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Star-Bugs – die kleine-Tiere-Kolumne: Das unerwartete Gift des Bücherskorpions

Er lebt in Bibliotheken, jagt Staubläuse und liefert einen giftigen Cocktail, der die moderne Biotechnologie voranbringen könnte: Der winzige Bücherskorpion ist ein unscheinbares Spinnentier mit vielen Talenten – und gigantischen Scheren.
Ein pinkfarbener Bücherskorpion sitzt auf bemooster Rinde. Er hat acht Beine, zwei große Scheren und einen gestreiften Hinterleib. Der Kopf ist etwas dunkler als der restliche Körper.
Der bräunliche Hinterkörper des Bücherskorpions trägt zahlreiche dunkle Querstreifen. Körper und Extremitäten sind mit hellen Borsten besetzt.

Zwei mächtige Scheren werfen diffuse Schatten im Dämmerlicht. Eine ahnungslose Staublaus krabbelt das Bücherregal entlang. Sekunden später zappelt das Insekt in den borstigen Zangen des Jägers, der sich mit der Beute in einen schmalen Spalt zwischen einem alten Lexikon und einem historischen Bildband zurückzieht.

Was klingt wie eine Szene aus einem düsteren Horrorfilm, findet tagtäglich in unserer Umgebung statt – zumindest in Bibliotheken und Archiven. Denn so jagt der Bücherskorpion (Chelifer cancroides).

Bei uns zu Hause werden wir diese dramatische Szene allerdings nur selten beobachten können. Der Bücherskorpion ist mit rund vier Millimetern recht klein. Das auffälligste Merkmal sind die rotbraunen Scheren, die im Vergleich zum restlichen Körper riesig scheinen. Es handelt sich um vergrößerte Mundwerkzeuge, so genannte Pedipalpen. Kleinere Scheren verstecken sich im Mundbereich. Mit bloßem Auge sind die jedoch kaum zu sehen.

Die acht hellbraunen Beine verraten: Der Bücherskorpion ist ein Arachnide, ein Spinnentier. Gemeinsam mit seiner scherenbewehrten Verwandtschaft ist er Teil der artenreichen Gruppe der Pseudoskorpione (Pseudoscorpiones). Allein in Mitteleuropa sind mehr als 100 Arten bekannt. »Pseudoskorpione gehören zu den ältesten Landbewohnern«, sagt Christoph Hörweg. Es gebe fossile Funde, die 390 Millionen Jahre alt seien. Erst vor 500 Millionen Jahren kamen überhaupt Arthropoden an Land.

Ein bräunlicher Pseudoskorpion mit großen Scheren sitzt auf hellem Holz, teils verdeckt durch vertrocknete Pflanzenfasern.
Pseudoskorpione | Pseudoskorpione leben im Verborgenen. Gern verstecken sie sich in engen Spalten und Ritzen oder dort, wo Heu und Stroh gelagert werden. Dort jagen sie ihre Beute, kleine Insekten und Spinnentiere.

Hörweg ist am Naturhistorischen Museum Wien Kurator für die Spinnentiere. Der Namensteil »Pseudo« verrate, dass diese Tiere keine echten Skorpione (Scorpiones) seien, sagt er. Pseudoskorpionen fehlt der gegliederte Schwanz, der bei Skorpionen häufig nach oben gebogen über den Körper ragt und am Ende den Giftstachel trägt. Der Hinterkörper der Pseudoskorpione ist rundlich abgeflacht und erinnert eher an den einer Milbe oder Zecke.

Ein Urzeitviech auf Reisen – mit dem Insektentaxi

Um sie zu beobachten, muss man – nicht nur wegen ihrer Winzigkeit – ganz genau hinschauen. Die Tiere leben zurückgezogen und verborgen in Laubstreu, Spalten und Ritzen. Ihr flacher Körper ist daran perfekt angepasst. Die meisten Arten sind häufig und weit verbreitet. »Selbst in den Alpen in 2900 Meter Höhe kann man Pseudoskorpione finden«, weiß Christoph Hörweg.

