Lexikon der Biologie: Strukturvorhersage
Strukturvorhersage, Versuch, anhand einer ermittelten Sequenz Rückschlüsse auf die räumliche Struktur von Nucleinsäuren und Polypeptidketten zu ziehen. Dabei findet vor allem die Vorhersage der Sekundärstruktur und Tertiärstruktur von Proteinen vermehrt Interesse. Grundlage ist die Tatsache, daß die Aminosäuresequenz, also die Primärstruktur, letztlich die gesamte Information für die räumlich korrekte Faltung der Polypeptidkette (Polypeptidketten bindende Proteine) und damit für die Sekundär- und Tertiärstruktur des funktionsfähigen Proteins beinhaltet. Andere Faktoren, wie Lösungsmittel, Temperatur oder sonstige physiologische Gegebenheiten, vermögen die Geschwindigkeit bzw. Effizienz dieses Vorgangs zu beeinflussen, haben jedoch keinen Einfluß auf das Ergebnis einer abgeschlossenen Faltung. Schwierig gestaltet sich die Bewertung von Kriterien, die eine Vorhersage der Proteinstruktur erlauben. Für Sekundärstrukturelemente wie Alpha-Helix, Beta-Faltblatt, Beta-Schleifen (β-Schleife) oder random coils wird meist versucht, die Wahrscheinlichkeit zu errechnen, mit der bestimmte Aminosäuren in diesen Elementen vorkommenen. Bei der Vorhersage spielen zum einen Charakteristika der Aminosäuren wie Hydrophobizität, elektrische Ladung oder sterische Eigenschaften eine Rolle, zum anderen die Häufigkeit, mit der bestimmte Aminosäuren in den Sekundärstrukturelementen bereits bekannter Proteine gefunden werden. Außerdem müssen kooperative Effekte (Kooperativität) durch benachbarte oder weiter entfernt liegende Aminosäuren berücksichtigt werden. Hilfreich kann auch das Auffinden von Sequenzmotiven sein, also Mustern konservierter Aminosäuren, deren räumlich korrektes Zusammenwirken im nativen Protein (native Konformation) für bestimmte Funktionen essentiell ist. Die entwickelten Algorithmen bieten allerdings nicht mehr als 60–70% Wahrscheinlichkeit einer korrekten Vorhersage von Sekundärstrukturen. Nach wie vor nur in Ansätzen durchführbar ist die Vorhersage der Tertiärstruktur von Proteinen. Bislang sind alle Versuche einer ab-initio-Strukturvorhersage gescheitert, bei der durch Computersimulationen der Vorgang der Proteinfaltung (Proteine) nachvollzogen werden soll. Dabei werden in kürzesten Zeitschritten anhand der Ortskoordinaten aller Atome einer Polypeptidkette die Kräfte berechnet, die auf jedes einzelne Atom einwirken und aus der resultierenden Beschleunigung und Impulsänderung die neuen Ortskoordinaten ermittelt. Die Berücksichtigung der unterschiedlichen Wechselwirkungen zwischen den Atomen eines Proteins durchschnittlicher Größe sowie den Atomen des Lösungsmittels erfodert Rechnerleistungen, die die Computertechnik noch auf absehbare Zeit überfordern (Bioinformatik). Das Problem verliert jedoch in dem Maße an Bedeutung, in dem Proteinstrukturen mittels Röntgenstrukturanalyse oder Kernresonanzspektroskopie aufgeklärt werden. Es kann davon ausgegangen werden, daß Proteine mit hoher Sequenzhomologie sehr ähnliche Tertiärstrukturen aufweisen. Für Proteine mit 90% identischen Aminosäuren entsprechen die auf Homologie basierenden Modelle sehr genau den experimentell bestimmten Strukturen. Aber auch Proteine ohne erkennbare Sequenzhomologien können übereinstimmende räumliche Strukturen aufweisen, was bei einem als Threading (engl. = auffädeln) bezeichneten Verfahren genutzt wird. Hierbei werden Sequenzmotive eines unbekannten Proteins auf die Sequenz eines Proteins mit bekannter Struktur aufgefädelt. Für jede Position werden die durch die bekannte Struktur vorgegebenen Wechselwirkungen der einzelnen Aminosäuren bewertet und versucht, die energetisch günstigste Struktur für das unbekannte Sequenzmotiv zu finden. Biochemie (Geschichte der), Biophysik, molecular modeling, protein engineering, Proteomik, Sequenz-alignment.
M.B.
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