Lexikon der Biologie: Geschichte der Ethologie
ESSAY
Uta Seibt · Wolfgang Wickler
Geschichte der Ethologie
Menschen haben sich von jeher für das Verhalten anderer Lebewesen interessiert, zunächst solcher, die sie als Feinde fürchteten oder als Nahrung brauchten. Schon frühe Jäger haben ihre Opfer mit Attrappen überlistet, nämlich „Lockvögel“ benutzt oder sich selbst als Tiere verkleidet. Seit Urzeiten wurden Tiere ferner als Gefährten und Helfer gezähmt und abgerichtet (Haustierwerdung). Die für solche praktischen Anwendungen erforderlichen Erfahrungen mit tierischem Verhalten wurden und werden bis heute von allen Völkern durch langzeitiges Beobachten und Ausprobieren gewonnen. Schließlich hatten lebende Tiere im breiten Publikum auch immer einen hohen Unterhaltungswert, der sich bis heute im Zoo (zoologischer Garten) und im Zirkus sowie an Heimtieren zeigt.
Die vorwissenschaftliche Verhaltenskunde
Aus einer begreiflichen Vorliebe für Wunderliches und Erstaunliches hatte sich schon in der „Naturalis historia“ des Gaius P.S. Plinius (23–79 n.Chr.) allerlei Seemannsgarn und Jägerlatein angesammelt. Auch noch die Vorlesungen von I. Kant (1724–1804) über „Physische Geographie“ enthalten etliche erdichtete Fähigkeiten von Tieren. Diese gingen zum Teil zurück auf den Physiologus, eine Mischung aus griechischer zoologischer Paradoxographie und spätjüdisch-christlicher Allegorese. Entstanden um 200 v.Chr., diente er der Erhärtung theologischer Aussagen und wurde in fast so viele Sprachen übersetzt wie die Bibel. In nachfolgenden Schriften, den Bestiarien, fiel die theologische Aussage allmählich fort, und übrig blieb eine exotische Zoologie, auf die es die Verfasser des Physiologus gerade nicht abgesehen hatten.
Didaktische Hybriden waren seit Äsop auch die Fabeln: Sie sind „nicht nur moralisch; sie vermitteln auch andere Kenntnisse; sie stellen die Eigenschaften der Tiere und deren verschiedene Charaktere dar“, sagt Jean de la Fontaine 1668. Und „wenn Bienen und Ameisen zu dem fähig sind, was man von uns verlangt“, dann bestand guter Grund, dem Menschen moralische Forderungen durch solche fabelhaften Beispiele nahezubringen. Theologisch betrachtet galt tierisches Verhalten ja als ein von Gott gestiftetes erzieherisches Vorbild für den Menschen. Obwohl Tiere eben gerade nicht zu dem fähig sind, was Ethik und Moral von uns verlangen, wird mit naturgegebenen Vorbildern immer wieder pädagogischer Mißbrauch getrieben, etwa beim Argumentieren für ein sog. naturgemäßes Sexualverhalten. In diesem Ansatz wird Moral als Abklatsch der Natur verstanden, was seit David Hume (1711–1776) unbestritten als naturalistischer Fehlschluß gilt; denn „aus dem Sein folgt kein Sollen“. Die enge gedankliche Nachbarschaft zwischen naturwissenschaftlicher Beschreibung des Verhaltens und der moralischen Frage, wie das Verhalten des Menschen beschaffen sein soll, zeigt sich schon in den beiden Fachbezeichnungen: der Name „Ethologie“ für die Verhaltensforschung hat die gleiche griechische Wurzel wie „Ethik“.
Die normative Kraft des Faktischen im Verhalten behandelt Friedrich Schiller in seiner Promotions-Disputation (1780) „Über den Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen“. Ausführlicher tat es vor ihm der Hamburger Pfarrherr Hermann Samuel Reimarus (1694–1768). Der stellte in seinen „Betrachtungen über die Triebe der Thiere“ (1760) bereits wesentliche Fragen der modernen Verhaltensforschung: Wie ist das Verhalten organisiert? Wieso lernen Tiere, wenn sie überhaupt lernen, das „Richtige“? Warum verhalten sich die vielen Tierarten so unterschiedlich? Woher kennt jedes Tier seine Bedürfnisse? Ihm fehlte zwar das Methoden-Rüstzeug, mit dem man diese Fragen hätte beantworten können, dennoch lohnte es sich schon damals, sein Buch „zu lesen und es mit Wollust zu durchdenken“, wie der junge Karl Marx 1837 an seinen Vater schrieb.