Um neue Lebensräume zu besiedeln, nutzen die Spinnentiere einen Trick. Denn auch wenn sie flink sind: Für winzige Tiere ist es schwierig, große Strecken aus eigener Kraft zurückzulegen. »Pseudoskorpione nutzen Insekten als Taxi«, sagt Hörweg, etwa Fliegen oder Käfer. Mache sich beispielsweise ein Bockkäfer (Cerambycidae) auf zu einem abgestorbenen Baum, klammert sich das Spinnentier an Beine oder Deckflügel und fliegt einfach mit. So erreicht es neue Jagdgründe ebenso wie potenzielle Partner.

An den Mundwerkzeugen haben Bücherskorpione Spinndrüsen. Sie fertigen aber keine auffälligen Netzkunstwerke an wie etwa die Radnetzspinnen (Araneidae). Ihre feinen Gespinste schützen vielmehr den Nachwuchs, der sich innerhalb weniger Wochen und nach drei Häutungen vom Ei zum ausgewachsenen Spinnentier entwickelt. Außerdem überwintern Bücherskorpione in den Gespinsten; Pseudoskorpione können bis zu drei Jahre alt werden.

Der Bücherskorpion als Bienenhelfer?

Im 20. Jahrhundert diskutierten Forschende die Idee, ob Bücherskorpione gezielt in Bienenstöcken eingesetzt werden könnten, um die Varroamilbe (Varroa destructor) zu bekämpfen. Diese Milbenart schädigt als Parasit die Brut der Honigbiene (Apis mellifera) und kann Völker erheblich dezimieren.

Hintergrund dieser Idee war, dass Imker in ihren Bienenbeuten hin und wieder Bücherskorpione entdeckten. Der österreichische Zoologe Max Beier veröffentlichte 1951 einen Aufsatz mit dem Titel »Der Bücherskorpion, ein willkommener Gast der Bienenvölker«, fokussierte sich hier allerdings auf die unter Imkern ebenfalls gefürchteten Raupen der Wachsmotten (Galleriinae). Zudem vermutete er, dass Bücherskorpione Honigbienen als Insektentaxi nutzen.

Die These, dass Bücherskorpione gezielt Bienenstöcke aufsuchen, ließ sich nicht halten. Vielmehr sind sie Generalisten, die trockene, dunkle Lebensräume bewohnen und sich deshalb eher zufällig in eine Bienenbeute verirren.

Ungefährlich für den Menschen

Pseudoskorpione sind Jäger, und so auch der Bücherskorpion. In freier Natur lauert er unter der Rinde von Kiefern und Platanen oder in Vogelnestern Springschwänzen, Staubläusen und Milben auf. Verschlägt es ihn in Wohnungen und Häuser, jagt er aber ebenso Bettwanzen (Cimex lectularius) und Bücherläuse. Vor allem Letztere findet er häufig in Bibliotheken, Archiven und Museen. Und dort zwischen, in und auf Exponaten und Büchern. Daher hat der Bücherskorpion seinen deutschen Namen.

Seine Beute erlegt der Jäger mit Hilfe seines Gifts. Mit den zangenartigen Scheren greift er eine Staublaus oder Bettwanze und bohrt dabei mikroskopisch kleine Löcher in die Hüllen des Insekts. Durch die injiziert das Spinnentier einen giftigen Cocktail, der die Beute betäubt. In aller Ruhe kann der Bücherskorpion dann das Innere des gefangenen Insekts aussaugen.

Menschen sind vor dem Gift der Spinnentiere sicher. Bücherskorpione sind viel zu klein und die Zangen zu schwach, um menschliche Haut zu durchdringen. Seit einigen Jahren interessiert sich die Wissenschaft jedoch für das Gift des Bücherskorpions, um es für den Menschen zu nutzen. Tim Lüddecke leitet die Nachwuchsgruppe Animal Venomics am Fraunhofer Institut für Molekularbiologie und Angewandte Ökologie in Gießen. Eigentlich arbeitet der Biologe hauptsächlich mit Schlangen und Spinnen. Aber mit Lüddeckes Mitarbeiter Jonas Krämer kamen die Bücherskorpione aus Köln nach Gießen.

