Lexikon der Biologie: Mundwerkzeuge
Mundwerkzeuge, Mundteile, Mundgliedmaßen, Freßwerkzeuge, bei Gliederfüßern am Kopf, oft auch an folgenden Rumpfsegmenten sitzende (dann Kieferfüße, Maxillipeden oder Gnathopoden genannt), in Anpassung an die Art des Nahrungserwerbs umgebildete Extremitäten. Diese Anpassung erfolgte bei den einzelnen Gliederfüßergruppen in unterschiedlicher Weise. Dennoch lassen sich die Abwandlungen gut homologisieren (Gliederfüßer; Homologie ). So haben die Trilobiten die alte ventrale Nahrungsrinne zwischen den Coxen aller nicht modifizierten Extremitäten. Lediglich die des 1. Kopfsegments (Prosocephalon) sind zum unpaaren Labrum (Oberlippe) verschmolzen, wie es für alle Gliederfüßer typisch ist. Vorderer Kopfbereich und Labrum bilden gewissermaßen ein Epistom. Spinnentiere ( vgl. Abb. 1/1 ) haben die Extremität des Tritocephalons in Anpassung an eine räuberische Lebensweise zu einer stechend-beißenden Chelicere modifiziert. Bei Skorpionen und Pseudoskorpionen sind außerdem die Pedipalpen zu großen Scheren umgewandelt. Krebstiere ( vgl. Abb. 1/2 ) haben wie alle Mandibulata die Extremität des 4. Kopfsegments zur Mandibel (Oberkiefer) umgebildet, die primär monocondyl ist. Sie ist eine Beiß- und Kaumandibel und dient der Zerkleinerung fester Nahrung. Ihr folgen nach hinten 1. und 2. Maxillen (Unterkiefer), die oft zusammen mit weiteren Thoraxextremitäten (Thorakopoden; Thorax) als Mundwerkzeuge fungieren können. Hierbei werden teilweise mächtige Scheren (Chela) ausgebildet. So ist die Schere des Flußkrebses oder Hummers eine Bildung des 4. Thorakopoden (= 1. Pereiopode; Krebstiere, Pereion). Bei Tausendfüßern ist die Mandibel meist gegliedert und hat keinerlei Anhänge (etwa Palpus; Palpen). Die 2. Maxillen zeigen die Tendenz zur Verwachsung zu einem Labium (Unterlippe). Bei Doppelfüßern ( vgl. Abb. 1/3 ) wird eine solche Unterlippe durch totale Verwachsung der 1. Maxillen (Gnathochilarium) gebildet, da die 2. Maxillen vollständig reduziert sind bzw. teilweise in das Gnathochilarium integriert sind. Hundertfüßer ( vgl. Abb. 1/4 ) haben als Räuber die 1. Rumpfextremität zu einer Giftklaue(Chilopodium) umgebildet, die analog zur Chelicere der Spinnentiere arbeitet. Die vielfältigsten Ausprägungen und Umbildungen zu spezialisierten Mundwerkzeugen finden sich bei Insekten. Der beißend-kauende Grundtyp (s.u.) entspricht dem Bau, wie er bei Insekten dargestellt ist: unpaares Labrum, dessen membranöse Innenseite Epipharynx genannt wird; ein Paar Mandibeln, die primär monocondyl (Monocondylia), sekundär und bei der Mehrzahl aller Insekten dicondyl (Dicondylia) am Kopf befestigt sind. Erst dadurch ist ein kräftiges Zubeißen und Zerkauen der Nahrung möglich. Bei Pflanzenfressern hat die Mandibel auf ihrer basalen Innenfläche oft eine Kauplatte (Mola), die für die Zerkleinerung der Nahrung gerippt oder fein gezähnelt sein kann. Als Incisivi bezeichnet man Zähne an der Mandibelspitze. Zwischen Incisivi und Mola befindet sich gelegentlich ein beweglicher Fortsatz (Lacinia mobilis, bei vielen Käferlarven und unter den Krebstieren bei den Peracarida). Die 1. Maxillen bestehen aus einem Basalstück, dem distal ein 3–4gliedriger Maxillentaster (Maxillarpalpus, Kiefertaster, Palpus maxillaris) und 2 Kauladen (= Endite), die Innenlade (Lacinia) und die Außenlade (Galea), ansitzen. Das Basalstück (= Coxopodit) besteht aus dem basalen Cardo (Angelglied) und dem distalen Stipes (Stammstück, Haftglied), der oft zweigeteilt ist in einen den Palpus tragenden Palpifer und den eigentlichen Stipes. Die 2. Maxillen sind immer zum unpaaren Labium verwachsen. Ihr Grundbau entspricht der Maxille, die Benennungen sind jedoch verschieden: basales Postmentum (
Cardo), distales Praementum (
Stipes), an dem rechts und links jeweils ein Lippentaster (Labialpalpe, Labialtaster, Palpus labialis) und median innen jeweils eine Glossa (Zunge
Lacinia) und eine Paraglossa (
Galea) inserieren. Das Postmentum ist häufig in ein basales Submentum und ein distales Mentum (Kinn) unterteilt. Das Praementum hat oft eine weitere Abgliederung, die den Palpus trägt, den Palpiger. Glossa und Paraglossa verschmelzen gelegentlich zu einem unpaaren Gebilde, der Ligula. Die Innenseite des Labiums wird Hypopharynx genannt. Er unterteilt den Mundvorraum in eine dorsale Mundhöhle (Cibarium) mit der eigentlichen Mundöffnung und eine ventrale Höhlung (Salivarium), in welche die Speicheldrüse mündet. Zur Erschließung der vielfältigen Nahrungsressourcen haben die verschiedenen Insektengruppen diesen sog. orthopteroiden Grundtyp der beißend-kauenden Mundwerkzeuge abgewandelt. Funktionell kann man die Typen der Mundwerkzeuge in verschiedener Weise einteilen: in entognathe und ektognathe Mundwerkzeuge (Entognatha, Ectognatha). Nach der Lage der Mundwerkzeuge und der damit korrelierten Kopfstellung spricht man von 1) prognathen Mundwerkzeugen: Mundwerkzeuge nach vorn gerichtet (meist bei Räubern), 2) orthognathen Mundwerkzeugen: nach ventral gerichtet (bei Pflanzenfressern), 3) hypognathen Mundwerkzeugen: nach unten hinten gerichtet (bei Pflanzensaftsaugern), 4) hypergnathen Mundwerkzeugen: nach vorne oben gerichtet (bei räuberischen Larven der Wasserkäfer). – Unterteilung in Funktionstypen: 1) beißend-kauende Mundwerkzeuge, 2) leckend-saugende Mundwerkzeuge, 3) stechend-saugende Mundwerkzeuge. In Anpassung an diese sehr unterschiedlichen Ernährungsweisen wurden die Mundwerkzeuge immer wieder konvergent und in unterschiedlicher Weise umgewandelt. Beißend-kauende Typen finden sich bei den meisten ursprünglichen Vertretern. Leckend-saugende oder nur saugende Mundwerkzeuge sind vor allem bei Schmetterlingen ( vgl. Abb. 2/3 und 2/5g) in Form eines aus 2 Halbröhren (Galeae) zusammengesetzten Saugrohrs, bei Bienen ( vgl. Abb. 2/2 und 2/5f) in Form eines aus einem komplizierten Labiomaxillarkomplex bestehenden Rüssels (Saugrüssel), bei Zweiflüglern in Form eines Tupfrüssels, bestehend aus einem rinnenförmigen Labrum, dem verlängerten Hypopharynx und vor allem den mit saugfähigen Pseudotracheen besetzten Spitzen der Labialtaster (Haustellum), vorhanden. Selten finden sich leckend-saugende Mundwerkzeuge auch bei Käfern: bei den Ölkäfern der Gattungen Leptopalpus (Saugrohr aus den beiden Maxillarpalpen) und Nemognatha (Saugrohr aus den beiden Galeae, Käferblütigkeit). Solche Mundwerkzeuge dienen der Aufnahme flüssiger Nahrung, z.B. Nektar. Stechend-saugende