Naturbeobachter hatten seit langem sehr präzise Kenntnisse über das Verhalten namentlich von Vögeln aufgeschrieben; Beispiele sind das Jagd-Raubvogel-Buch „De Arte Venandi cum Avibus“ des Kaisers Friedrich II. von Hohenstaufen (1194–1250) oder die ebenso berühmten Vogelstudien von Baron Ferdinand Adam von Pernau (1660–1731), von Pfarrer Johann Heinrich Zorn (1698–1748) und von Bernhard Altum (1824–1900). Schon diese Autoren kannten Beispiele für angeborenes Verhalten, das bereits dem noch unerfahrenen Tier fertig verfügbar ist. Hinzu kamen später die präzisen Insektenstudien von J.-H. Fabre (1823–1915). Einen Überblick über die Lebensweise aller Tiere erstrebte Alfred Brehm (1829–1884) mit seinem berühmten „Tierleben“. Die „Formen der Vergesellschaftung im Tierreiche“ klassifizierte Paul Deegener 1918.
In Amerika schrieb der naturbegeisterte Rechtsanwalt Thomas Morton (1579–1647) sein „New Canaan“ über Tiere und ihr Verhalten, John James Audubon (1785–1851) stellte Vögel und andere Tiere in Wort und Bild in ihrem natürlichen Lebensraum dar, und John Burroughs schilderte 1875 das Verhalten der Bienen-Kundschafter, die ein neues Heim für den Schwarm suchen. Insgesamt blieben aber Verhaltensstudien an Tieren bis Ende des 19. Jh. eher eine Domäne von Naturfreunden und Philosophen wie John Bascom (1827–1911), der die Kluft zwischen Theologie und Naturwissenschaft zu überbrücken suchte.
Verhaltensforschung als Wissenschaft
Die wissenschaftliche Verhaltensanalyse begann mit der Frage nach der Entwicklung der Verhaltensweisen und der Herkunft ihrer Angepaßtheit. Die Ansätze dazu waren in Europa und Amerika weitgehend gleich. Sie konzentrierten sich auf den Instinkt als ein altes hypothetisches Konstrukt, mit dem man planvolles Handeln der Tiere von dem des Menschen unterscheiden wollte. Wie schwierig das ist, sah Lewis Henry Morgan (1818–1881): Als Bauleiter einer Eisenbahnstrecke studierte er fasziniert das Verhalten der Biber, für das er psychologische Erklärungen heranzog, weil ihm der Instinktbegriff ungenügend schien. Herbert Spencer Jennings (1868–1947) schloß aus seinen Studien an niedersten Organismen sogar auf geistige Prozesse in allen Lebewesen. Charles Darwin (1809–1882) brachte die methodische, stammesgeschichtlich vergleichende Betrachtungsweise in die Untersuchung des Verhaltens. Er lieferte mit seiner Evolutionstheorie ein Denk-Gerüst, das die Angepaßtheit der Verhaltens-Merkmale erklären konnte, nämlich ihre fortwährenden leichten Abwandlungen und deren funktionelle Bewährungsprobe, bei der die weniger geeigneten in der Generationenfolge verloren gehen. Den dafür wichtigen Schritt vom anekdotischen zum systematischen Sammeln von Beobachtungen betonte der deutsche Zoologe David Friedrich Weinland (1829–1915), der jahrelang in Amerika arbeitete, in seiner „Method of Comparative Animal Psychology“ (1858); er fordert, das gesamte Verhaltensinventar („Ethogramm“) der Tierarten aufzunehmen, ehe man einzelne Vergleiche anstellt (Ethometrie). Um 1870 nannte der Lamarckist Alfred Giard seine Freilandbeobachtungen der Umweltbeziehungen verschiedenster Tiere „Ethologie“; Franz Doflein stellte 1910 dasselbe als „Tierleben“ dem „Tierbau“ von Richard Hesse gegenüber. Beim Studium des Verhaltens von Tanzfliegen erkannte auch William Morton Wheeler (1865–1937), der Lehrer des Sexologen A.C. Kinsey, daß man die Angepaßtheit (den Selektionsvorteil) irgendeines Verhaltens nur im natürlichen Lebensraum sinnvoll überprüfen kann; dafür übernahm er 1902 die Bezeichnung Ethologie. Ebenso benannte 1909 der franz. Paläontologe Louis Dollo (1857–1931) das Erforschen aller, also auch physiologischer und morphologischer Anpassungen.