»Wir wissen kaum etwas über die Gifte der riesigen Gruppe von Pseudoskorpionen«, sagt Lüddecke. Dabei gebe es weltweit mehr als 3000 Arten und nur wenige würden erforscht. Der Biologe ist sicher: »Die Wahrscheinlichkeit, in unerforschten Tiergruppen etwas fundamental Neues zu finden, ist groß.«

Um eine Substanz analysieren zu können, benötigt man einige Tropfen davon. Pseudoskorpione jedoch sind nur wenige Millimeter groß, ihr Gift ist entsprechend spärlich. Um dennoch ausreichend Volumen für Messungen zu erhalten, sammelten die Forschenden das Gift von hunderten Tieren.

Ein rötlichbrauner Bücherskorpion mit großen Scheren sitzt auf einer Buchseite, auf der einzelne Buchstaben erkennbar sind.
Bücherskorpion im natürlichen Lebensraum Buch | Pseudoskorpione wie der Bücherskorpion sind nur wenige Millimeter groß. Das auffälligste Merkmal sind ihre im Vergleich zum Körper gigantischen Scheren. Sie kommen häufig in Bibliotheken vor und machen Jagd auf Bücherläuse.

Auch deshalb fiel die Wahl auf den Bücherskorpion, erinnert sich Lüddecke. Er kommt vergleichsweise häufig vor und ist leicht aufzuspüren. Die ersten Tiere beispielsweise fand Jonas Krämer auf Kölner und Bonner Heuböden. »Mittlerweile halten und züchten wir Bücherskorpione hier im Haus«, sagt der Forscher.

Die Methode, an das Gift der kleinen Spinnentiere zu gelangen, entwickelte Krämer während seiner Doktorarbeit an der Universität Köln: Die Forschenden fixieren einen Bücherskorpion zwischen zwei Glasplatten, so dass nur noch seine Scherenspitzen herausragen. Über die stülpen sie eine Kapillare, die mit einer Flüssigkeit gefüllt ist, und reizen die Pedipalpen mit kurzen Stromstößen. »Dadurch krampfen die Muskeln zusammen und das Gift wird freigesetzt«, erklärt Lüddecke.

Melken für die Wissenschaft

»Melken« nennt er diese Prozedur, bei der Bücherskorpione im Schnitt fünf Mikroliter Gift absondern. Ein Mikroliter ist ein tausendstel Milliliter. Nach dem Melken kehren die Spinnentiere in ihre Unterkunft zurück, wo sie sich erholen können. Jedes Tier kann so etliche Male Gift abgeben. Bereits 2021 hat Jonas Krämer das Gift des Pseudoskorpions analysiert und neue Verbindungen entdeckt.

»Diese Checacine ähneln Toxinen aus echten Skorpionen, die bekannt für ihre antibiotische Wirkung sind«, sagt Lüddecke. Nach etlichen Tests war klar: Auch einige der Checacine aus den Bücherskorpionen töten Bakterien – unter anderem den gefürchteten Krankenhausheim Staphylococcus aureus. In Zeiten zunehmender Resistenzen sind neue Antibiotikakandidaten natürlich hochwillkommen.

Der vielversprechendste Kandidat Checacin 1 tötet aber nicht nur krank machende Keime. Die Forschenden stellten fest, dass der potenzielle Wirkstoff in Kulturen auch menschliche Zellen schädigt. Das ist für den Einsatz als Medikament ein Dilemma. Das Team um Lüddecke arbeitet deshalb daran, den Wirkstoff mittels Bioengineering zu verbessern. Minimale Änderungen in der Abfolge der Aminosäuren oder der Struktur können die Eigenschaften einer Substanz verändern, sie zum Beispiel wirksamer oder weniger toxisch machen.

Und die Suche nach neuen Wirkstoffen beginne erst, sagt der Biologe: »Wir haben in einer Art acht Kandidaten für Antibiotika gefunden.« Blieben noch tausende weitere Pseudoskorpionspezies, die Wissenschaftler nun untersuchen könnten. Die Statistik sei auf ihrer Seite. »Die Wahrscheinlichkeit, dass wir noch bessere Substanzen finden, ist hoch.« Und doch bleibt eine Herausforderung: Die winzigen Tiere müssen erst einmal gefunden werden.

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