Huftiers »eindeutig« Schnittspuren von Steinwerkzeugen aufwiesen, die ihnen ein Mitglied der Menschenfamilie vor 3,4 Millionen Jahre zugefügt hätte. Die bearbeiteten Knochen stammten von Dikika und waren nur 222 Meter von der Stelle entfernt aufgetaucht, an der Alemseged einige Jahre zuvor das bemerkenswert vollständige Skelett des Dikika-Kindes entdeckt hatte. Die Schnittspuren könnten allerdings auch von den Zähnen eines Krokodils herrühren, wenden Tim White und andere ein. Darüber hinaus seien in der Gegend um Laetoli und Hadar, aus der die meisten der mehrere hundert Fossilien von A. afarensis stammen, bislang keinerlei Werkzeuge gefunden worden, ergänzt der Paläoanthropologe Terry Harrison von der New York University.
Angepasst an wechselnde Umweltbedingungen
Trotzdem wies Lucys Spezies wohl eine große Anpassungsfähigkeit auf. Das zeigt sich, wenn man sich die Umwelt anschaut, in der sie Hunderttausende von Jahren gelebt hat. Anhand von Knochen und Proteinen konnten Forscherteams urzeitliche Tiere identifizieren und mit Hilfe von Pollen, pflanzlichen Wachsen und Isotopenanalysen die frühere Vegetation sowie die Niederschlagsmengen rekonstruieren. Dabei stellte sich heraus, dass in der heute regenarmen Landschaft zu Lebzeiten der ersten Vertreter von Lucys Artgenossen vor etwa 3,7 Millionen Jahren auch Wälder entlang eines ehemaligen Flusses wuchsen, in dessen Fluten Tiere wateten und eine gesamte Familie von A. afarensis ums Leben kam.
Später dann, ab einer Zeit vor 3,2 Millionen Jahren, war die Region um Hadar sehr viel trockener, und Lucys Art passte sich an eine neue Nahrung mit härterer Pflanzenkost wie Seggen, Wurzeln und Gräsern an, wobei die männlichen Vertreter von A. afarensis offenbar auch größere Kiefer entwickelten. Weiter südlich, in Laetoli, sei die Gegend zu Lebzeiten von A. afarensis sogar noch trockener gewesen – eine unwirtliche Umwelt ohne Wasserläufe. »A. afarensis war im Grunde ein Generalist«, der unter zahlreichen Umweltbedingungen überleben konnte, konstatiert Kaye Reed.
»Australopithecus afarensis war ein Generalist«Kaye Reed, Arizona State University
Lucy und ihre Artgenossen waren die einzigen bekannten Homininen in der Gegend von Hadar. Doch im nur 30 Kilometer entfernten Woranso-Mille teilten sie sich das steilere und stärker bewaldete Gelände mit A. anamensis, A. deyiremeda und dem Besitzer des Burtele-Fußes. Reed und Haile-Selassie wollen ergründen, warum an dieser Stelle so viele Homininenarten vorkamen, während an der anderen nur eine einzige existierte. Vielleicht hat das vielfältigere Habitat von Woranso-Mille eine Koexistenz von verschiedenen Homininen ermöglicht, die unterschiedliche Nischen besetzten, spekuliert Haile-Selassie. Anfang 2024 war er erneut zu Ausgrabungen vor Ort – auf der Suche nach weiteren Knochen und Werkzeugen.
Auch wenn Haile-Selassie nach Fossilien Ausschau hält, die womöglich Lucys Platz im Ahnenregister einnehmen, bleiben er und andere davon überzeugt, dass ihre Herrschaft fortbestehen wird. »Ich glaube nicht, dass irgendein bisheriger Fund Lucy erfolgreich ablösen könnte«, meint Bernard Wood. »Was aber nicht zwingend heißt, dass sie die Vorfahrin von Homo war. Doch sie ist nach wie vor die beste Kandidatin dafür.«
Für den mittlerweile 81-jährigen Donald Johanson sind das gute Nachrichten. In Äthiopien traf er viele junge Menschen, die noch immer begeistert Selfies mit ihm als Lucys Entdecker machen wollten. Ganz gleich, welchen Platz Lucy letzten Endes im Stammbaum des Menschen einnehmen wird, Johanson bedauert nur eines: Er hatte nie die Gelegenheit, sie den Beatles vorzustellen.
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