Der erste Grundriß einer stammesgeschichtlich orientierten Comparative Psychology hieß „Tierische Intelligenz“ und erschien 1882. Sein Autor, G.J. Romanes (1848–1894), stellte ihn der Vergleichenden Anatomie an die Seite. Vergleichen fördert Unterschiede und Gemeinsamkeiten zutage. Unterschiedliche Lösungen für gleiche Probleme findet man in der Regel an verschiedenen Tieren, ähnliches bis gleiches Verhalten an nah verwandten Arten. Auf ersteres setzte Robert Mearns Yerkes (1875–1956), der das Verhalten von Regenwürmern, Krebsen, Fröschen, Schildkröten, Mäusen, Ratten und Menschenaffen studierte. Berühmte Artenvergleiche stammen von Charles Otis Whitman (1842–1910) an Tauben sowie von George W. Peckham (1845–1914) und seiner Frau Elizabeth Gifford Peckham (1854–1940) an Wespen. Sie alle begannen jeweils mit genauen Verhaltensbeschreibungen, zielten auf Verhaltensweisen, die im normalen Lebensraum der Tiere wichtig sind, und vermieden deshalb Haustiere. Karl S. Lashley (1890–1958) betonte, daß Lebewesen schon vor möglichen Erfahrungen ein komplexes Verhalten in arttypischer Weise ausführen können, und zwar präzise in der angemessenen Situation. John Broadus Watson (1878–1958), der spätere Begründer des Behaviorismus, folgerte aus seinen Feldstudien an Seeschwalben, daß Instinkte nicht gelernte, sondern ererbte, formstarre Reaktionen auf definierte Objekte seien, und erfand die Aufzucht unter Erfahrungs-Entzug (Deprivationssyndrom). Edmund Selous (1858–1934) und Conwy Lloyd Morgan (1852–1936) schlossen auf eine Evolution der Verhaltensweisen durch natürliche Selektion, und Charles Otis Whitman forderte schließlich, die Stammesgeschichte von Instinkten genauso zu untersuchen wie die von Organen. Das wurde zum Grundthema der klassischen Verhaltensforschung.
Die klassische Ethologie
Begründet wurde die klassische Ethologie durch Konrad Lorenz (1903–1989) mit seinem Lehrer Oskar Heinroth (1871–1945). Heinroth entdeckte an Enten, wie schon Whitman an Tauben, daß sich aus der abgestuften Ähnlichkeit arteigener Bewegungsweisen auf eine entsprechend abgestufte Stammesverwandtschaft der Arten schließen läßt. Dazu mußten diese Bewegungen in ihrer Ablaufsform erbkoordiniert sein (Erbkoordination). Die biologische Erforschung solcher „Instinkthandlungen“ bezeichnete Heinroth ab 1910 als „Ethologie“ im heutigen Sinne. Daneben verwendeten er und Lorenz für das Studium der Verhaltensäußerungen und ihrer inneren Ursachen auch die Bezeichnung „Tierpsychologie“ für eine vergleichende Psychologie auf zoologischer Grundlage. Lorenz sah in der Ethologie eine neue Wissenschaft und brach ihr Bahn, indem er Darwins Evolutionskonzept strikt auf Verhaltensweisen – etwa die „Ausdrucksbewegungen“ der Entenvögel – anwandte und darauf aufbauend eine originelle und plausible Theorie des Instinkt-Verhaltens aufstellte. Den öffentlichen Erfolg verdankte er eigenen, genauen Tierbeobachtungen, den Parallelen, die er darin zum Verhalten des Menschen fand, und überdies einer charismatischen Leidenschaft, seine Erkenntnisse überzeugend auch in populären Büchern und Vorträgen mitzuteilen.
