Lexikon der Biologie: Parvoviren
Parvoviren [von *parvo- ], Parvoviridae, Familie von sehr kleinen und außergewöhnlich stabilen DNA-Viren, die in die 2 Unterfamilien Parvovirinae (Parvoviren der Wirbeltiere) und Densovirinae (Parvoviren der Gliederfüßer) mit jeweils 3 Gattungen ( vgl. Tab. ) unterteilt werden. Die Replikation von Parvoviren erfolgt im Zellkern. Dependoviren (auch als Adeno-assoziierte Viren, Abkürzung AAV, engl. adeno-associated viruses, oder defekte Parvoviren bezeichnet) sind zur Vermehrung auf die Anwesenheit eines Helfer-Virus (Adenoviren, Herpesviren) angewiesen (Helfer-Viren). In Abwesenheit von Helfer-Virus erzeugt AAV in Zellkulturen latente Infektionen, bei denen das Virusgenom als Provirus in das Wirtszellgenom integriert, meist an einer spezifischen Stelle in Chromosom 19. Überinfektion mit Helfer-Virus führt zur Rückgewinnung (rescue) der integrierten AAV-DNA und zur Virusproduktion. Die Replikation der autonomen Parvoviren erfordert kein Helfer-Virus, ist jedoch stark abhängig von Wirtszellfaktoren, die nur während der DNA-Synthesephase (S-Phase) des Zellteilungszyklus vorhanden sind. Deshalb vermehren sich diese Parvoviren bevorzugt in schnell wachsenden Zellen und Tumorzellen (Krebs). Im Gegensatz zu anderen DNA-Viren wie Papillomviren, Polyomaviren und Adenoviren sind Parvoviren nicht in der Lage, in den infizierten Zellen die S-Phase zu induzieren. Erythroviren vermehren sich spezifisch in den Vorläuferzellen der Erythrocyten. Wegen ihrer selektiven Vermehrung in proliferierenden Zellen sind Parvoviren in der Lage, Tumorzellen abzutöten (Onkolyse) und Tumorwachstum zu hemmen (Onkosuppression). Dependoviren können die onkogenen Eigenschaften von Adeno-, Herpes- und Papillomviren hemmen. Aufgrund dieser Eigenschaften sind sowohl die autonomen als auch die Helfer-Virus-abhängigen Parvoviren höchst interessante Untersuchungsobjekte, die möglicherweise in der Zukunft als Gentransfer-Vektoren und Mittel in der Krebstherapie eingesetzt werden können. – Als Erreger der bei Kindern auftretenden Erkrankung Erythema infectiosum (Ringelröteln, englisch fifth disease) wurde das autonome Parvovirus B19 (Gattung Erythrovirus) identifiziert, das auch bei Erwachsenen verschiedene Krankheitsbilder (u.a. aplastische Krisen bei Patienten mit hämolytischer Anämie) verursacht. B19-Infektionen in der Schwangerschaft können zu schweren Mißbildungen (Fehlbildung) und zum Tod des Fetus führen. AAV-Infektionen sind beim Menschen sehr häufig, konnten bislang jedoch nicht mit bestimmten Krankheiten in Zusammenhang gebracht werden; sie erfolgen in Verbindung mit Adenovirus-Infektionen. Veterinärmedizinisch wichtige, durch autonome Parvoviren hervorgerufene Erkrankungen sind u.a. die Aleutenkrankheit der Nerze (Aleutian mink disease virus), die zu Nierenversagen und zum Tod der Tiere führt, Panleukopenie und Ataxie bei Katzen (feline panleukopenia virus; Felines Panleukopenie-Virus), Dünndarmentzündung bei Hunden (canine parvovirus) und das SMEDI-Syndrom (stillbirth, mummification, embryonic death, infertility) bei Schweinen (porcine parvovirus). – Die Viruspartikel (Durchmesser 18–26 nm, Ikosaedersymmetrie, keine lipidhaltige Hülle; vgl. Abb. ) enthalten eine lineare, einzelsträngige DNA mit einer Länge von 4000–6000 Nucleotiden. Von etlichen Parvoviren sind die vollständigen Nucleotidsequenzen bekannt (z.B. AAV-2:4679 Nucleotide, H-1: 5176 Nucleotide). Die 5'- und 3'-Enden der Genome werden von 100–300 Nucleotiden langen Palindrom-Sequenzen (Palindrom) gebildet, die sich zu doppelsträngigen Haarnadelschleifen zurückfalten können (inverted terminal repeats; inverted repeats). Die DNA-Replikation beginnt an der 3'-terminalen Haarnadelschleife und verläuft in mehreren Teilschritten nach einem als "rolling hairpin" ("rollende Haarnadelschleife") bezeichneten Mechanismus, bei dem durch DNA-Spaltung an den Palindrom-Sequenzen immer wieder 3'-OH-Enden geschaffen werden, die als primer zur Fortsetzung der DNA-Replikation dienen. Die bei der Replikation entstehende doppelsträngige DNA-Zwischenstufe dient als Matrize für die Transkription. Das Parvovirus-Genom enthält 2 ORFs (offenes Leseraster); der eine codiert für das virale Replikationsprotein (rep oder NS1) und andere Nichtstruktur-Proteine, der andere für die 2–3 Capsidproteine. Die Transkription erfolgt von 1, 2 oder 3 Promotoren aus. Durch differentielles Spleißen entstehen mRNAs, die in die verschiedenen Virusproteine translatiert werden. Die neusynthetisierten einzelsträngigen DNA-Moleküle werden in vorgeformte Capside verpackt. Bei einigen Virusarten der Gattung Parvovirus besitzt die in die Viruspartikel verpackte DNA hauptsächlich Negativstrang-Polarität, d.h., sie ist komplementär zur mRNA, während bei anderen Gattungsmitgliedern der Anteil der Partikel mit Plusstrang-DNA zwischen 1% und 50% variieren kann. Bei Erythroviren und Dependoviren ist DNA mit Plusstrang- oder Minusstrang-Polarität in ungefähr gleicher Häufigkeit in den Virionen enthalten. Viren, Virusinfektion, Viruskrankheiten; Viren.
E.S.
Parvoviren
Viruspartikel von Parvoviren (elektronenmikroskopische Aufnahmen); im oberen Bild links ein leeres Capsid
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