Mundwerkzeuge sind bei vielen blutsaugenden Insekten (Blutsauger) verbreitet. Stechmücken ( vgl. Abb. 2/4 und 2/5b) und Bremsen ( vgl. Abb. 2/5c ) haben einen Rüssel aus 6 Stechborsten. Flöhe ( vgl. Abb. 2/5e ) besitzen stechborstenartige paarige Laciniae und den Epipharynx. Die Schnabelkerfe bilden ihren Rüssel aus den das Nahrungsrohr umschließenden Laciniae, den Mandibeln, die in der Ruhe zusammen im unpaaren Labium eingelegt werden. Stechend-saugende Rüssel gibt es vereinzelt auch bei tropischen Nachtfaltern, die Früchte anstechen, Blut oder Augenwasser aufsaugen. Unter den Käfern haben die Larven der Schwimmkäfer und der Weichkäferartigen (Weichkäfer) eine dolchförmige Saugmandibel (Saugzangen), die wie eine Injektionskanüle zum Aussaugen ihrer Beute eingesetzt wird. Die Larven der Netzflügler besitzen ebenfalls eine Saugmandibel, deren Saugkanal aber durch Unterlegen der Maxille entstanden ist. Rüsselbildung kann auch nur durch Verlängerung des Vorderkopfes entstehen. Hierbei werden die Mundwerkzeuge entweder vollständig an die Spitze dieses Rüssels verlagert (Rüsselkäfer) oder bei dieser Kopfverlängerung mit verlängert (Schnabelfliegen). Außer zur Nahrungsaufnahme oder -zerkleinerung können Mundwerkzeuge auch zum Graben oder Gänge-Anlegen im Substrat (Bohrgänge, Erdtunnel) eingesetzt werden. Zahlreiche Käfer haben hierfür Grabmandibeln (Kopfkäfer; Laufkäfer). Viele Bienen und Wespen legen im Boden senkrechte Brutröhren an, die sie meist mit den Mandibeln ausgraben. Besonders bei im Boden grabenden Käferlarven findet dabei eine Verschmelzung von Labrum und Clypeus (Clipeus, Kopfschild) zu einem Clypeolabrum statt, das oft Schiebezähne aufweist. Andererseits kann der Clypeus zweigeteilt sein in einen hinteren Postclypeus und einen vorderen Anteclypeus (Clypeolus, Clipeolus), z.B. bei den Schnabelkerfen. Anheftungsorgane, Cephalisation, Fabricius (J.C.), Gliederfüßer (Tab.), Tentorium, Verdauung; Verdauung II.
H.P.
Mundwerkzeuge
Abb. 1:
Mundwerkzeuge 1 einer Spinne (Bauchseite), 2 des Flußkrebses (linke Mundwerkzeuge), 3 eines Doppelfüßers, 4 der Hundertfüßer
Mundwerkzeuge
Abb. 2:
1 Kauende Mundwerkzeuge einer Schabe; 2 leckend-saugende Mundwerkzeuge der Honigbiene; 3 saugende Mundwerkzeuge eines Schmetterlings; 4 stechend-saugende Mundwerkzeuge einer Stechmücke. 5 Querschnitte durch saugende und stechend-saugende Mundwerkzeuge (Rüssel) bei Insekten: a Wanze; b Stechmücke (6 Stechborsten: 1 Labrum, 2 Mandibeln, 2 Laciniae, 1 Hypopharynx); c Bremse (wie bei b, aber Nahrungsrohr von Labrum und Mandibel gebildet); d Stubenfliege (Nahrungsrohr vom Hypopharynx abgeschlossen, Mandibeln fehlend); e Floh (Mandibeln fehlend); f Honigbiene; g Schmetterling.
An Antennen, Ep Epipharynx, Ga Galea (Außenlade), Gl Glossa („Zunge“), Ha Haustellum, Hy Hypopharynx, Ko Komplexauge (Facettenauge), La Labium (Unterlippe), Lb Labrum (Oberlippe), Lc Lacinia (Innenlade), Lp Labialpalpus (Lippentaster), Ma Mandibel (Oberkiefer), Mp Maxillarpalpus (Kiefertaster), Mx Maxille (Unterkiefer), Na Nahrungsrohr, Pt Pseudotrachee, Sg Speichelgang.
Mundwerkzeuge
Abb. 3:
REM-Aufnahmen von Mundwerkzeugen 1 einer Zecke, 2 einer Raubmilbe
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