Zum typischen Thema für die europäische Ethologie wurde die Rekonstruktion der Stammesgeschichten homologer, d.h. aus gleicher Vorform abgeleiteter Verhaltensweisen (Verhaltenshomologie), ihres Funktionswandels in verwandten Arten und ihrer Abänderung im Dienste der Kommunikation („Ritualisierung“). Für Lorenz „war die erbkoordinierte Bewegung der archimedische Punkt, auf dem sich alle ethologische Erkenntnis aufgebaut hat“. Damit wandte er sich gegen das Erklärungsmodell extremer Behavioristen, demzufolge das Lebewesen, wie schon John Locke (1632–1704) gemeint hatte, am Lebensbeginn eine „tabula rasa“ war und sein Verhalten allein nach Versuch und Irrtum unter kontingenten Bekräftigungen (engl. „reinforcement“) formte. Dieses Modell basierte auf den von Iwan Pawlow (1849–1936) entdeckten bedingten Reflexen; es entstammte der Comparative Psychology, die nach dem Ursprung von Verstand und Intelligenz fragte und dazu – wie etwa Edward Lee Thorndike (1874–1949) – vorrangig Erfahrungslernen erforschte. Anders als in England bei William H. Thorpe (1902–1986) blieb dabei die Frage nach dem biologisch Vorprogrammierten zuweilen unberücksichtigt. Extrem behavioristisch dachte etwa Zing-Yang Kuo (1898–1970), Küken lernten im Ei das Picken dadurch, daß der Kopf vom Herzschlag auf-ab-bewegt und dabei Flüssigkeit durch den Schnabel geschluckt wird. Dagegen hielt Lorenz, daß viele Nesthocker dennoch nicht picken, sondern ihren Eltern den offenen Schnabel entgegenstrecken.
Das „klassische“ Lorenzsche Modell des Instinktverhaltens, entwickelt bis 1939, umfaßt vier Annahmen ( vgl. Infobox ). Dieses Konzept übernahm die Unterscheidung zwischen formstarrer Endhandlung und variablem Appetenzverhalten von Wallace Craig (1876–1954). Zwischen 1940 und 1965 führte eine Fülle von Untersuchungen zur Blüte der klassischen Verhaltensforschung. Weithin als gegeben angesehen wurden damals die mittelbaren („ultimaten“) Faktoren, das sind die adaptiven Konsequenzen des Verhaltens, die den Selektionsvorteil des geeigneteren gegenüber dem weniger geeigneten Verhalten ausmachen; im Vordergrund stand die Frage nach den Mechanismen adaptiven Verhaltens, nach seinen unmittelbaren („proximaten“) Gründen (biologischer Zweck). Das erste Lehrbuch der Ethologie war die „Instinktlehre“ (1951) von Nikolaas Tinbergen (1907–1988).
Eine sehr heftige, in USA von Daniel S. Lehrman (1919–1972) begonnene Debatte, die am Ende zu einer Verständigung zwischen europäischen und amerikan. Ethologen führte, begann mit dem Streit um „angeboren–erworben“ (engl. „nature–nurture“; Anlage-Umwelt-Diskussion). Das bezog sich zunächst auf eine Dichotomie zwischen angeborenen (angeboren) und umwelt-beeinflußten Verhaltensweisen. Da sich aber, wie T.C. Schneirla (1902–1968) betonte, jedes Verhalten „epigenetisch“ in Interaktion mit der Umwelt entwickelt, fragte man bald richtiger nach dem relativen Einfluß genetischer und anderer Einflüsse auf das fertige Verhalten. Auch das klassische Kaspar-Hauser-Experiment (Kaspar-Hauser-Versuch), in dem Tiere aufwachsen, ohne bestimmte Erfahrungen sammeln zu können, zeigt nicht, daß Verhalten sich ohne Umwelteinflüsse entwickelt, sondern unter welchen Bedingungen es sich immer noch normal entwickeln kann. Lorenz selbst unterschied schließlich zwischen angeborener und erworbener Angepaßtheit des Verhaltens. Die Evolution in der Generationenfolge sondert ja, ebenso wie das assoziative Lernen im Laufe eines Lebens, aus einer Vielzahl von (Verhaltens-)Varianten einige günstige aus. Beides führt schließlich zu angepaßtem Verhalten. Also scheint selbst beim Lernen ein „angeborener Schulmeister“ (Lorenz) dafür zu sorgen, daß jeweils das „biologisch richtige“, nämlich unter natürlichen Bedingungen adaptive Verhalten gelernt wird. Solche Dispositionen lassen sich auch aus neueren Befunden der Lerntheorie ableiten; unbeantwortet aber ist die Frage, wie sie zustandekommen. Wie kompliziert das Wechselspiel zwischen angeborenen Prädispositionen und Umgebungseinflüssen sein kann, belegen heute am besten die umfangreichen Untersuchungen (etwa von P. Marler und F. Nottebohm) zur Entwicklung des Vogel-Gesangs (Bioakustik). Wie komplex ein angeborenes soziales Kommunikationssystem (Kommunikation) sein kann, zeigte Karl von Frisch (1886–1982) mit seiner Entschlüsselung der sog. Bienensprache.
Eine spezielle Form des Lernens, die schon Douglas Spalding (1840–1875) experimentell untersucht hatte, ist die Prägung. Sie ist auf eine kurze Jugendphase begrenzt, ist oft irreversibel, erfolgt rasch und ohne bekräftigende Belohnungen; sie beeinflußt die späteren sozialen und sexuellen Präferenzen, zuweilen auch die Wahl von Wohnort oder Nahrung, ermöglicht (nach P.P.G. Bateson) dem Individuum das Erkennen seiner engeren Verwandten und beleuchtet eindrücklich die möglichen Spätfolgen früher Erfahrungen.
Zur Idee der Schlüsselreize und der dazu passenden Auslösemechanismen, die auf Jakob von Uexküll (1864–1944) zurückgeht, haben neurophysiologische Untersuchungen an Sinnesorganen und am Zentralnervensystem inzwischen gezeigt, daß es sowohl angeborene als auch durch Erfahrungen entstandene Spezifitäten von Reizfiltern gibt. Auch hier ist die Frage offen, auf welchen Wegen schließlich ein adaptives, von der Selektion bevorteiltes Zusammenspiel erreicht wird.
Das Konzept der handlungsspezifischen Energie als einer eigenständigen, das Verhalten steuernden Instanz sollte – anstelle der vagen Begriffe Trieb, Stimmung, Motivation – die inneren Ursachen für Verhalten und für die auch ohne erkennbaren äußeren Anlaß wechselnden Handlungs-Bereitschaf en der Tiere erklären helfen. Zu diesem Konzept paßten neurophysiologische Befunde von Erich von Holst (1908–1962), denen zufolge Lebewesen bestimmte Bewegungsmuster spontan aktivieren, statt wie Reflex-Maschinen auf Anstöße aus der Umwelt warten zu müssen. Das deutete auf elektrische Vorgänge im Nervensystem als mögliche Quelle aktionsspezifischer Energie. Bald aber zeigten Untersuchungen (z.B. von Robert A. Hinde), daß zahlreiche allgemeine und spezifische innere Ursachen und viele nervöse und hormonelle Faktoren ein gegebenes Verhalten bestimmen können, was einen einfachen handlungsspezifischen Antrieb ausschließt.
Bestehen blieb die Erkenntnis, daß es erblich verankerte, stammesgeschichtlich an die jeweiligen Lebensbedingungen der Arten angepaßte und mithin artspezifische Verhaltensweisen gibt, die sich objektiv analysieren lassen. Das klassische Instinktmodell, von Niko Tinbergen und Gerard Baerends zu einer Hierarchie der Instinkte ausgebaut ( Bereitschaft I
Bereitschaft II
), war dennoch im Detail nicht haltbar. Doch ist bislang noch kein neues Modell an seine Stelle getreten. Ungeklärt sind Phänomene wie die unterschiedliche Ansprechbereitschaft auf eine konstante äußere Situation, die Leerlaufhandlungen ohne adäquaten äußeren Reiz, die von Adriaan Kortlandt 1940 beschriebenen Übersprunghandlungen (Übersprungverhalten) in Konfliktsituationen (Konfliktverhalten) und das Zusammenwirken unvereinbarer Verhaltensintentionen; sie bleiben eine Herausforderung für ein neues Motivations-Konzept (Motivation).
Krönung dieser Forschungsphase war die Verleihung des Nobelpreises für Physiologie oder Medizin im Jahre 1973 an Karl von Frisch, Konrad Lorenz und Nikolaas Tinbergen für ihre Entdeckungen zur Organisation und Auslösung individueller und sozialer Verhaltensweisen. Aus der klassischen Ethologie, die für die gesamte Zoologie zuständig war, erwuchsen die spezialisierten Bereiche der Humanethologie (Irenäus Eibl-Eibesfeldt) und der Kulturethologie (Otto Koenig).
Verhaltensökologie
Neben den homologen Ähnlichkeiten, die auf gemeinsamer Abstammung beruhen, gibt es konvergente (Konvergenz) Ähnlichkeiten, die verwandtschaftsunabhängig durch parallele Anpassung entstanden. Zum Beispiel haben sich verschiedene Vogelarten, die in Trockengebieten leben, auf das Tautropfen-Trinken von Blattoberflächen spezialisiert; und Fische aus unterschiedlichen Fischfamilien, die auf ein Leben am Gewässerboden spezialisiert sind, haben viele Körperbau- und Verhaltensmerkmale konvergent entwickelt. Solche parallel entstandenen Übereinstimmungen sind wichtig für das Verstehen der Funktionsprinzipien, die ganz allgemein den ökologischen Anpassungen zugrundeliegen. Deshalb hat seit 1959 Wolfgang Wickler in der Ethologie die Konvergenzforschung neben die Homologieforschung gestellt.
Vor allem auf Niko Tinbergen geht das nachdrückliche Bemühen zurück, den zunächst als selbstverständlich hingenommenen Anpassungswert der Verhaltensweisen zu überprüfen. Diese Forschungsrichtung heißt heute Verhaltensökologie („Behavioural Ecology“). Modernste nicht-invasive Methoden erlauben an freilebenden Tieren sowohl Hormonbestimmungen wie auch den individuellen Fortpflanzungserfolg zu quantifizieren. Das erfordert aufwendige langfristige Feldforschung. Ein bekanntes Zentrum dafür ist das Max-Planck-Institut für Verhaltensphysiologie in Seewiesen, von dem aus intensive Feldforschung betrieben wird, und zwar getreu der Konvergenz-Frage an möglichst verschiedenen Arten (von Spinnen bis Menschenaffen), die übereinstimmende soziale Phänomene aufweisen, seien es Monogamie, Brutpflegehelfer, Weibchen-Dominanz oder Werkzeuggebrauch.
In der Verhaltensökologie ist wieder die ursprüngliche Frage akut geworden, wie die Evolution adaptiven Verhaltens mit Hilfe der natürlichen Selektion vor sich geht. Die Evolution spielt sich an den Programmen ab, die das Verhalten steuern. Einen Selektionsvorteil haben diejenigen Verhaltensprogramme, die dem Individuum mehr neue Träger dieser Programme erzeugen helfen. Dem dient oft eine Kooperation auf Gegenseitigkeit, sei es zwischen Arten, Sozialpartnern oder zwischen den Geschlechtern bei der Fortpflanzung. Aber auch einseitige Aufwendungen für andere Individuen (sog. Altruismus) sind selektionsbegünstigt, wenn der Nutzen die Kosten überwiegt (Kosten-Nutzen-Analyse). Dazu müssen die Programme im Empfänger der Hilfe mehr Fortpflanzungs-Chance gewinnen als sie im Spender der Hilfe einbüßen. Also müssen dieselben Programme in beiden stecken. Das kommt zustande durch gemeinsame Abstammung. Der Grad der genetischen Verwandtschaft zwischen zwei Individuen gibt an, wie wahrscheinlich sie ein bestimmtes genetisches Programm gemeinsam haben. Und die Bereitschaft zu einseitiger Hilfe sollte demgemäß ganz allgemein mit dem Verwandtschaftsgrad korrelieren. Diese Idee der Verwandtenselektion (Kin-Selektion; Sippenselektion) von William D. Hamilton (1936–2000) revolutionierte das Verständnis vom Sozialverhalten.
Die klassische Verhaltensforschung betrachtete Anpassungen als einfache Optimierungsvorgänge, bei denen die selektionswirksamen Konsequenzen eines Verhaltens (etwa der Fortbewegung) nicht vom Verhalten anderer Individuen abhängen. In sozialen Interaktionen aber hängt das, was ein Individuum zu seinem Vorteil tun kann, auch davon ab, was die anderen tun. So sind unter Kommentkämpfern (Kommentkampf) nur die ersten Beschädigungskämpfer (Beschädigungskampf) im Vorteil; der aber schwindet mit ihrer wachsenden Zahl, denn mit ihr wächst die Wahrscheinlichkeit, daß sie auf ihresgleichen treffen, und damit wächst das Kampfrisiko. Neben Männchen, die aufwendig balzen (Balz), können andere kostensparend als „Satelliten“ die angelockten Weibchen abfangen. Wo Tiere mit der Aufzucht einer großen Brut überfordert sind, können einzelne Jungtiere als „Helfer am Nest“ (Bruthelfer) ihrer Eltern genetische Geschwister vor dem Verhungern retten; je mehr Junge sich aber dazu anbieten, desto weniger erreicht der einzelne. In diesen Fällen nimmt mit zunehmender Verbreitung einer der Alternativ-Taktiken ihr Nutzen/Kosten-Quotient ab; der Selektionsvorteil ändert sich mit der relativen Häufigkeit, mit der dieses Merkmal auftritt. Man spricht deshalb von frequenzabhängiger Selektion. Zu ihrer theoretischen Behandlung braucht man die Spieltheorie, einen Zweig der angewandten Mathematik, gegründet 1944 in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften durch John von Neumann und O. Morgenstern. Die Spieltheorie ist heute ein wichtiges heuristisches Instrument zur Erforschung tierischen Sozialverhaltens.
Alternative Taktiken – wie z.B. Komment- und Beschädigungskampf – können, wenn sie in einer bestimmten relativen Häufigkeitsverteilung auftreten, im Mittel gleich erfolgreich sein. Damit hat keine mehr einen Selektionsvorteil gegenüber der anderen; diese Häufigkeitsverteilung heißt deshalb seit John Maynard Smith (1982) eine evolutionsstabile Strategie (ESS; evolutionär stabile Strategie). Spieltheoretisch entspricht sie einem Nash-Gleichgewicht; das ist eine Kombination von Strategien, die ihrem Anwender maximalen Vorteil liefert, falls die anderen Individuen sie ebenfalls anwenden.
Ein evolutionsbiologisches Konzept, mit dem das Verständnis der Gesetzmäßigkeiten des (vorrangig sozialen) Verhaltens aller Lebewesen angestrebt wird, bietet die Soziobiologie an.
Sie wurde 1948 von amerikan. Ethologen gegründet, kam aber erst 1975 durch Edward O. Wilson zum Erfolg. Sie kann, in Verbindung mit der Spieltheorie, auch solche Verhaltensphänomene erklären, die früher als nicht-adaptives Fehlverhalten angesehen wurden. Wie Robert Trivers aufzeigte, gehören dazu die unvermeidbaren Konflikte zwischen Eltern und Nachkommen (Entwöhnungskonflikt, Infantizid).
Charles D. Lumsden und Wilson heben hervor, daß durch soziales Lernen vom Vorbild nicht-genetische Verhaltensprogramme über Generationen weitergegeben werden, meinen aber, ein solcher epigenetischer Vorgang würde letztlich doch vom Genom gesteuert. Demgegenüber betont vor allem Richard Dawkins, daß von Hirn zu Hirn übermittelte (tradierte) Programme ein evolutives Eigenleben führen. Obwohl sie natürlich sensorische und neurale Funktionen benötigen, sind sie keineswegs immer für die genetische Evolution förderlich, sondern können ihren Trägern auch Verhaltensweisen nahelegen, welche die Ausbreitung der Gene dieser Träger hemmen. Bekannte Beispiele am Menschen sind Zölibat oder Selbsttötung aus Gewissensgründen. Solche kulturellen Verhaltens-Programme sind „Emergenzen“, die aus den biologisch vorgegebenen Strukturen und Funktionen hervorgehen, aber eigene Qualitäten besitzen. Die (im einzelnen zu definierenden) Kenntnis-Einheiten, die tradiert werden, nennt Dawkins „Meme“, in Parallele zu den Genen als somatischen Erbträgern. Meme wie Gene sind „Replikatoren“, die vervielfältigt und weitergegeben werden. Sie erfahren dabei leichte Abwandlungen (Mutationen), welche sich funktionell unterschiedlich bewähren und somit einer Selektion unterliegen.
Unter dieser biologischen wie kulturellen Selektion ergeben sich Kooperationen und Konflikte nicht nur zwischen Memen wie zwischen Genen, sondern auch zwischen Memen und Genen. Für den Menschen bedeutsame Mem-Gen-Coevolutionen hat William Durham (1991) ausführlich behandelt. So hat in Gegenden mit Nahrungs- und Vitaminmangel die auf langer Tradition beruhende Milchviehhaltung die Ausbreitung derjenigen Gene begünstigt, die lebenslang eine Milchzucker-Verdauung erlauben; bei der Mehrzahl aller Menschen wird sie am Ende der Säuglingszeit abgeschaltet, und dann führt weiterer Milchgenuß zu schweren Verdauungsstörungen.
Beispiele aus dem Tierreich liefern die Gesangstraditionen vieler Singvögel, bei denen es häufig zu lokalen Dialekten kommt. Wenn sich dann Sänger verschiedener Dialekte schwerer verständigen, können so Paarungshindernisse entstehen und damit die Gene ins Schlepptau von Traditionen geraten (Wickler 1986).
Das durch Tradition Überlieferte heißt beim Menschen „Kultur“, bei Tieren zuweilen „Proto-Kultur“. Affen und speziell Menschenaffen lernen durch Überlieferung Art und Zubereitung von Nahrungsmitteln und im Zusammenhang damit oft den Gebrauch von Werkzeugen (Werkzeuggebrauch). Deutliche Hinweise auf derartige Überlieferungen sind populationsverschiedene Verhaltensweisen, etwa bei der Nahrungswahl, der Nahrungszubereitung, bei Schimpansen auch in der sozialen Körperpflege. Das erfinderische Lösen von Problemen und das Lernen von einem Vorbild durch Beobachten und Imitieren hat Richard Byrne (1991) unter dem Gesichtspunkt der Vorstufen menschlicher Intelligenz analysiert. Daß Tiere unbenannte Begriffe bilden können (Begriffsbildung), hat schon Otto Koehler (1889–1974) nachgewiesen. Mit menschlicher Anleitung schließlich beweisen nicht nur Menschenaffen, sondern auch einige Vögel (Papageien, Raben) weitere kognitive Fähigkeiten, von denen sie – soweit bekannt – im normalen Leben keinen Gebrauch machen. Eine der vordringlichen zukünftigen Aufgaben wird es deshalb sein, mit Hilfe gezielter Feldforschung zu ergründen, unter welchen Selektionsdrücken und in welchen Funktionszusammenhängen solche Leistungen des Zentralnervensystems (Gehirn, Telencephalon) möglich wurden. Ethologie.
Lit.:Bateson, P.P.G., Klopfer, P.H.: Whither ethology? New York/London 1989. Byrne, R.: The thinking ape. Oxford 1995. Dawkins, R.: The extended phenotype. Oxford 1982. Durham, W.H.: Coevolution. Stanford, Calif. 1991. Eibl-Eibesfeldt, I.: Die Biologie des menschlichen Verhaltens. Grundriss der Humanethologie. München 41997. Heinroth, K.: Oskar Heinroth, Vater der Verhaltensforschung. Stuttgart 1971. Hess, E.H.: Prägung. München 1973. Koenig, O.: Kultur und Verhaltensforschung. München 1970. Krebs, J.R., Davies, N.B.: Behavioural ecology. An evolutionary approach. Oxford/London 1997. Lorenz, K.: Über tierisches und menschliches Verhalten. München, 1965. Lorenz, K.: Vergleichende Verhaltensforschung. Wien/New York 1987. Lumsden, C.J., Wilson, E.O.: Genes, mind and culture. Cambridge, Mass. 1981. McFarland, D.: Biologie des Verhaltens. Weinheim 1989. Trivers, R.: Social evolution. Menlo Park (Calif.) 1985. Wickler, W.: Die ökologische Anpassung als ethologisches Problem. Naturwiss. 46, 505–509, 1959. Wickler, W.: Vergleichende Verhaltensforschung und Phylogenetik. S. 420–508 in: Die Evolution der Organismen (G. Heberer, Hrsg.). Bd. I. Stuttgart 31967. Wickler, W.: Dialekte im Tierreich. Münster 1986. Wickler, W.,Seibt, U.: Das Prinzip Eigennutz. München/Zürich 21991. Wilson, E.O.: Sociobiology. Cambridge (Mass.) 1975.
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